Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Steine gegen das Vergessen - Dreikönigsgemeinde beteiligt sich an der Verlegung von „Stolpersteinen“

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Stolpersteinverlegung

Steine gegen das Vergessen

Dreikönigsgemeinde beteiligt sich an der Verlegung von „Stolpersteinen“

Anfang Juni beteiligte sich die Dreikönigsgemeinde an der Verlegung von Stolpersteinen für Selma und Robert Hess im Sandweg 16 sowie für Erich Treumann in der Sonnemannstra-ße 57. Außerdem wurden gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern der Schillerschule Stolpersteine für Frida Amram, Julie Amram, Goldine und Seligmann Hirschberg in der Hans-Thoma-Straße 24 verlegt.

Die Verlegungen sind eine berührende Erfahrung. Schülerinnen und Schüler der Schillerschule haben sich an diesem wichtigen Gedenken für die Opfer des Nationalsozialismus in ihrer direkten Nachbarschaft beteiligt. Das bestärkt in der Hoffnung, dass ein solches Unrecht nie wieder zugelassen wird. Zum Abschluss vie- ler Stolpersteinverlegungen wird ein Gebet gesprochen, das der heutige Rabbiner der Frankfurter Budge-Stiftung, Andy Steimann, formuliert hat.

Es drückt aus, was Gedenken und Enga- gement gegen das Vergessen bedeuten:

Durch das Gedenken sollen diejenigen wieder dazugehören, die einst von hier gewaltsam verjagt wurden. Wir wollen uns die Hände reichen und einen Kreis um diese Steine bilden – um die Seelen, die hier einmal wirkten, wieder in unsere Mitte aufzunehmen. Von nun an sollen sie wieder in unserer Mitte sein – wo sie eben waren, bevor sie von hier aus ihren Leidensweg gehen mussten. Wir trauern um sie – und um den Verlust, welchen wir uns selbst erst mit ihrem Ausschluss und dann mit dem Vergessen darüber zugefügt haben.

Stolpersteine - pflastersteingroße Messingplatten - werden ins Straßenpflaster eingelassen. Mit eingraviertem Namen und Lebensdaten erinnern sie an die zwischen 1933 und 1945 Ermordeten an deren letztem selbstgewähltem Wohnort. Bisher wurden 13 Stolpersteine verlegt für Menschen, die in Verbindung zur Dreikönigsgemeinde standen und Opfer des NS-Terrors wurden.

In diesem Jahr kommen drei weitere dazu. Darüberhinaus wird die Dreikönigsgemeinde sich zusammen mit Schülern der Schillerschule an der Verlegung von Stolpersteinen für Leiter und Betreuer des jüdischen Kinderhauses in der Hans- Thoma-Straße beteiligen, sowie an der Verlegung von Stolpersteinen für Angehörige von Isidor von Halle teilnehmen. Er stand in Verbindung zur Dreikönigsgemeinde. Für ihn wurde letztes Jahr ein Stolperstein verlegt. Nun werden Stolpersteine für seinen Vater Siegfried und seine Schwestern Friedel und Rosa verlegt werden. Sie sind eingeladen, zu den Verlegungen zu kommen und gemeinsam der damals Verfolgten zu gedenken.

Stolpersteinverlegung für  Julie und Frida Amram, Seligmann und Goldine Hirschberg

Stolpersteinverlegung für Julie und Frida Amram, Seligmann und Goldine Hirschberg
Donnerstag, 20. Juni, 9 Uhr
Hans-Thoma-Straße 24

Frida Amram wurde am 6. Oktober 1885 geboren. Ab 1911 war sie in Frankfurt für den Verein tätig, der 1911 das Kinderhaus in der Hans-Thoma-Str. 24 eröffnete. Dort arbeitete sie bis 1942, zuletzt als Oberin. Im Juli 1942 wurde Frida Amram der „Hamsterei“ beschuldigt und verhaftet. Schon im Oktober des gleichen Jahres wurde sie einem Todestransport nach Auschwitz zugeteilt. Ihr Todesdatum wird mit dem 8. Oktober 1942 angegeben.

