Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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« Gedenkprojekt Home « Gedenkgottesdienste Home « Gedenkfeier zum Jahrestag der Novemberpogrome 1938 - am 09. November 2012

'Reichspogromnacht 1938', 1988, Deutsche Bundenpost

Gedenkfeier
zum Jahrestag der Novemberpogrome 1938

09. November 2012 in der Dreikönigskirche

Im Jahr 2011 hat die Dreikönigsgemeinde begonnen, sich an der Verlegung von Stolpersteinen zu beteiligen. „Stolpersteine“ - pflastersteingroße Messingplatten - werden ins Straßenpflaster eingelassen. Mit eingraviertem Namen und Lebensdaten erinnern sie an die zwischen 1933 und 1945 Ermordeten an deren letztem selbstgewähltem Wohnort. Es sind bisher 13 Stolpersteine für damalige Mitglieder der Dreikönigsgemeinde in verschiedenen Frankfurter Stadtteilen verlegt worden.

Zum Jahrestag der Novemberpogrome fand in der Dreikönigskirche eine Andacht zum Gedenken statt. Danach gingen wir zu den Stolpersteinen, die in der Nähe der Dreikönigskirche verlegt wurden. Bei jedem Stolperstein wurde an das Leben der Männer, Frauen und Kinder erinnert, deren Verfolgung und Entrechtung in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ihrer Brutalität sichtbar wurde.

Ansprache von Pfarrer Martin Vorländer:

Der 9. November 1938 war ein Mittwoch. In München sind Adolf Hitler, sein Propagandaminister Joseph Goebbels und Nazi-Kämpfer der ersten Stunde versammelt, um an den Hitler-Putsch von 1923 zu erinnern und diesen heldenhaft zu feiern. Im Saal des Alten Rathauses am Münchner Marienplatz kommt man zu einem so genannten „Kameradschaftsabend“ zusammen. Gegen 22 Uhr trifft die Nachricht ein, dass der deutsche Diplomat (vom Rath) gestorben ist, auf den sechs Tage zuvor ein polnischer Jude (Herschel Grynszpan) in Paris ein Attentat verübt hat. Dies nimmt Goebbels zum Anlass, um in einer Hetzrede indirekt zum Pogrom gegen Juden aufzurufen.

'Altes Rathaus München', Gedenktafel mit Hinweis auf die Planung der Reichspogramnacht vor dem Eingang des ehemaligen Tanzsaal des alten Münchner Rathauses., 2113, Mummelgrummel

Die Parteimaschinerie der Nazis funktioniert sofort und mit mörderischer Präzision. Der Polizeipräsident von Frankfurt (Adolf Beckerle) ruft noch aus München in Frankfurt an und bestellt seine SA-Gruppe ein. Ab 3.00 Uhr am Morgen des 10. November wird der Pogrom vorbereitet: Lastwägen werden mit Benzinkanistern beladen und zu den Frankfurter Synagogen gefahren.

Ab 5.00 Uhr früh werden die Synagogen aufgebrochen und in Brand gesteckt. Die Synagoge im Westend und die Synagoge am Börneplatz brennen. Die Feuerwehr steht dabei, aber schützt nur den „arischen Besitz“. Die Polizei ist da, aber sorgt nur für Ruhe und Ordnung, sprich dafür, dass die Verbrechen in mörderischer Ruhe und mit deutscher Ordnung begangen werden können.

Ab 6.00 Uhr früh werden Geschäfte und Wohnungen von Frankfurter Juden von SA, SS, Gestapo, Polizei, sogar von der Hitlerjugend überfallen. Männer und Frauen, Alte und Jugendliche werden verhaftet. Die verhafteten Männer werden in der Frankfurter Festhalle zusammengetrieben. Sie müssen Wertsachen, Uhren, Ringe, Geld, Pässe abgeben. Am Abend werden sie von der Festhalle zum Südbahnhof transportiert. Von dort fahren die Züge zu den Konzentrationslagern. In den Tagen der Novemberpogrome werden über 3.000 Juden aus Frankfurt nach Dachau und Buchenwald deportiert.

