Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Prädikantin Ursula Schmidt: Markus 2, 1 – 12 Jesus blickt hinter die Fassaden

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'Mitgliedsausweis der Bekennenden Kirche, Berlin-Dahlem 1934, Berkan, 2007

19. Sonntag nach Trinitatis

Jesus blickt hinter die Fassaden Markus 2, 1 – 12


Predigt gehalten von Prädikantin Ursula Schmidt am 19.10.2009

GNÄDIGER GOTT. SEGNE MEIN REDEN UND UNSER HÖREN AUF DEIN WORT
Amen!

Können Sie sich vorstellen, dass es Zeiten gab, wo unsere Dreikönigskirche brechend voll war, und zwar weder bei einem festlichen Anlass noch bei einem Konzert, sondern bei einem normalen Gottesdienst?! Können Sie sich vorstellen, dass Menschen von weit her kamen, freiwillig, dass sie sich hier zusammendrängten, um Gottes Wort zu hören?! Und das nicht in einer Zeit, die man oft so beschönigend die „gute alte Zeit“ nennt, sondern im 3. Reich.

In der Öffentlichkeit hieß es z.B. damals, Martin Niemöller, ein entschiedener Kämpfer gegen das Nazi-Regime, würde in der Katharinenkirche predigen, auch die Geheimpolizei, die Gestapo, wusste davon und postierte sich dort; nur die Anhänger der Bekennenden Kirche, die Gegner der Nazis, waren eingeweiht, dass Pfarrer Niemöller nicht in der Katharinen-, sondern hier in der Dreikönigskirche predigen würde.
Und deshalb war damals unsere Dreikönigskirche brechend voll.

Heute haben wir in Deutschland politisch ruhigere Zeiten, die Kirche ist nicht mehr in Kämpfe verwickelt, aus oft falsch verstandener Toleranz akzeptieren wir häufig alle möglichen religiösen Anschauungen, unser persönlicher Glaube ist nicht mehr lebensgefährlich.
Stattdessen oder vielleicht infolgedessen werden unsere Kirchen zu Gottesdienstzeiten immer leerer, und es scheint weniger charismatische oder begeisternde Prediger zu geben.
Selbst langfristig vorbereitete neue Konzepte, Gottesdienstprojekte für spezielle Gruppen, Alternativgottesdienste, modern oder modisch gestaltet, haben oft nicht den erhofften und erwünschten Zulauf.
Wir können es auch nicht Jugendlichen oder Konfirmanden verübeln, dass sie so selten zum Gottesdienst erscheinen, wenn schon deren Eltern und Verwandten wenig oder gar kein Interesse am Gottesdienstbesuch zeigen.
Es ist leider eine Tatsache, dass die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt, dass unsere Kirchen leerer werden, und das fällt besonders drastisch in großen Kirchen auf wie in unserer Dreikönigskirche.

Zurückgehende Zuhörerzahlen, mangelndes Interesse am Wort Gottes, gleichgültige Laissez faire- Haltung nach dem Motto, soll doch jeder glauben, was er will, all dies kannte der Prediger Jesus von Nazareth nicht, im Gegenteil:
wann immer Jesus die Heilige Schrift auslegte, wo immer er Gottes Wort verkündigte, immer gab es Menschenmengen, die ihm begeistert zuhörten, immer gab es einerseits Menschen, die ihm nachfolgten und Wunder von ihm erwarteten und andererseits Menschen, die ihm heftig widersprachen und ihn als Gotteslästerer attackierten.

So auch während der Begebenheit, die uns als Predigttext für den heutigen 19. Sonntag nach Trinitatis vorgeschlagen ist, die uns der Evangelist Markus berichtet.