Nach ihrer Verhaftung übernahm ihre Schwester Goldine Hirschberg die kommissarische Leitung des Kinderhauses, in das sie mit ihrem Ehemann Seligmann und ihrer Mutter gezogen war. Im September 1942 wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann, ihrer Mutter Julie Amram, 43 Kindern und weiteren Mitarbeitern des Kinderheims nach Theresienstadt und weiter ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt, wo das Ehepaar Hirschberg am 28. Oktober 1944 ermordet wurde. Julie Amram war noch im Jahr der Deportation in Theresienstadt gestorben.

Wir kommen zusammen, um Hilde und Alfred Lipsteins zu gedenken. Ich spreche als Pfarrer für die evangelische Dreikönigsgeminde in Frankfurt-Sachsenhausen, denn es gab einen Bezug der Familie Lipstein zu unserer Kirche, und seit zwei Jahren ist eine Gruppe in unserer Gemeinde damit befasst, die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus unserer Gemeinde aufzuarbeiten.

Die Informationen, die bei der Stolpersteinverlegung zugrunde lagen, waren nicht ganz korrekt. Im Juli 2012 erhielten wir von Joram und Nili Davidson eine E-Mail mit folgenden Informationen, die wir hier zur Korrektur bzw. Ergänzung der in der Ansprache gemachten Angaben wiedergeben.

„Dr. Alfred Lipstein und Hilde geb. Sulzbach hatten 2 Töchter Beate und Margot und 2 Söhne Kurt und Walter. Alle vier Kinder wurden im Jahr 1918 getauft. Kurt emigrierte nach England, lebt nicht mehr. Margot und Walter emigrierten in die USA, sie leben ebenfalls nicht mehr.

Dr. Beate Abramoff-Davidson geb. Lipstein emigrierte nach Palästina; sie kehrte zurück zum Judentum, feierte im Jahr 2012 ihrem 100. Geburtstag. Leider Ist Beate vor einem Jahr blind geworden. Wir haben ihr Ihre Andacht Ansprache vorgelesen – sie war sehr gerührt aber auch traurig aufgeregt, da die Vergangenheit sie wieder aufholte.

Eddi Sulzbach war der Bruder von Hilde Lipstein. In Frankfurt am Main lebt heute Fr. Maureen Kirchholtes, die Enkelin von Gertrud Kirchholtes geb. Sulzbach – die Schwester von Hilde, Walter und Eddi Sulzbach.“

Stolpersteinverlegung für Isidor von Halle

Stolpersteinverlegung für Friedel, Rosa und Siegfried von Halle
Freitag, 21. Juni, 12.15 Uhr
Saalgasse 9

Siegfried von Halle, geboren am 18. Dezember 1879, war kriegsversehrt. Er lebte mit seiner Familie in Usingen. Im Jahr 1941 ist die Familie vermutlich verfolgungsbedingt nach Frankfurt umgezogen. 1942 wurden sie nach Estland verschleppt. Dort sind Friedel, geboren am 19. April 1917, Rosa, geboren am 28. April 1905, und Siegfied von Halle vermutlich in den Dünen bei Raasiku ermordet worden. Ihr Todesdatum wurde auf den 8. Mai 1945 festgesetzt.

Stolpersteinverlegung für Erich Treumann
Samstag, 22. Juni, 11.45 Uhr
Sonnemannstraße 57
Musik: Nils Schwab (Flöte), Aus den Phantasien von Telemann
Ansprache von Pfarrer Martin Vorländer

Erinnerung an Erich Treumann

Erich Treumann wurde am 6. Juni 1899 in Jutroschin geboren. Er war mit der evangelischen Else Treumann, geb. Stave, verheiratet. Sie hatten eine 1917 geborene Tochter.

Seine Frau Else Treumann wohnte nach dem Krieg in der Offenbacher Landstraße 5 in Sachsenhausen und gehörte zu unserer Dreikönigsgemeinde. Dadurch sind wir auf den Lebens- und Leidensweg von Erich Treumann gestoßen. Erich Treumann wurde am 22. Januar 1943 verhaftet und nach Auschwitz verschleppt, wo er am 1. Mai 1943 ermordet wurde. Einen Monat später wäre er 44 Jahre alt geworden, drei Jahre älter als ich heute.

