Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigt von Pfarrerin Silke Alves-Christe zur Thomasmesse: Matthäus 8,23-27 Mut zur Angst

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'Mauer der Angst', 2015, Silke Alves-Christe

Reminiscere

Mut zur Angst Matthäus 8,23-27

Predigt gehalten von Pfarrerin Silke Alves-Christe in der Thomasmesse am 01.03.2015 in der Dreikönigskirche

Liebe Gemeinde!

Wie eine hohe Mauer baut sie sich vor uns auf: die Angst. Wir konnten sie nicht in der Kindheit zurücklassen. Sie ist mit uns erwachsen geworden. Sie hat sich verwandelt. Kleiner geworden ist sie aber nicht - diese Mauer aus Ängsten, die vor uns steht, die uns gefangen nimmt, die uns in die Enge treibt – bis uns der Atem stockt, ja, bis hin zu körperlich spürbarer Beklemmung. Angst und Enge – das ist die gleiche Wortwurzel.

Manchmal ist die Angst wie verflogen - und dann wieder türmt sie sich vor uns auf und verbaut uns den Weg, ja, sogar den Blick in die Zukunft. Offenbar liebt sie die Dunkelheit. Die war schon als Kind beängstigend. Aber auch als Erwachsene packt uns Angst oft gerade dann, wenn wir am späten Abend das Licht ausmachen und in aller Ruhe einschlafen wollen. Wer kennt das nicht, daß Gedanken um uns kreisen und uns den Schlaf rauben, die wie eine Spirale der Angst keinen Anfang und kein Ende haben und darum so schwer greifbar sind?

  • Die zerbrechliche, gefährdete Gesundheit:
    meine eigene und die meiner liebsten Menschen,
  • die Entwicklung unserer Kinder:
    welche Gefahren lauern auf sie?
  • die berufliche Unsicherheit -
    und von da ist es nicht weit zu finanziellen Risiken.
  • Und überhaupt: die rasante technische Entwicklung,
    die Angst, daß das, was mir vertraut ist, ständig überholt wird von Neuem, Fremdem.
  • Nicht zu vergessen die täglichen Nachrichten:
    auf immer größer werdenden Fernsehbildschirmen rücken uns Krieg und Terror immer näher.
    Ist denn selbst in Europa Krieg nicht zu verhindern?
    Und welche Stadt wird als nächste von haßerfülltem Terror heimgesucht?
    Angst beschleicht uns nicht nur als kollektive Weltangst, sondern auch als individuelle Lebensangst.
    Sind nicht die ganz persönlichen Themen noch bedrängender? Vor allem dieses: Habe ich mich in den wirklich wichtigen Fragen meines Lebens richtig entschieden?

Angst ist aus zwei Gründen ein so großes menschliches Thema:

  • Weil unser Leben zerbrechlich und gefährdet ist und an seinem Ende der Tod steht.
  • Weil wir Freiheit haben, die Freiheit, zu entscheiden, und wird dann mit den richtigen oder falschen Entscheidungen leben müssen.

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard formuliert in seinem Buch: Der Begriff Angst:

„Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit.“

Ja, Schwindel: das Gefühl, daß sich alles dreht, daß alles ins Wanken gerät und wir keinen festen Boden unter den Füßen haben, all das spielt auch in dem Bibeltext eine Rolle, der uns im Blick auf das heutige Thema wichtig und hilfreich erschien:
Die Stillung des Sturms aus dem Matthäusevangelium in Kapitel 8 (23-27):

Jesus stieg in das Boot und seine Jünger folgten ihm.
Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See, sodass auch das Boot von Wellen zugedeckt wurde.
Er aber schlief.
Und sie traten zu ihm, weckten ihn auf und sprachen:
Herr, hilf, wir kommen um!
Da sagt er zu ihnen:
Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?
Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer.
Da wurde es ganz stille.
Die Menschen aber verwunderten sich und sprachen:
Was ist das für ein Mann,
dass ihm Wind und Meer gehorsam sind? (Matthäus 8,23-27).