Wir hören aus dem 2. Kapitel des Markus- Evangeliums die Verse 1 – 12:

'Christus heilet einen Gichtbrüchigen', Bernhard Rode, 1780

Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Den meisten von Ihnen ist dieser Text von Kindheit an bekannt unter dem Titel „Die Heilung des Gichtbrüchigen“ oder wie es heute heißt „Die Heilung des Gelähmten“..
Und wie so oft bei altbekannten Geschichten meinen wir, deren Bedeutung in- und auswendig zu kennen.
Gerade deshalb ist es wichtig, diesen Text wieder einmal ganz genau unter die Lupe zu nehmen.

Was geschieht hier?
Der Evangelist Markus berichtet, wie Jesus nach seiner Taufe und nach der Berufung seiner Jünger, also schon gleich zu Anfang seines Wirkens, heute würde man salopp sagen, zu Beginn seiner Karriere, mit großer Vollmacht predigt und immer wieder Menschen heilt.
Das hat sich überall im Landkreis Galiläa herumgesprochen, so dass von weit her Menschen kommen, um diesen Jesus zu hören und seine Wunder zu sehen. Die Menschen lassen Jesus keine Ruhe, auch dann nicht, wenn er sich zurückziehen will, um in der Stille beten zu können. Selbst dann eilt Petrus Jesus hinterher mit dem vorwurfsvollen Ruf „Jedermann sucht dich!“

Jesus scheint kein Privatleben mehr zu haben, er ist ein öffentlicher Mensch geworden, modern ausgedrückt: Jesus ist ein Star, bestaunt, bewundert und verehrt, aber auch verfolgt von Paparazzi, und alle wollen etwas von ihm.
Als Jesus in die Stadt Kapernaum kommt, hat es sich sofort herumgesprochen, in welchem Haus sich Jesus aufhält. Und im Nu ist das Haus nicht nur brechend voll, sondern es ist so überfüllt, dass die Leute das Haus auch von außen regelrecht belagern. Es gibt kein Durchkommen mehr; jeder will das Phänomen Jesus sehen und seine neue Lehre hören. Und als Jesus predigt - oder wie Markus es nüchtern beschreibt - als Jesus ihnen „das Wort sagt“, da passiert es: Mehrere Männer klettern plötzlich auf das Dach herauf und schlagen ein Loch in das Dach. Steinbrocken prasseln herab auf Jesus und seine Zuhörer, und ein Bett, in dem ein Gelähmter liegt, wird von 4 Männern herunter gelassen. So viel Dramatik, so viel Action hätte die versammelte Menge wahrscheinlich selbst damals nicht erwartet.
Die Menschen, die diese Aktion ausgelöst haben und unbedingt ihren schwerkranken Freund zu dem Wunderheiler Jesus bringen wollen, kennen keine Bedenken oder Hemmungen, um ihr Ziel zu erreichen. Als sie merken, dass alle Wege zu Jesus versperrt sind, sehen sie nur einen einzigen Ausweg, nämlich durch das Dach zu Jesus vorzudringen. Ohne Skrupel begehen sie dabei Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. Hauptsache, der Weg zu Jesus ist frei!

Zwei Dinge fallen dabei ins Auge

  1. Der Gelähmte hat außergewöhnlich gute Freunde. Freunde, die alles, wirklich alles daran setzen, ihm zu helfen.
  2. Die Freunde können uns ein Vorbild sein, auch ungewöhnliche Mittel und Wege zu suchen, um Jesus zu finden.

Die Art und Weise der Freunde, WIE sie den Gelähmten zu Jesus bringen, müsste eigentlich ein Appell an uns sein, nämlich nicht nachzulassen, Mitmenschen mit Jesus bekannt zu machen. Vielleicht sollten wir heute uns dabei nicht nur auf alte bewährte Methoden verlassen, sondern wir sollten Mut und Phantasie entwickeln, neue, vielleicht sogar riskante Wege einzuschlagen.
Und seien wir mal ehrlich, und ich nehme mich dabei nicht aus: Brauchen wir nicht oft sogar schon Courage, einen Nachbarn, einen Bekannten oder einen Freund zum Gottesdienst oder zu einer Veranstaltung unserer Gemeinde einzuladen?
Die Freunde des Gelähmten waren zielstrebig, hartnäckig, erfindungsreich, ja sogar skrupellos, ihr Handeln ist für uns heute ein Vorbild ohne moralischen Zeigefinger!

