Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Einführungsgottesdienst von Pfarrer Martin Vorländer am 10. Oktober um 10 Uhr in der Dreikönigskirche

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Predigt von Pfarrer Martin Vorländer zum Einführungsgottesdienst

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19. Sonntag nach Trinitatis:

Zieht den neuen Menschen an

Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 10. Oktober 2010

'Garderobe', 1991, Carsten Eggers

Das Bibelwort für die Predigt des heutigen Sonntags steht im Brief an die Gemeinde in Ephesus. Ein uns unbekannter Verfasser schreibt im Namen des Apostel Paulus:

„Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“

Epheser 4, 22-32

Gott segne unser Hören und Reden. Amen.

Liebe Gemeinde!

Legt von euch ab den alten Menschen! Zieht den neuen Menschen an!

'Adam und Eva' von Lucas Cranach, um 1513

Morgens vor dem Kleiderschrank

Jeden Morgen neu der Gang zum Kleiderschrank und die Frage: Was ziehe ich heute an? Im Kopf spule ich im Schnelldurchlauf den Tag ab, der vor mir liegt: Was steht auf dem Programm und welche Sachen passen dazu? Anzug und Krawatte oder Jeans? Brauche ich praktische Kleidung oder soll es feiner sein? Wie wird das Wetter? Ein goldener Oktobertag perfekt noch einmal für ein Sommerhemd oder muss ich mich warm anziehen? Sie, liebe Gemeinde, kennen vielleicht den Buchtitel: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Nun, wenn Sie vor Ihrem Kleiderschrank stehen, sehen Sie eine Sammlung von Möglichkeiten, wer und was Sie heute alles sein könnten. Bei dem einen ist diese Sammlung größer, bei einem anderen kleiner – schon klar. Aber Kleidung hat jeder. Denn:

Zu welchem Feigenblatt greife ich heute?

Seit Adam und Eva gehört Kleidung zur Menschheitsgeschichte. Im Paradies lebten die beiden ersten Menschen noch so, wie Gott sie schuf. Doch nachdem sie von den verbotenen Früchten am Baum der Erkenntnis gegessen hatten, sahen sie, dass sie nackt waren, und sie schämten sich. So erzählt die Bibel. Der Stoff, aus dem Adam und Eva die erste Kleidung machten, waren Feigenblätter.

Nun, ich Nachfahre von Adam und Eva vor meinem Kleiderschrank, zu welchem Feigenblatt greife ich heute? Was will ich verhüllen, was will ich von mir zeigen? Manche Veränderung lässt sich an Kleidung ablesen. Eltern merken das Wachstum ihrer Kinder an deren Kleidern. Beim Anziehen zeigt sich, dass ein kleiner Mensch gelernt hat, „ich“ zu sagen: „Nein, ich will nicht den grünen Pullover – ich will den blauen!“ – „Der ist in der Wäsche.“ – „Ich will aber!“

Anziehend neu!

Kleidung zeigt Veränderung. Von der totalen Verwandlung eines Menschen, wie alte Sachen, die man ablegt, und neue, die man anzieht, schreibt der Epheserbrief: Legt den alten Menschen ab! Zieht den neuen Menschen an! Geht das denn: Einfach in neue Kleider schlüpfen und dadurch ein neuer Mensch werden?

Zieht den neuen Menschen an! Wie anziehend! Das könnte schön sein, alles Abgetragene, grau Gewordene, Löchrige und Fadenscheinige ablegen zu können wie ein ausrangiertes Kleidungsstück! Manches Alte kann sich anfühlen wie ausgebeulte Hosen, wie ein farblos gewordenes Kleid, in dem man keine gute Figur mehr macht: Der immer gleiche Gang zur Arbeit, tagsüber ähnliche Aufgaben und Abläufe wie gestern, abends wie immer sich nach Hause schleppen und den Tag auf dem Sofa versacken lassen, in der Beziehung und in der Familie die altbekannten kleinen oder auch mal größeren Querelen. Glanzlos sieht manchmal das eigene Lebenskostüm aus.

