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Geistliches Wort zum Monatsspruch für September 2012

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'Icon of Jeremiah', 17th c., Anonymous

„Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“

Jeremia 23,23

Dass Gott fern ist, diesen Eindruck hatten viele von uns vermutlich immer wieder einmal im Laufe des Lebens. Als wir uns die Nähe Gottes wünschten in Trauer oder Verzweiflung, in Krankheit oder Einsamkeit, da haben wir Gott vielleicht als sehr fern empfunden, sogar an ihm gezweifelt. Manchmal fiel im Nachhinein Licht in diese Erfahrung der Dunkelheit und Gottesferne; aber nicht immer können wir uns erklären, warum wir vergeblich zu Gott rufen und keine Antwort finden. Martin Luther spricht angesichts solcher Erfahrung vom verborgenen Gott.

Seltsam, in diesem Wort des Propheten Jeremia klingt es nun so, als ob Gott geradezu fern sein möchte, jedenfalls nicht immer nur nah.

Jeremia gibt hier ja ein Wort wieder, das Gott selbst spricht, genauer gesagt eine Frage Gottes, im Grunde eine rhetorische Frage, auf die die Antwort lauten müsste: „Ja, ich bin auch ein Gott, der ferne ist.“

Kann das sein, dass Gott uns gar nicht immer nahe sein will? Aus dem Zusammenhang im Jeremiabuch wird jedenfalls deutlich, dass dieses Wort sich nicht an Menschen richtet, die unter der Erfahrung leiden, dass Gott ihnen fern und verborgen vorkommt, sondern im Gegenteil an Menschen, die sich Gott sehr nahe fühlen, verdächtig nahe, muss man wohl sagen.

Als Jeremia dieses kritische Wort Gottes weitergesagt hat, da war er umgeben von anderen Propheten, die den Menschen immer genau das verkündeten, was sie gern hören wollten, nämlich: „Es wird euch wohlgehen, es wird kein Unheil über euch kommen.“

Natürlich ist es für die, die Gottes Wort predigen, angenehmer, sich auf das Positive und Bestätigende zu beschränken, auf das, was gern gehört und bereitwillig angenommen wird.

In meinen Aufgaben als Pfarrerin erlebe ich das oft ähnlich, etwa bei Taufen, Trauungen oder bei Geburtstagsbesuchen: Der Zuspruch des Segens wird gern angenommen, aber ich spüre unterschwellig bisweilen heraus: ‚Gottes Segen, den kann ich gebrauchen, aber mehr will ich und brauche ich von der Kirche nicht.‘

Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?

Diese Frage Gottes aus dem Mund des Propheten Jeremia wendet sich an uns, wenn wir uns aus Gottes Wort nur die Rosinen herauspicken. Jeremias Rede von dem fernen Gott ruft mir in Erinnerung, dass Gott mehr ist als nur ein Erfüllungsgehilfe meiner eigenen Wünsche, auch, dass Gott größer ist als das, was ich von ihm erwarte. Wenn ich Gott nur in Beziehung setze zu dem, was mir für mich wichtig ist, dann lasse ich ihn gar nicht wirklich Gott sein.

Der Theologe Karl Barth nannte Gott den „ganz Anderen“. Wie beim Propheten Jeremia ist es sein Anliegen, Gott in seiner Größe und seiner Freiheit ernst zu nehmen und ihm das wiederzugeben, was man früher ‚Ehrfurcht‘ und heute eher ‚Respekt‘ nennt. Wenn ich Gott nur in Beziehung zu meinen Bedürfnissen sehe, dann mache ich ihn klein und zu einem Produkt meiner Erwartungen und Projektionen. Aber Gott ist so viel erhabener als meine Vorstellung von ihm. Gott ist so viel größer als meine Wünsche an ihn. Wenn Gott immer meinen Bitten entsprechen würde, wäre er dann wirklich Gott? Habe ich angesichts meiner persönlichen Anliegen noch im Blick, dass Gott auch der Gott von Menschen ist, die mir ganz fern sind, die vielleicht völlig andere Wünsche an ihn herantragen als ich?

Jeremia will uns mit seiner Frage helfen, Gott wieder zu entdecken als den, der weit über unsere begrenzte Perspektive hinausreicht, als den, der noch ganz Anderes mit uns vorhat, als was wir vor unseren Füßen sehen. Jeremia will uns mahnen, Gott die Chance zu lassen, sich als ganz anders zu erweisen, als wir ihn bisher festgelegt haben. Jeremia will unsere Vorstellung von Gott öffnen und weit machen, damit wir Gott nicht nur als den erfahren, der uns in dem, was wir wollen, stützt und bestätigt, sondern der uns durch ferne, vielleicht auch kritische Anstöße weiterführt. Der ferne Gott, von dem Jeremia spricht, kann uns über das hinausführen, was wir bisher von Gott erwartet haben, und mit dem wir nicht nur Gott, sondern auch uns selbst festgelegt hatten.

Aber Jeremia macht ja deutlich, dass Gott sich nicht festlegen lässt, dass von Gott beides gilt: nah und fern zugleich. In allem Fernen, Geheimnisvollen, Spannenden darf ich erfahren, dass gerade dieser ferne, erhabene Gott mir nahe sein will, mir begegnen will und mich in neuen Erfahrungen nicht allein lässt.

Pfarrerin Silke Alves-Christe

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