Als Jesus bei seiner Predigt auf so drastische Weise unterbrochen wird, gerät er nicht etwa aus dem Konzept, er vollzieht aber auch nicht sofort ein Wunder so wie es die Menschen um ihn herum wahrscheinlich erwartet haben. Nein, Jesus blickt hinter die Fassaden, und das wird auf doppelte Wiese deutlich:
Der erste Blick Jesu hinter die Kulissen richtet sich auf die Männer, die ihren kranken Freund durch das Dach zu ihm bringen.
Jesus sieht ihren Glauben. Die übrigen Zuhörer sehen wahrscheinlich diese Leute nur als unverschämte Störenfriede, Jesus aber sieht das unbedingte, unbeirrte, unerschütterliche Vertrauen der Freunde des Gelähmten in ihn als demjenigen, der heilen kann und wird. Jesus sieht, dass ihr Glaube so groß ist, dass er buchstäblich keine Grenzen kennt!
Der zweite Blick Jesu hinter die Kulissen richtet sich auf den Gelähmten.
Jesus fragt nicht: „Wie geht es dir?“ Jesus sagt auch nicht: „Du tust mir wirklich leid.“ Jesus sagt etwas Überraschendes und Erstaunliches, nämlich: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Das hätte wohl niemand erwartet, wahrscheinlich auch der Kranke nicht.
Die Anwesenden sind verblüfft, die Schriftgelehrten, die Profi-Theologen, reagieren erregt und entsetzt: Wie kann Jesus es nur wagen, so etwas zu sagen, nur Gott allein kann Sünden vergeben! Dieser Jesus ist ein Gotteslästerer!
Die Schriftgelehrten glauben, die göttliche Ordnung genau zu kennen: sie halten Krankheit und Schicksalsschläge für die Strafe Gottes, nur durch Buße kann der Mensch das Heil erlangen, nur von Gott können die Sünden vergeben werden.

Wir müssen gar nicht so tun, als wären wir heute den damaligen Theologen inzwischen haushoch überlegen.
Wenn uns plötzlich eine schwere Krankheit trifft, wenn das sogenannte Schicksal in unser Leben einschlägt, unvermutet und hart, fragen wir nicht dann oft auch: „Womit habe ich das verdient?“ „Was habe ich denn getan, dass Gott mich so straft?“
In der Regel wird Gesundheit für das Wichtigste im Leben gehalten; Gesundheit ist nicht nur ein Ideal, es wird zum Idol, zum Götzen.
Immer wieder lesen, hören oder sagen wir „Gesundheit ist das wichtigste im Leben!“
Wellness- Artikel und Anwendungen, gesundheitsfördernde Produkte, Fitnesstraining, Lehren von Gesundheitsaposteln haben Hochkonjunktur und treiben z.T. bizarre Blüten - und das alles im Namen der Gesundheit. Und irrtümlicherweise glauben wir auch noch blind daran, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnen muss.

'Taufbecken, 1845 von Georg Andreas Steinhäuser angefertigt. Fuß mit fortschleichender Schlange als Symbol der Sünde', Jürgen Howaldt, 2006

Und da kommt Jesus und redet von SÜNDENVERGEBUNG?!
Ist das nicht fern von jeder Realität? Ist das nicht vollkommen veraltet? Ist das nicht völlig daneben?
„Sünde“, wer weiß denn heute noch, was das ist? „Sünde“, die kommt heute doch nur noch in der Liturgie vor oder in Witzen. So in der Geschichte von dem kleinen Jungen, der gefragt wurde, worüber der Pfarrer gepredigt hatte, und der antwortete: „Über die Sünde.“. Als weiter gebohrt wurde, was denn der Pfarrer zum Thema „Sünde“ gesagt hatte, erwiderte der Junge: “Er war dagegen!“

Für Jesus ist offensichtlich „Sünde “ nichts Abstraktes, nichts Altmodisches, sondern eine unumstößliche Realität, sonst hätte er sie nicht als erstes angesprochen, als er den Gelähmten sieht.

