Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Geistliches Wort für Oktober 2010 - Offenbarung 3, 8

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Church Door', 2006, Wilfredo R Rodriguez H

„Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen.“

(Offenbarung 3, 8)

Der 31. Oktober fällt in diesem Jahr auf einen Sonntag, deshalb werden wir das Reformationsfest mit besonderer Musik in einem gemeinsamen Gottesdienst feiern (im Kirchsaal, Tucholskystraße, um 10 Uhr).
Die Bekanntgabe der 95 Thesen Luthers am 31. Oktober 1517 gilt als Geburtsstunde der Reformation, denn diese Thesen brachten etwas ins Rollen, was in der Öffentlichkeit nicht mehr aufzuhalten war.
Aber das, was die Reformation wirklich auslöste, geschah vorher in einem verborgenen Bereich, bekannt geworden als „Turmerlebnis“, in der Turmstube des Augustinerklosters in Wittenberg (dieser Turm existiert nicht mehr, nur die Umrisse am Boden und die zugemauerte Zugangstür sind noch zu sehen).

Luther war von einer Stelle im Römerbrief (1, 17) gefesselt, wo es heißt: Darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Er schrieb, dass er diese Stelle unbedingt verstehen wollte und darüber Tag und Nacht grübelte, wie der Begriff Gerechtigkeit an dieser Stelle zu verstehen ist. Denn für ihn war Gerechtigkeit nichts anderes als Strafandrohung.

Gerechtigkeit bedeutete für Luther – wie für die ganze westliche Kirche damals – eine unerbittliche Abrechnung Gottes. Nur eine einzige Form der Gerechtigkeit war bekannt. Sie bestand aus Vergeltung und bedeutete, dass jede einzelne Sünde abzubüßen ist, bis Genugtuung eingetreten ist – und das könnte buchstäblich eine Ewigkeit dauern. Aber dieses Verständnis von Gerechtigkeit schien nicht in den Zusammenhang des Römerbrieftextes zu passen. Als Luther mit diesem Rätsel rang, gab es plötzlich eine Art „Aha-Erlebnis“, wie Luther schrieb: „Dann erfasste ich es, dass die Gerechtigkeit Gottes die ist, durch die Gott in Gnade und bloßem Erbarmen uns rechtfertigt (= uns in die Gemeinschaft mit ihm aufnimmt). Da fühlte ich mich völlig neugeboren und durch die offenen Türen in das Paradies eintreten. Die ganze Schrift gewann ein neues Aussehen, und wenn vorher die ‚Gerechtigkeit Gottes’ mich mit Hass erfüllt hatte, so wurde sie mir jetzt unaussprechlich süß und liebenswert. Dieser Satz des Paulus wurde mir zu einer Paradiespforte.“

Es fällt uns Menschen heute schwer nachzuvollziehen, warum Luther so völlig in Ekstase geriet, als er entdeckte, dass Gerechtigkeit und Gnade identisch sind.

Denn heute nimmt kaum jemand den Begriff „Hölle“ (= endgültige Trennung von Gott) ernst. Es scheint festzustehen, dass Gott lieb ist und offenbar „keiner Fliege etwas zuleide tun“ würde. Der „liebe Gott“, die verniedlichende Gottesvorstellung, mit der Kinder heute aufwachsen, ist nicht die Gottesvorstellung, mit der Luther aufgewachsen ist. Vor dem Turmerlebnis konnte Luther die Christusfigur an der Außenwand der Stadtkirche zu Wittenberg nicht anschauen (die heute in einer Kapelle innerhalb der Kirche untergebracht ist), ohne eine entsetzliche Angst zu empfinden. Für Luther und für uns, die wir von ihm profitiert haben, ist eine Tür aufgetan worden, die nie mehr zugeschlossen werden darf – im Sinne des Monatsspruchs. Die evangelischlutherische Kirche betont bis heute die Bedingungslosigkeit der Gnade, und dass ein Mensch nur durch Gnade allein einen Zugang zu der ewigen Gemeinschaft mit Gott finden kann. Die Pforte des Himmels ist durch die Gnade geöffnet worden, und kein Mensch (auch keine Kirche) darf diese Pforte zuschließen oder den Weg versperren. Es ist deshalb unsere Aufgabe, eine „einladende Kirche“ zu sein. Jeder von uns ist dazu beauftragt, die offene Tür der Gnade im Alltag darzustellen – durch Freundlichkeit, Güte, Besonnenheit und Barmherzigkeit. Wenn Fremde einen Gottesdienst, einen Kirchenkaffee, eine Gemeindeveranstaltung besuchen, sollen sie merken, dass wir an eine „offene Tür“ glauben. Wie wir auf Fremde zugehen oder wie wir mit Arbeitskollegen und Nachbarn umgehen, wird zeigen, ob wir die Gnade verinnerlicht haben, die Martin Luther in der Turmstube zu Wittenberg entdeckte.

Pfarrer Phil Schmidt

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