Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Thomas Sinning: Phil. 1, 21-25 „Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“

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'Eta Canis Majoris, a Blue Class B5 supergiant in the Canis Major constellation, 2011, Sephirohq

3. Sonntag nach Epiphanias

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“

Predigt gehalten von Pfarrer Thomas Sinning am 22. Januar 2012 im Kantatengottesdienst in der Dreikönigskirche mit der Kantate von Johann Kuhnau

Liebe Gemeinde!

Was haben Popmusik und ein evangelischer Gottesdienst gemeinsam? Wahrscheinlich mehr, als man denkt, aber eines gewiss: in beidem darf in hemmungslosen, manchmal sogar schwülstigen Bilder von der Liebe gesungen werden. Dieser Choral von Philipp Nicolai, den wir eben in der Kantate gehört haben, der auch nicht in Englisch, sondern in barockem Deutsch geschrieben ist, ist kein Popsong; aber er ist ein Liebeslied, dessen Worte in der Tat überschwänglich sind. Worte, die einen abstoßen oder mitreißen können. Ein Liebeslied eben. Die Liebe aber gilt nicht irgendwem, sondern Jesus, „dem Morgenstern, dem guten Hirten, dem wunderschönen Bräutigam“.

'Le Chant d Amour (Song of Love).', 1833–1898, Edward Burne-Jones

Wenn ein solches Lied in einer Kirche gesungen wird, dann ist das ein Ausdruck von mystischer Frömmigkeit. Sie steht im Kontrast zu der doch eher nüchternen Frömmigkeit, wie sie in unserer evangelischen Kirche heutzutage üblich ist. Wir sind es nicht gewohnt, von Jesus zu sprechen wie eine verliebte Braut von ihrem Bräutigam. Ist solche Mystik überhaupt noch zeitgemäß?

Mystik geht davon aus, dass wir Menschen in unserer normalen Welt Erfahrungen machen können von einer anderen Welt. Diese Welt ist für gewöhnliche Augen unsichtbar, für diejenigen aber, die sich darauf einlassen, genauso wirklich wie normale Welt. Ja, die andere Welt ist die wahre Welt, und sie kommt uns so nahe, dass wir sie körperlich fühlen, in sie eintauchen, mit ihr verschmelzen können. Mystik gab und gibt es in allen Religionen. Philipp Nicolai war christlicher Mystiker. Für ihn hatte die andere Welt einen Namen: Jesus Christus.

Vielleicht möchte man sagen: diese Mystik ist doch etwas ziemlich Verrücktes. Aber: Mystik ist letztlich nicht verrückter als die Zeit, in der sie entsteht. Mystik hat manches mit Fantasy gemein: Man sucht, der Gegenwart zu entfliehen. Da ist es gar nicht verwunderlich, wenn heute Millionen von Menschen Fantasy-Bücher wie „Herr der Ringe“ und „Harry Potter“ verschlingen, um wenigstens für Stunden unsere Welt zu vergessen, die aus den Fugen geraten ist.

'Philipp Nicolai', 1. Hälfte 17. Jahrhundert

Wenn wir das heute verstehen können, dann können wir die Frage auch für die Zeit vor gut 400 Jahren stellen, wie es dazu kam, dass Philipp Nicolai sich wünschte, die Braut von Jesus zu sein.

Das 16. Jahrhundert war für viele Menschen bestimmt von Unfrieden, Elend und Einsamkeit. Auch Philipp Nicolai hatte ein schwieriges Leben. Mit 11 Jahren muss er die Eltern verlassen, um überhaupt eine Schule besuchen zu können. Aus dem kleinen hessischen Dorf Mengeringhausen wechselt er innerhalb der nächsten 10 Jahre über zehnmal die Schule und den Ort, um schließlich sein Abitur und das Studium zu beenden. Sein Weg führt ihn von Dortmund über Kassel nach Mühlhausen, dann wieder zurück nach Dortmund, und wieder zu den Eltern, nach Erfurt. Nach Beendigung des Theologiestudiums ist er eine Zeit arbeitslos. Aus seiner ersten lutherischen Pfarrstelle in Witten-Herdecke wird er nach kurzer Zeit von den katholischen Truppen vertrieben. Auf der nächsten Stelle im Oberhessischen wird er gemobbt - und er mobbt heftig zurück. Schließlich will ihn die lutherische Gemeinde in Unna als Pfarrer haben. Dort angekommen, muss Nicolai bald ein Drittel der ganzen Stadtbevölkerung während der Pestwelle begraben. Auch seine geliebte Schwester, die dem ehelosen Pfarrer den Haushalt geführt hatte, stirbt. Nach dem Ende der Pest fallen wieder katholische Truppen ins Land. Nicolai, der gerade geheiratet hatte, flieht mit Frau und Kindern. Erst gegen Ende seines Lebens findet er Ruhe als Pfarrer in Hamburg als Hauptpastor in St. Katharinen. Erschöpft stirbt schon mit 52 Jahren.