Denn auch jetzt blickt Jesus wieder hinter die menschliche Fassade. Er nimmt das Wort aus dem Propheten Jeremia, das unser Wochenspruch ist, wörtlich:
„Heile du mich, Herr, so werde ich heil; hilf mir, so ist mir geholfen.“
Jesus schlägt als Sohn Gottes die Brücke zum Schöpfergott, der Heil bringt und heil macht.
Denn „Sünde“ ist, salopp gesagt, eine kaputte Beziehung zu Gott.
„Sünde“ ist Entfremdung von Gott, Misstrauen Gott gegenüber.
„Sünde“ verhindert den Glauben an Gott.
„Sünde“ verleitet mich dazu, nur an mich selbst zu glauben.
„Sünde“ regt mich dazu an, nur meine eigenen Maßstäbe gelten zu lassen.
„Sünde“ verführt mich zu glauben, mein Leben allein in der Hand zu haben.
Und daraus resultiert, dass ich immer wieder GELÄHMT werde:
gelähmt vor Schreck,
gelähmt vor Angst,
gelähmt von Komplexen,
gelähmt von Schuldgefühlen, wenn Situationen eintreten, die ich nicht geplant habe oder die ich nicht bewältigen kann.

Jesus, der hinter die Kulissen der Menschen sieht, hat seine Gründe, weshalb er den Gelähmten nicht sofort heilt. Jesus sieht uns Menschen ganzheitlich, er weiß, dass es uns nichts hilft, alles zu gewinnen, aber eine beschädigte, eine kranke Seele zu besitzen.

Deshalb fragt Jesus auch die Schriftgelehrten, die ihn gedanklich einen Gotteslästerer geschimpft haben:

„Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?“

Hätte Jesus den Kranken, wie allgemein erwartet, sofort geheilt, wäre es zwar eine Sensation gewesen, aber vielleicht wäre innerlich bei dem Gelähmten alles beim Alten geblieben.
Jesus aber hat die Vollmacht, ganzheitlich zu heilen.
Er heilt durch die Vergebung der Sünden die zerstörte Beziehung zu Gott, und er heilt durch ein Wunder die Krankheit des Gelähmten.
Erst dann kann der Geheilte, wie es Markus berichtet, aufstehen, sein Bett nehmen und hinaus gehen. Der Gelähmte kann seinen Weg gehen, innerlich und äußerlich ohne Behinderungen, er ist HEIL geworden, frei für ein neues Leben.

Und die Reaktion der Anwesenden - wie immer wieder nach der unmittelbaren Begegnung mit dem Göttlichen - ist eine Mischung von jubelnder Freude und ehrfürchtigem Erschrecken: „Wir haben so etwas noch nie gesehen.“

Jesus hat ein Wunder getan, aber anders als von ihm erwartet wurde - und das versetzt alle, die es erleben in Erstaunen.
Ich bin sicher, dass Gott auch in unserer Zeit Wunder tut.

Vielleicht sind die Wunder, die Gott heute tut, weniger spektakulär, sicher aber sind sie anders als wir sie erwarten oder als wir sie uns vorstellen. Das war zu Lebzeiten Jesu so, und das ist heute genauso.

Möge der allmächtige und barmherzige Gott unsere Herzen öffnen, mit seinen Wundern so fest zu rechnen wie es die Freunde des Gelähmten taten, und möge Gott uns unsere Augen öffnen, seine Wunder in unserm Leben zu erkennen und zu sehen – egal wie klein oder groß sie auch sein mögen.

AMEN

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Die Photographie 'Taufbecken (Propsteikirche St. Johann in Bremen), 1845 von Georg Andreas Steinhäuser angefertigt. Fuß mit fortschleichender Schlange als Symbol der Sünde', Jürgen Howaldt, 2006, ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland.

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