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Gedanken zur Passionszeit: Cybermobbing

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'Expo Comm Wireless Japan 2008: Sony VAIO Z.', 2008, Hirotaka Nakajima

Cybermobbing

Seit Anfang Februar wird von einer Internetseite berichtet, die Aufsehen erregt, weil sie ein Forum für Verleumdungen und Gerüchte anbietet. Die Bekanntheit dieser „Läster“-Seite breitete sich unter Schülern blitzartig aus: hier konnte man Mitschüler hemmungslos beleidigen und diffamieren. Wer diese Seite aufsucht, muss sich nicht registrieren. Es wird versprochen, dass alle Verfasser der Beiträge 100% anonym bleiben: die Absenderadressen werden weder gespeichert noch weitergegeben. Auch der Betreiber dieses Internetportals ist anonym. Diese versprochene Anonymität scheint eine Sintflut von aggressiven Beleidigungen und bösartigen Gerüchten entfesselt zu haben.

Die Beiträge sind nach Städten und Schulen sortiert. Wer also feststellen will, welche Personen an einem Frankfurter Gymnasium gemobbt werden, kann den Namen der Schule leicht finden und die entsprechende Seite aufrufen. Im Gegensatz zu den Tätern sind die Opfer nicht anonym, sondern werden häufig mit Namen genannt. Die Sprache ist vulgär und weit unter der Gürtellinie. Wie ist es zu erklären, dass junge Menschen ein so starkes Verlangen haben, andere herabzusetzen? Es gibt sicherlich mehrere Erklärungen, aber eine der Ursachen hat eine Relevanz für die Passions- und Osterzeit. Hinter Internetmobbing stecken zwei Elemente: unverarbeitete Schuld und die Sündenbockdynamik.

Wenn man Schüler anschaut, könnte man denken, sie seien unempfindlich. Denn wer akzeptiert werden will, muss vorweisen, wie „cool“ er ist. Und „cool“ sein heißt: überlegen, erhaben, unantastbar sein. Aber das ist nur Fassade. Innerlich verborgen ist der Kampf mit dem eigenen Gewissen, mit Versagensängsten und mit Schuldgefühlen.

Ich erinnere mich, wie es war, ein Teenager zu sein. In diesem Alter ist das Gewissen besonders empfindlich und leicht manipulierbar. Ein junger Mensch, der keine Beziehung zu einer Glaubensgemeinschaft hat, hat keine Möglichkeit, seine Schuldgefühle auf eine heilsame Weise zu verarbeiten. Die einzige Entlastungsmöglichkeit besteht darin, das Unverarbeitete auf andere abzuladen, am besten auf einen wehrlosen Sündenbock. Deswegen ist die Anonymität eines Internetforums so einladend: Anonymität entfesselt das Unausgesprochene, das im Dunkeln lauert, und ein Opfer kann sich gegen anonyme Angriffe nicht wehren.

'Verspottung Christi', 1503-1505, Matthias Grünewald

In den Evangelien wird angezeigt, dass Jesus die Rolle eines wehrlosen Opfers übernahm. Auch er erlebte anonyme Angriffe. Nach dem Verhör vor dem Hohenpriester ergab sich folgende Situation: „Da fingen einige an, ihn anzuspeien und sein Angesicht zu verdecken und ihn mit Fäusten zu schlagen und zu ihm zu sagen: Weissage uns! Und die Knechte schlugen ihn ins Angesicht.“ (Markus 14, 65) Hier sehen wir diese unselige Dynamik, die auf Internet- Lästerseiten zum Vorschein kommt: anonyme Angreifer, die hemmungslos alles auf ein wehrloses Opfer abladen, was in ihnen unverarbeitet ist. Die Intensität der Aggression offenbart, wie heftig das menschliche Herz durch ungesühnte Schuld belastet ist.

Hier offenbart sich ein Geheimnis: obwohl Jesus die göttliche Macht hatte, seine Angreifer zu entlarven und sie zur Rechenschaft zu ziehen, nahm er schweigend alle Aggressivität auf sich. Die unverarbeitete Schuld der Menschheit wurde auf ihn abgeladen. Als von Gott auserwählter Sündenbock trug er die Sünden der Welt. Denn nur so konnte Gott die Entfremdung überwinden, die zwischen ihm und uns bestand. Nur so können Menschen aus ihrer Anonymität herausgelockt werden, damit sie sich vor Gott stellen und bekennen, was mit ihnen nicht stimmt.

Die wehrlose Haltung Jesu hat eine entwaffnende Wirkung. Zahllose Menschen haben durch die Betrachtung des leidenden Christus ihre innere Aggressivität verloren und Versöhnung mit Gott und ihren Mitmenschen gefunden.

'Rosette im Westfenster im Kircheraum des Heiligen-Geist-Hospitals in Lübeck', 2008, Aroldius

In den Zeiten als es noch erlaubt war, Schüler körperlich zu züchtigen, hat eine Lehrerin eine Art Offenbarung erlebt. Sie hatte einen Schüler, der den Unterricht pausenlos störte. Sie hatte mehrmals versucht, ihn durch körperliche Bestrafung in den Griff zu bekommen. Eines Tages, als er schon wieder ausrastete, nahm sie ein Lineal, mit dem sie auf ihn einschlagen wollte, aber plötzlich bekam sie eine Eingebung. Anstatt ihn zu schlagen, gab sie ihm das Lineal und sagte: „Du kannst mich schlagen, so hart und so oft du willst!“ Sie hat im Grunde gesagt: du kannst mich als deinen persönlichen Sündenbock benutzen. Der Schüler tat nichts; er war wie entwaffnet. Ab diesem Moment gab es mit diesem Schüler keine Disziplinschwierigkeiten mehr.

Diese Begebenheit veranschaulicht, wie Menschen verändert werden, wenn sie Jesus auf seinem Kreuzweg betrachten. Wer diesen wehrlosen Sündenbock anschaut und sieht, wie das Versagen der Menschen von ihm getragen wird, kann eine Versöhnung erleben, die allumfassend ist. Durch den gekreuzigten Christus hat sich ein Tor aufgetan, das unermesslich größer als ein Internetportal ist. Es hat sich die Möglichkeit eröffnet, aus der Anonymität der Dunkelheit zu treten und in dem Licht Christi die eigene Schuld und das eigene Versagen zu sehen, zu bekennen und abzugeben. Wer Christus als Sündenbock Gottes erkannt hat, braucht nicht aus den Mitmenschen Sündenböcke zu machen.

Es sind nicht nur Schüler, die mit Schuldgefühlen und Versagensängsten nicht umgehen können, sondern es ist eine lebenslange Aufgabe, zu lernen, wie man mit dem eigenen Gewissen umgehen sollte. Schuld, Versagen und Ängste sollten auf den abgeladen werden, der von Gott dazu auserwählt wurde, nicht auf die Mitmenschen. In diesem Zusammenhang gilt: Alle eure Sorgen (alle Schuld, alle Ängste, alles, was im Dunkeln unverarbeitet geblieben ist) werft auf ihn, denn er sorgt für euch.

Pfarrer Phil Schmidt

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Die Photographie 'Expo Comm Wireless Japan 2008: Sony VAIO Z.', 2008, Hirotaka Nakajima, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.
Das Gemälde 'Verspottung Christi', 1503-1505, Matthias Grünewald, und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Das Glasfenster 'Rosette im Westfenster im Kircheraum des Heiligen-Geist-Hospitals in Lübeck', 2008, Aroldius, ist liuensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.