Ein schwieriges Leben kann einen Menschen schwierig machen. Philipp Nicolai hat sein Leben lang gekämpft, gegen die Katholiken, und noch schlimmer gegen die Reformierten. Unsägliche Schmähschriften auf niedrigstem Niveau sind aus seiner Feder geflossen. Man spürt, welche Unruhe und Unfrieden diesen Mann geprägt haben. Aber auf dem Gipfelpunkt der Not, als er in Unna täglich vor den Massengräbern auf dem Friedhof steht, da erblickt er eine andere Welt, eine Welt ohne Hass, eine Welt voller Liebe. Da entdeckt er die Nähe Christi. Da spürt er die Umarmung und den Blick Jesu, da schmeckt er Christi Gegenwart im Abendmahl. Diese Erfahrung schlägt sich nieder in dem Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, das er nicht nur gedichtet, sondern zu dem er auch die Melodie komponiert hat.

'Cristo degli abissi', 2007, Yoruno

In diesem Lied, das das Wochenlied zum Erscheinungsfest am 6. Januar ist, begegnen uns viele biblische Bilder aus dem alten und aus dem neuen Testament. Es ist das Lied eines Gläubigen, der in seiner engen, mystischen Beziehung zu Jesus alles gefunden hat, was sein Leben ausfüllt und trägt. Es ist, als ob die Braut vor sich das Bild des geliebten Bräutigam hat, sich darein versenkt und alles um sie herum vergisst. Die Welt kommt darin nicht mehr vor. Das braucht sie auch nicht, denn der Himmel steht ihr offen. Angesichts der Lebensumstände von Philipp Nicolai kann man das wohl nachvollziehen. Jesus Christus ist für ihn der Fluchtpunkt, der Trost im Leben und im Sterben.

Ich selber singe dieses Lied gerne. Mich fasziniert diese mystische Betrachtung Christi, und, ja, ich könnte sie als Teil meines Glaubens annehmen. Denn sie lenkt die Gedanken auf den Dreh- und Angelpunkt meines Glaubens: Jesus Christus. Ohne ihn würden wir Gott nicht kennen, wie wir ihn kennen.

Doch etwas Wichtiges fehlt mir dabei. Etwas, das unseren Glauben erst ganz und vollständig und lebendig macht. Und das finden wir in den Texten der Kantate von Johann Kuhnau, die er zwischen den beiden Choralversen vertont hat. Es ist die Welt, meine Welt, unsere Welt, das, was unter dem Himmel ist. Diese Welt wird nicht verdrängt, nicht verniedlicht oder abgewertet, sondern ernst genommen, indem Gott sich in sie hinein begibt. Genau das ist es, was wir an Weihnachten gefeiert haben: Gott kommt zur Welt, mitten hinein in die Leiblichkeit unserer menschlichen Existenz, mitten hinein in die Not armer Menschen, in leibliche Not, in schmutzige Windeln und Volkszählungstrubel und Unfrieden. „O Wundersohn, dein überirdisch Wesen hat sich zum Thron den ird´schen Leib erlesen, damit der Mensch, die Erde, zu deinem Himmel werde.“

Mystik hat nur ihre Berechtigung, wenn sie die oftmals schwierige Wirklichkeit unseres menschlichen Lebens aushält. Und sie kann es. Denn Gott ist selber diesen Weg gegangen: von oben nach unten, vom Geist ins Fleisch, vom Himmel in die zerrissene Geschichte und Gegenwart unserer menschlichen Existenz. Das bedeutet: Gott nimmt diese Welt ernst. Er nimmt mein Leben ernst. Er nimmt die Sorgen und ungelösten Konflikte und die Belastungen und die politischen Herausforderungen und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, ernst. Das ist es, worum es an Weihnachten geht.