Schon zuvor waren Juden in Deutschland entrechtet und diskriminiert worden. Seit den November-pogromen wurden sie systematisch verfolgt, bis hin zum Holocaust, zur Shoa, dem erklärten Ziel, alle Juden in Europa zu töten. 1933 lebten in Frankfurt fast 30.000 jüdische Bürger. 1944 hatten in Frankfurt 242 Juden überlebt. Die anderen waren im besseren Fall rechtzeitig geflohen. Die meisten waren deportiert und wurden ermordet.

Was tun die anderen Bürger, als ihr Staat für alle offensichtlich zum Verbrecher und Mörder wird? Tausende gaffen, wie die Synagogen brennen. Einer sagt, als die Straßenbahn an den zerstörten Geschäften vorbeifährt: „Da hat’s gescheppert.“ Ein Hitlerjunge schreibt in seinem Bericht: „Einem (Juden) haben wir den Bart und die Pajes (Schläfenlocken) abgeschnitten. Der sah hinterher wie eine Runkelrübe aus. Der war vielleicht komisch. Und geglotzt hat er wie ein Frosch.“ Viele schweigen und sprechen hinter vorgehaltener Hand von der „Reichskristallnacht“, als wäre nur Glas zu Bruch gegangen und nicht Menschen ermordet worden. Es gibt auch solche: Der Hauswart der Westendsynagoge, ein frommer Katholik, war von der SS halbtot geschlagen worden, weil er den Schlüssel zur Synagoge nicht hergeben wollte.

Was tun die Kirchen und die Kirchengemeinden? In München, von wo der Pogrom seinen Ausgang genommen hat, tagt wenige Tage später die damalige Kirchenleitung. Man überlegt, ob die evangelische Kirche gegen die Gewalt protestieren soll, und entscheidet sich, lieber nichts zu sagen. In Nürnberg verliest die Pfarrerschaft in der Lorenzkirche im Gottesdienst die Zehn Gebote. Nur die Zehn Gebote. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

Eine Frau hier aus Sachsenhausen, die damals ein junges Mädchen war mit engen jüdischen Freunden, sagt heute: „Wir hätten schreien müssen. Wir hätten zum Himmel schreien müssen, selbst wenn das nichts gebracht hätte.“

'München - Reichspogromnacht / 'Reichskristallnacht' - Zerstörungen im Kaufhaus Heinrich Uhlfehlder GmbH', November 1938, Bundesarchiv

Wenn wir heute der Opfer der Novemberpogrome gedenken, dann tun wir das, damit ihre Namen, ihr Leben, ihr Leid nicht vergessen werden. Ein Satz vom Februar dieses Jahres geht mir nach: „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein.“ Das sagte Semiya Şimşek. Als sie vierzehn Jahre alt war, starb ihr Vater Enver, mit 38 Jahren erschossen am eigenen Blumenstand. Heute ist klar, dass Neonazis ihn ermordet haben. Elf Jahre lang zogen drei Neonazis mordend durch unser Land. Polizei und Verfassungsschutz tappten im Dunkeln, vermutete sogar, die Mordopfer selbst könnten in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sein.

„Wir durften nicht einmal Opfer sein.“ Semiya Şimşek erinnert daran, was geschehen muss, wenn eine Gesellschaft menschlich bleiben will: Opfer müssen anerkannt werden. Die Täter dürfen nicht triumphieren. Nicht damals. Nicht heute.

Ansprache von Gemeindepädagogin Natascha Schröder-Cordes:

In dieser heutigen Andacht zum Jahrestag der Pogromnacht von 1938 und dem anschließendem Gang zu Stolpersteinen in der Nähe der Dreikönigsgemeinde, möchten wir erinnern. Erinnern an das Schicksal der Kinder, Frauen und Männer, die in dieser Nacht zu Opfern wurden. Dass wir damals Gemeindemitglieder hatten, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt und schließlich ermordet wurden, war in der Dreikönigsgemeinde ebenso wie in der evangelischen Kirche generell nicht aufgearbeitet worden.