'Chez la corsettiere', 1904, G. Chamonin

Manches Alte kann sich auch anfühlen wie ein zu eng geschnürtes Korsett, das einem die Luft zum Atmen nimmt: Erfahrungen in der Familiengeschichte, die am eigenen Leben hindern, Scheitern und Schuld, über die man nicht hinweg kommt. Die eigene Weste ist nicht mehr rein und weiß. Es scheint, als könnte jeder die Flecken sehen. Man schrubbt und schrubbt, doch der Fleck bleibt.

Umso größer ist die Sehnsucht nach Ablegen können und Freiwerden. Das Alte abstreifen, den neuen Menschen anziehen! Neu – das verspricht Frische, loswerden, was mich fesselt, aufbrechen zu neuen Möglichkeiten, über mich selbst hinauswachsen, meine Bestimmung finden. „Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein einziger Wille“, hat der Theologe Friedrich Schleiermacher geschrieben. Seine Worte werden neben anderen Texten seit letzten Montag Abend für Abend als Lichtprojektionen von der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer auf die Dächer von Kirchen und öffentlichen Gebäuden geworfen. „Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein einziger Wille.“ Das war auch auf dem Dach unserer Dreikönigskirche in leuchtenden Lettern zu lesen.

Schrecklich neu

Neu – das kann auch anstrengend sein. Neu bedeutet, dass man nicht alles so lassen kann, wie es einem lieb und vertraut ist. Man muss sich ändern. Eine Frau, die oft in ihrem Leben umgezogen ist, sagt zu mir: „Ich finde neu immer schrecklich. Schon der Umzug und die neue Wohnung – jeden Strumpf muss man in Kisten und Kartons suchen. Und dann sich in der neuen Stadt zurecht finden und neue Leute kennen lernen – ich finde neu immer schrecklich.“ Allein in den letzten beiden Monaten sind gut 100 Menschen in unsere Dreikönigsgemeinde neu zugezogen. Die befinden sich mittendrin im Anziehenden und Anstrengendem von allem Neuen.

Bessere Menschen auf Befehl?

Den neuen Menschen anziehen. Wie kann das gehen? Wie kann Paulus das einfach so befehlen: Zieht euch um! Auf Befehl und per Verordnung wurde schon oft versucht, einen neuen, besseren Menschen zu schaffen: ohne Fehler und Makel, ohne Krankheit und Schwäche, verordnet, auf Befehl, nach Marktkriterien und gesellschaftlichen Vorgaben – das hat noch nie funktioniert. Der Mensch wird nicht auf Befehl neu und besser, auch nicht durch ein noch so gut gemeintes und gut gemachtes Gesetz.

Das hat auch in der Bibel nicht geklappt. Sie werden verstehen: In einem Gottesdienst am 10.10.2010 um 10 muss ich die zehn Gebote erwähnen: „Du sollst Vater und Mutter ehren. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren, was anderen gehört.“ Wenn nur diese fünf der zehn Gebote gehalten würden, hätten wir eine schöne neue Welt.

Danach klingen auch die Appelle des Paulus: „Legt die Lüge ab, redet nichts als die Wahrheit mit euren Nächsten! Zürnt nicht! Überhaupt: Legt ab alle Bosheit und seid freundlich und herzlich untereinander und vergebt einander!“ Ja, wenn wir alle Engel wären…! Aber soweit ich sehe, sind wir das noch nicht. Vielleicht manchmal anflugsweise, einen Flügelschlag lang, so dass einer zum anderen sagen kann: „Du bist ein Engel!“ Aber von Dauer ist unser engelhaftes Betragen nicht. Kein Gesetz, kein noch so gut gemeinter Appell bewegt den Menschen so, dass er sich von Grund auf, aus tiefstem Herzen ändert.

Was heißt hier neu?

Wozu dann dieser Aufruf? „Zieht den neuen Menschen an!“ Wozu so hohe Ideale, wenn sie unerreichbar sind? Und was heißt schon neu? Nichts ist so alt wie die Mode der letzten Saison und was gerade als absolute Neuheit präsentiert wird, ist doch nur eine Wiederauflage dessen, was schon mal da war.