Es geht immer besonders nahe, wenn man bei den Opfern des Nazi-Terrors eine Verbindung zum eigenen Leben entdeckt. Ein Mann im ähnlichen Alter, im selben Monat geboren wie ich, Kinder, die so alt waren wie eigene Kinder, eine Frau im Alter der eigenen Großmutter. Es wird annähernd vorstellbar, aus welchem Leben die Menschen herausgerissen und schließlich ermordet wurden.

Stolpersteinverlegung für Erich Treumann

Bei der Verlegung oder Enthüllung von Stolpersteinen sind wir auf offener Straße mit dem Lärm von der Straße oder von Bauarbeiten. Das ist manchmal akustisch anstrengend. Aber die Betriebsamkeit um uns herum bedeutet Leben. Leben, von dem Menschen wie Erich Treumann brutal abgeschnitten wurden. Auf offener Straße, aus dem eigenen Haus herausgezerrt und in die Ermordung verschleppt.

Es ist das dritte Jahr, dass wir uns als Dreikönigsgemeinde an der Verlegung von Stolpersteinen beteiligen. Seit 2010 beschäftigt sich eine engagierte Gruppe in unserer Gemeinde mit den Schicksalen derer, die damals in Verbindung zur Dreikönigskirche standen und den braunen Horden zum Opfer fielen. Es gibt Stimmen in der öffentlichen Debatte, die von einer so genannten „Ritualisierung“ des Gedenkens sprechen. Wir in der Dreikönigsgemeinde erleben das anders. Bei jeder Stolpersteinverlegung, bei jedem Gedenkgottesdienst ist es erschütternd, vom Sterben der damals Verfolgten zu erfahren.

Das Unrecht, das Menschen wie Erich Treumann angetan wurde, schreit zum Himmel – bis heute. Es verursacht jedes Mal Trauer, Wut, Scham. Die Kirche und Christenmenschen damals haben zu wenig für Jüdinnen und Juden getan. Die damalige evangelische Kirche in Nassau und Hessen hat Christen jüdischer Herkunft ausgestoßen und der Verfolgung preisgeben, selbst mitgehetzt, bei der Diskriminierung und Entrechtung mitgemacht. Jedes Mal beunruhigt und quält die Frage: Wie hätte ich mich damals verhalten? Wie viel Mut habe ich heute, um für andere einzutreten, denen Unrecht widerfährt?

„Gedenke!“, heißt es in vielen Psalmen, dem Jahrtausende alten Gebetbuch von Jüdinnen und Juden, aus dem auch wir Christen Kraft schöpfen und Einsicht gewinnen. Das tun wir heute: Wir gedenken. Wir sind versammelt um diesen Stein, der Anstoß zum Gedenken gibt an Erich Treumann. Wir gedenken seiner, wenn wir jetzt nochmals Musik hören und danach das Gebet von Rabbi Andy Steiman sprechen.

Gebet von Rabbi Andy Steiman (Rabbiner der Budge-Stiftung)

Bei vielen Stolpersteinverlegungen wird das Gebet gesprochen, das Rabbi Andy Steiman von der Budge-Stiftung Frankfurt formuliert hat:

„Durch das Gedenken sollen diejenigen wieder dazugehören, die einst von hier gewaltsam verjagt wurden.

Wir wollen uns die Hände reichen und einen Kreis um diese Steine bilden – um die Seelen, die hier einmal wirkten, wieder in unsere Mitte aufzunehmen.

Von nun an sollen sie wieder in unserer Mitte sein – wo sie eben waren, bevor sie von hier aus ihren Leidensweg gehen mussten.

Wir trauern um sie – und um den Verlust, welchen wir uns selbst erst mit ihrem Ausschluss und dann mit dem Vergessen darüber zugefügt haben.“

Stolpersteinverlegung für Robert und Selma Hess
Samstag, 22. Juni, 12.30 Uhr
Sandweg 16
Ansprache von Gemeindepädagogin Natascha Schröder-Cordes

Ich spreche hier als Gemeindepädagogin für die evangelische Dreikönigsgemeinde. Heute werden im dritten Jahr Stolpersteine für Menschen verlegt, die in Beziehung zu unserer Gemeinde standen.