'Allegorie der Nächstenliebe',  2010, Wolfgang Sauber

Und das hat Konsequenzen. Jesus hat es klar gesagt: Gottes und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen. Kirche ist nicht nur ein Stück Himmel auf Erden (wie es im Gottesdienst zum Ausdruck kommt), sondern immer auch Kirche in der Welt und für die Welt. Christen interessieren sich um Gottes Willen für ihre Mitmenschen und auch für die politische und gesellschaftliche Realität, in der sie leben. Christen nehmen die Welt ernst, weil Gott sie ernst nimmt.

In der Zeit des Nationalsozialismus hat der Theologe Dietrich Bonhoeffer gesagt: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Das ist konsequent von Weihnachten her gedacht. Und übertragen auf Philipp Nicolais Choral heißt das: Nur wer den Satz Jesu „Gehet hin in alle Welt“ befolgt, der darf auch in mystischen Bildern vom wunderschönen Bräutigam schwelgen. Aber das dürfen wir dann auch tun. Mit der schönsten Musik. So wie heute morgen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. A M E N

Johann Kuhnau „Wie schön leuchtet der Morgenstern“

'A very long exposure of the sky looking at the North Star', 1981, LCGS Russ

1. Choral

Wie schön leuchtet der Morgenstern voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn,
aus Juda aufgegangen.
O guter Hirte, Davids Sohn, mein König auf dem Gnadenthron,
hast mir mein Herz umfangen,
lieblich, freundlich, schön und prächtig, groß und mächtig,
reich an Gaben, hoch und wunderbar erhaben.

2. Recitativo

Allein, heut wird der Große klein, der Sohn, aus Gott geboren,
wird heut ein Menschensohn,
als hätt´ der Himmelsherr sein Himmelreich verloren.
Er wird ein rechtes Opferlamm, weil er als Davids höchster Stamm,
in Davids eigner Stadt, nur einen Stall zur Herberg hat.

3. Coro

Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
welches Herrschaft ist auf seiner Schulter, und er heißet:
Wunderbar, Rat, Kraft, Held, ewig Vater, Friedefürst.

4. Arie

O, Wundersohn, dein überirdisch Wesen hat sich zum Thron
Den ird´schen Leib erlesen,
damit der Mensch die Erde zu deinem Himmel werde.

5. Recitativo

Doch leuchtet in der Niedrigkeit ein Strahl von seiner Göttlichkeit,
ein Kaiser schreibt die Schätzung aus, so zieht zugleich der Prinz der Prinzen in eines ird´schen Leibes Haus,
die Engel sagen ihn der Welt in Lüften an,
weil es kein Mensch verrichten kann.
Denn alle Himmel sind sein eigen, wie sollt´ sich nicht vor ihm die ganze Erde neigen

Akiyoshi's Room

6. Arie

Kommt, ihr Völker, kommt mit Haufen, kommt und huldigt diesem Kind.
Himmel, Erde, zu den Heiden soll sein Zepter ewig weiden,
weil sie dessen eigen sind.

7. Recitativo

Ich huld´ge dir, großmächt´ger Prinz, weil deine Gotteskraft die Macht der Sünden, durch die uns Satan tracht´,
mit sich als Sklaven zu verbinden, ganz aus dem Wege schafft.
Ich ehre die verborgne Macht, und meine untertän´gen Lippen
lobsingen dir auch in der schlechten Krippen.

8. Choralo

Zwingt die Saiten in Cythara und lasst die süße Musica
ganz freundenreich erschallen,
dass ich möge mit Jesulein, dem wunderschönen Bräutigam
in steter Liebe wallen.
Singet, springet, jubilieret, triumphieret, dankt dem Herren,
groß ist der König der Ehren.

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