Kreation Gottes

Was also ist das Neue an diesem neuen Menschen, den wir anziehen sollen? Es muss etwas ganz Besonderes sein, etwas Einmaliges, das im Unterschied zu den Neuigkeiten der Welt nicht veraltet. „Zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist!“ Der neue Mensch – das ist die Kreation von Gott selbst. Die hat Gott nicht am weltfernen Designertisch entworfen, fern ab von jeder Wirklichkeit für Menschen, die es gar nicht gibt. Gott selbst hat einen unerhörten Kleiderwechsel vorgenommen: Er hat unser Erdenkleid angezogen und ist mit uns Menschen auf Tuchfühlung gegangen.

Von der Windel bis zum Leichentuch

Der große Gott wird ein kleines Kind und trägt Windeln, die er vermutlich auch benutzt hat. Ganz und gar Mensch eben. Gott, der Ewige zieht sogar das Hemd an, das jeden von uns endgültig alt aussehen lässt: das Totenhemd. Das letzte Gewand des Gottessohnes Jesus Christus ist das Leinentuch, in das man seinen Leichnam hüllt und ins Grab legt. Gott in unseren Sachen von der Windel bis zum Leichentuch – ein krasser Kleidertausch!

Wenn Gott in unsere Kleider schlüpft, dann ist der neue Mensch keine Zumutung, kein Hineinpressen in fremde Sachen. Es ist Kleidung für jede und jeden Einzelnen nach Maß. Eine Kleidung, die uns so zum Vorschein bringt, wie Gott uns meint.

Pret-à-porter

'The Morning of the Resurrection', 1882, Sir Edward Burne-Jones

Eine Kleidung, für uns gemacht, damit wir sehen: Wir können neu werden. Wir können ablegen, was alt ist. Selbst die Leichentücher sind nicht unser letztes Hemd. Am Ostermorgen liegen sie abgestreift im leeren Grab. Die neuen Kleider des Ostermorgens sind die weißen, glänzenden Gewänder der Engel, die die Auferstehung verkünden. „Zieht den neuen Menschen an!“, kann deshalb Paulus sagen. Er ist da, seine Kleider liegen pret-à-porter für euch bereit. Schlüpft hinein! Erneuerung, Veränderung, Auferstehung mitten im Leben zum ewigen Leben ist Gottes Geschenk. Ihr müsst euch nicht verkrampfen und verbiegen, abhungern oder emporstrecken, um hineinzupassen. Zieht den neuen Menschen an - er ist für euch gemacht, für jeden einzelnen höchst individuell maßgeschneidert, leuchtend, glänzend wie Licht.

Die Kleider des neuen Menschen - daran erinnern die weißen Kleider, die man Täuflingen anzieht. Dafür steht auch das Wasser der Taufe: Eintauchen ins Taufwasser – den alten Menschen ablegen und als neuer Mensch, nämlich als Sohn und Tochter Gottes auftauchen. Die Dreikönigskirche hat nahe am Wasser gebaut. Das klingt nach Rührseligkeit. Ist es hoffentlich im besten Sinne des Wortes auch: am Wasser gebaut heißt, dass wir als Gemeinde direkt dran sind am Fluss des Lebens, dass wir uns anrühren lassen davon, wo Menschen Altes ablegen müssen und sich auf Neues einlassen – und dabei die Seligkeit nicht aus den Augen verlieren, die Gott uns verheißt. Wenn man auf den Main blickt, scheint er immer derselbe zu sein, egal ob Karl der Große mit seinen Franken durch den Main hindurch vor den Sachsen flieht oder sich an den Ufern des Mains die Wolkenkratzer türmen. Doch der Main ist nie derselbe. Es ist ständig neues Wasser, das unter unseren Brücken hindurchfließt. Vielleicht gehört das zur Besonderheit von Städten wie Frankfurt, die am Fluss gebaut sind: Sie müssen immer das Alte fahren lassen und sich auf Neues einstellen. Und Menschen, die am Fluss wohnen, erleben tagtäglich, dass es immer zwei Ufer gibt, hipp de Bach und dripp de Bach. Das verpflichtet von Natur aus, immer wieder Seitenwechsel zu vollziehen und neue Perspektiven zu entdecken.