Tröstlich zu wissen ist, dass die Dreikönigsgemeinde mit ihren Pfarrern Martin Schmidt und Fritz Creter damals ein Ort für viele verfolgte Menschen war, an dem sie angenommen und unterstützt wurden. Ihr Schicksal aber war lange Jahre auch hier vergessen. Im Jahr 2010 begann eine Gruppe der Dreikönigsgemeinde unterstützt von Hartmut Schmidt, dem Verantwortlichen des Stolpersteinprojekts in Frankfurt, nach Gemeindemitgliedern jüdischer Herkunft und deren Schicksal zwischen 1933 und 1945 zu forschen. Wir fanden 24 Menschen, die in Verbindung zur Dreikönigskirche standen und Opfer der Nationalsozialisten wurden. Wir haben von Einzelnen und Familien erfahren, die unermessliches Leid ertragen mussten. Für 13 von Ihnen haben wir bereits Stolpersteine verlegen lassen. Menschen, die in Frankfurt gelebt haben und deren Leben von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurde. Einer von ihnen, Günther Perlhefter, dessen Stolperstein wir nachher besuchen. Er wurde mit elf Jahren ermordet. Ein anderer, Albert Katzenellenbogen, der mit neunundsiebzig Jahren, fast blind, deportiert und ermordet wurde und Hilde Lipstein, die wegen ihres kranken Bruders Frankfurt nicht verlassen wollte und mit 56 Jahren deportiert und ermordet wurde. Sie und die anderen Opfer wurden nicht nur von den Nationalsozialisten, sondern auch von Nachbarn, Lehrern, Kollegen und vielen anderen Menschen um sie herum im Stich gelassen und unmenschlich behandelt.

Die Begegnung mit dem Leidensweg dieser Menschen hat uns immer wieder fassungslos gemacht und gleichzeitig verpflichtet unser Projekt fortzusetzen. Wir möchten ihre Schicksale sichtbar machen und ihnen wieder einen Platz in unserer Gemeinde geben. Ihre Namen und ihr Leiden sollen nicht vergessen werden.

'The Memorial to the murdered Jews of Europe (Berlin)', 2008, dalbera

Fürbitten:

Herr, unser Gott,
gib uns die Kraft zur Erinnerung, damit wir uns nicht täuschen über unsere Verführbarkeit, unsere Fähigkeit zu unmenschlichen Taten und unseren Mangel an Mut.

Wir bitten: Herr, erbarme dich.

Gib uns die Kraft der Erinnerung, damit wir nicht nachlassen in dem Bemühen, dem Frieden in Gegenwart und Zukunft Gesicht und Gestalt zu geben.

Wir bitten: Herr, erbarme dich.

Herr, unser Gott,
lass Gerechtigkeit unter uns wohnen, damit die Würde eines jeden Menschen geehrt wird und alle Völker frei, mit Achtung voreinander leben.

Wir bitten: Herr, erbarme dich.

Herr, gib uns Frieden
für unsere Familien und Freundschaften,
in unserer Stadt und in unserem Land,
Frieden in der ganzen Welt.

Wir bitten: Herr, erbarme dich.

Die Photographie 'Altes Rathaus München', Gedenktafel mit Hinweis auf die Planung der Reichspogramnacht vor dem Eingang des ehemaligen Tanzsaal des alten Münchner Rathauses., 2113, Mummelgrummel, ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert.
Die Photographie 'München - Reichspogromnacht / 'Reichskristallnacht' - Zerstörungen im Kaufhaus Heinrich Uhlfehlder GmbH', November 1938, Bundesarchiv, ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland lizenziert.
Die Photographie 'The Memorial to the murdered Jews of Europe (Berlin)', 2008, dalbera, ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung 2.0 US-amerikanisch (nicht portiert) lizenziert.
Das Bild 'Reichspogromnacht 1938', 1988, Deutsche Bundenpost, was previously considered to be in the public domain as a German stamp; it is possible that it is in the public domain for other reasons, in which case a new rationale will be applied as part of the review process.