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Geistliches Wort zum Monatsspruch für Juni 2012

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'Apóstolo São Paulo', 1869, José Ferraz de Almeida Júnior

„Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“

1. Korinther 15, 10

Vortanzen für die Produktion eines Musicals am Broadway. Die Bühne ist voll von Tänzern. Alle wollen sie einen Platz in der Tanztruppe. Im Publikum sitzt im Halbdunkel der Regisseur, der die Auswahl trifft. Man sieht ihn kaum. Er verfolgt mit messerscharfen Blicken jede Bewegung auf der Bühne. Er taxiert die Tänzer und sortiert. Jeder versucht, bei den Sprüngen und Drehungen entspannt zu lächeln, obwohl sich im Inneren alles verkrampft: „O Gott, ich brauche den Job! Was muss ich zeigen, was will er sehen?“ Nach straffer Auslese bleiben von hunderten Bewerbern acht Frauen und acht Männer übrig. Der Regisseur lässt sie auf der Bühne in einer Reihe antanzen. Nun soll jeder von sich selbst erzählen. „Ich werde euch aufrütteln und sehen, wer ihr wirklich seid!“ Seelenstriptease für einen Job.

Das ist die Anfangsszene des Films „A Chorus Line“ aus dem Jahr 1985. 27 Jahre her und doch aktuell. Bei jeder Bewerbung ist man wie beim Vortanzen auf dem Prüfstand. Man feilt an Formulierungen. Was will ich von mir zeigen und wie drücke ich es aus? Wie verpacke ich meine Vita ansprechend in das komprimierte Online-Formular, damit man meine Bewerbung aus der Menge herausfischt? Das Bewerbungsfoto – nicht zu steif, nicht zu leger… Am Ende schaut man auf die Selbstpräsentation und die Eindrücke schwanken zwischen „Ja, so kann ich das abschicken“ und „Bin ich das wirklich?“ Die Daten, Zahlen, Qualifikationen des Lebenslaufs – gewogen und zu leicht befunden?

Wer entscheidet darüber, was ich bin?

Paulus war in der Situation, dass andere darüber entscheiden wollten, was er ist – und vor allem, was er nicht ist. Sie wollten ihm absprechen, dass er ein „Apostel“ ist. Apostel, so durften sich nur die nennen, die Jesus noch zu Lebzeiten gekannt hatten und Zeuge seiner Auferstehung waren. Zu denen gehörte Paulus nicht. Er war erst einige Jahre nach dem Kreuzestod Jesu zum Christus-Anhänger geworden. Trotzdem nennt er sich Apostel und verteidigt den Titel mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Demut:

„Ich bin der geringste unter den Aposteln. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“

Paulus beruft sich nicht auf seine Missionserfolge, nicht auf die Zahl der Gemeinden, die er gegründet hat, nicht auf die Unermüdlichkeit, mit der er das Evangelium in der Welt ausbreitet.

„Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“

Damit meint Paulus, dass Christus ihm erschienen ist und ihn zum Apostel berufen hat. Das ist der Schatz seines Lebens, den er immer in sich trägt, egal was die anderen über ihn sagen.

„Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“

Wir müssen uns oft der Situation stellen, dass andere uns beurteilen, uns erwählen oder abwählen. Wir erfahren, dass andere unsere Gaben annehmen oder ablehnen. So ist die Realität. Aber auch das ist die Realität: Nicht andere entscheiden darüber, was wir sind. Wir müssen uns nicht verkünstelt selbst zu etwas machen, weil wir schon etwas Besonderes sind.

Der Satz ist ein innerer Schatz: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ Das ist kein Gnadenbrot, um sich zur Ruhe zu setzen. Sondern damit kann man begnadet loslegen!

Pfarrer Martin Vorländer

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Das Gemälde 'Apóstolo São Paulo', 1869, José Ferraz de Almeida Júnior, ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 Jahren oder weniger nach dem Tod des Urhebers.