Wahrheit wie ein schützender Mantel

Ich stehe vor meinem Kleiderschrank und denke mir: Zieh den neuen Menschen an, nach Gott geschaffen in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Große Worte, fast zu groß für einen ganz normalen Tag – sogar für einen Sonntag. Aber es sind ja Kleider, die Gott mir in den Schrank legt. Und ich muss nicht alles auf einmal tragen. Es ist ein ganzer Kleiderschrank an Möglichkeiten, die Gott für mich entworfen hat. Hier ein Stück aus Gottes Kollektion: Legt die Lüge ab! Nicht abstrakt, sondern sehr konkret ein jeder mit seinem Nächsten. Also in den Beziehungen, in denen wir leben, zwischen Liebenden, zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, zwischen Chef, Chefin und Mitarbeitenden. Und dabei dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Waschlappen ins Gesicht klatschen, sondern ihn sanft mit der Wahrheit wie mit einem Mantel umhüllen, damit der andere nicht im Regen steht. Wahrheit, die wärmt und schützt vor falschen Sicherheiten. Das wäre schon einmal ein Kleidungsstück des neuen Menschen!

Zorn ohne Ende

Hier ein weiteres: „Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über euren Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel.“ Interessant, dass Paulus schreibt: „Zürnt ihr, so sündigt nicht.“ Zorn kann es also schon mal geben. Es ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, auch unter Christenmenschen nicht. Aber Paulus warnt vor einem Zorn ohne Maß und Ende, der verletzend und vernichtend wird. Man kennt das von sich selbst: Man beißt sich so richtig fest in seinem Zorn. Geradezu streitversessen bringt man das schon Durchgekaute immer wieder auf den Tisch. Paulus warnt: Gebt dem Teufel keinen Raum! Der Teufel, der Diabolos ist wörtlich übersetzt der Auseinander-Bringer und Beschuldiger. Ewiges Beschuldigen, ständige Vorwürfe können Menschen auseinanderbringen. Das fängt ganz klein, ganz alltäglich an: „Wo hast du das schon wieder hingelegt? Warum ist das noch nicht erledigt? Nie hältst du dich an das, was wir verabredet haben!“ Mit solchen Sätzen bringt man den anderen unter Rechtfertigungsdruck, lässt ihn spüren, dass er einem nicht gut genug ist. Obwohl man sich doch eigentlich liebt, entzweit man sich.

Versöhnung vor dem Schlafengehen

„Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen!“ Das ist ein praktikabler Vorschlag. Sie können das ausprobieren: Heute will ich mal versuchen, Streit zu vermeiden. Ich kenne doch sehr genau die Sätze, mit denen ich den anderen auf die Palme bringe. Also lass ich sie doch einfach mal einen Tag lang sein. So ein Tag ohne die üblichen Querelen ist wie ein Sonntag: frisch, neu, glänzend wie die Sonne.

Grazie in die Welt tragen

Wahrhaftig miteinander umgehen, dem Zorn Grenzen setzen – das sind nur zwei Kleidungsstücke des neuen Menschen. Paulus beschreibt noch viele mehr: Mit Anstand arbeiten und von dem, was man hat, Menschen in Not abgeben – dieses himmlische Kleidungsstück können Sie gleich am Ende des Gottesdienstes bei der Kollekte anprobieren. Gottes Kollektion ist unendlich: Es gibt viel zu tragen – ziehen wir es an! Lassen wir die Kleider unseres neuen Menschseins leuchten! Tragen wir Glanz und Grazie in die Welt – jeden Morgen neu!

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsre Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Das Bild 'Garderobe', 1991, Carsten Eggers, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic license.
'Adam und Eva' von Lucas Cranach, um 1513, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Abbildung 'Chez la corsettiere', 1904, G. Chamonin, ist im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.
Das Gemälde 'The Morning of the Resurrection', 1882, Sir Edward Burne-Jones, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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