Wir erinnern an Robert und Selma Hess.

Robert und Selma Hess wurden am 30. August 1884 beziehungsweise am 24. Oktober 1898 in Frankfurt geboren. Robert Hess hatte bis zum Abitur das Goethe-Gymnasium besucht. Von 1903 bis 1925 war er Angestellter des Bankhauses „Gebrüder Sulzbach“. 1926 gründete er die Kunst- und Antiquitätenhandlung „Hess & Kuhn“ nebst Auktionshaus, das sich in der Gutzkowstraße in Sachsenhausen befand. Nach der verfolgungsbedingten Aufgabe des Geschäftes 1933 war er zunächst freiberuflich tätig und dann zwischen 1937 und 1942 kaufmännischer Angestellter beim Jüdischen Kulturbund Rhein-Main und der Jüdischen Gemeinde. Selma Hess arbeitete als Klavierlehrerin. Robert Hess war in erster Ehe mit der evangelischen Alma Hess verheiratet. Mit ihr hatte er einen gemeinsamen Sohn Bernhard, der am 12. Februar 1914 geboren war und am 10. Mai desselben Jahres in der Dreikönigsgemeinde getauft wurde.

Stolpersteinverlegung für Robert und Selma Hess

Robert und Selma Hess wurden beide im Frühjahr 1943 deportiert und in Sobibor ermordet. Ihr Schicksal gleicht dem unzähliger anderer jüdischer Opfer des Nationalsozialismus. Sie wurden zunächst vollkommen entrechtet und mussten darum kämpfen überhaupt existieren zu können. Im Jahr 1933 verlor Robert Hess seine Firma und Selma Hess vermutlich ihre Klavierschüler. Ab 1935 erschienen in immer mehr Läden und Restaurants Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“. Am 12. November 1938 bekamen Juden verboten Theater, Kinos, Konzerte und Ausstellungen zu besuchen. Ab dem 1. Januar 1939 mussten Juden die zusätzlichen Zwangsnamen »Sara« bzw. »Israel« tragen.

Ab 1940 wurden die Essensrationen für jüdische Bürger drastisch gekürzt. Ab dem 15. September 1941 wurden Juden gezwungen einen Judenstern zu tragen. All dies geschah hier in Frankfurt unter den Augen der Nachbarn, Freunde und Kollegen. Nach Jahren des Leidens und des Ausgestoßen seins aus der Gesellschaft wurden die beiden deportiert und umgebracht. Nichts sollte an sie erinnern. Sie sollten spurlos verschwinden, so als wären sie nie da gewesen. Das jüdische Totengebet fordert auf sich der Toten zu erinnern und sie Gottes Erinnerung anzuvertrauen. Für Selma und Robert Hess hat wohl niemand das Totengebet gesprochen. Doch das Gebot, dass es enthält „Erinnere Dich“ möchten wir heute aufgreifen und an diese beiden Menschen erinnern. Damit der schreckliche Plan eines mörderischen Systems nicht aufgeht. Damit sie und ihr Schicksal nicht vergessen sind.

Ich möchte alle nun bitten, einen Kreis um den Stein zu bilden und sich die Hände zu reichen. Bei vielen Verlegungen von Stolpersteinen wird das Gebet von Rabbiner Andy Steiman von der Budgestiftung Frankfurt gesprochen.

„Durch das Gedenken sollen diejenigen wieder dazugehören, die einst von hier gewaltsam verjagt wurden.

Wir wollen uns die Hände reichen und einen Kreis um diese Steine bilden – um die Seelen, die hier einmal wirkten, wieder in unsere Mitte aufzunehmen.

Von nun an sollen sie wieder in unserer Mitte sein – wo sie eben waren, bevor sie von hier aus ihren Leidensweg gehen mussten.

Wir trauern um sie – und um den Verlust, welchen wir uns selbst erst mit ihrem Ausschluss und dann mit dem Vergessen darüber zugefügt haben.“

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