'Seestutm' - 1977, Matthäus 8, 23-27, Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Seestutm' - 1977, Matthäus 8, 23-27, Walter Habdank. © Galerie Habdank

Ja, der See Genezareth ist berüchtigt für seine ganz plötzlich auftretenden Fallwinde, die aus heiterem Himmel aus einer ruhigen Bootsfahrt in Lebensgefahr bringen:

Herr, hilf, wir kommen um!

Die Jünger werden wohl zunächst ganz unterschiedlich mit der plötzlichen Gefährdung umgegangen sein: Mancher mag wie gelähmt auf die bedrohlichen Wellen gestarrt haben, ein anderer mag einen Eimer geschnappt haben, um mit aller Kraft das Wasser wieder aus dem Boot zu befördern. Wenigstens irgend etwas tun! Wieviele Stoßgebete mögen dabei zum Himmel geschickt worden sein? Vielleicht auch die vorwurfsvolle Frage, warum Gott nicht eingreift und rettet? Und in diesem Ringen um Leben oder Tod fiel den Jüngern plötzlich auf: Einen unter uns rührt das alles gar nicht. Jesus, der uns neu mit Gott in Verbindung gebracht hat, tut so, als sei nichts geschehen:

Er aber schlief.

Genau diesen Eindruck habe ich auch manchmal, daß ich von Gott nichts spüre, wenn Angst mich überfällt. Ja, es kommt mir vor, als würde er seelenruhig schlafen, unberührt von dem, was mich in Panik versetzt. Angesichts all der Gefährdungen dieser Welt wünschte ich, ich könnte ihn - wie die Jünger es nun tun – wecken mit dem Ruf:

Herr, hilf, wir kommen um!

Bevor Jesus Wind und Meer zur Ruhe bringt, nimmt er sich noch die Zeit für eine Frage:

Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?

Ist das wirklich eine Frage oder nicht vielmehr ein Vorwurf, oder schlicht die Verwunderung: Wenn ich doch bei euch bin, warum seid ihr trotzdem so furchtsam?
Jedenfalls zeigt diese Frage, daß es Jesus nicht um das Wunder geht, sondern zuerst um die Frage nach meinem Glauben, nach meinem Vertrauen. Der Glaube, zu dem die Geschichte einladen möchte, ist strenggenommen nicht der Glaube, daß Jesus einen Sturm stillen kann. Die Geschichte von der Stillung des Sturms ermutigt, darauf zu vertrauen, daß die Nachfolger Jesu auch im Sturm und in Situationen, in denen er sich nicht um sie zu kümmern scheint, bei ihm geborgen sind. Auch in gefährlichen Stürmen ist Jesus da und wird uns vor dem Untergang bewahren, selbst dann, wenn wir uns von ihm verlassen fühlen.
Heißt das nun, daß Christen generell keine Angst haben müssen, keine Angst haben dürfen?

Die christliche Theologie hat in der Tat lange Zeit das Thema Angst als bloße Anfechtung des Glaubens angesehen, also als eine Schwäche des Menschen, die im Glauben überwunden werden muß.
Aber von Jesus, der hier im bedrohlichen Seesturm wunderbar vertrauensselig schlief, wird ja schließlich auch erzählt, wie er kurz vor seiner Gefangennahme im Garten Gethsemane mit dem Tode rang und in diesem Kampf zwischen Angst und Gottvertrauen immer heftiger betete. Der Evangelist Lukas schildert sogar ganz drastisch Jesu Angstschweiß, indem er schreibt:

Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.

Genau dieser Satz übrigens ist in einigen frühen Handschriften des Neuen Testaments weggelassen worden, wohl, weil man diese allzu menschliche, körperliche Angst nicht mit Jesus in Verbindung sehen wollte.
Solche Unterdrückung und Verdrängung des Themas Angst ist in meinen Augen genau der falsche Weg – und bestimmt nicht christlich.
Dem unter Depressionen leidenden dänischen Philosophen Kierkegaard ist bei der Arbeit an seinem Buch: ‚Der Begriff Angst‘ deutlich geworden, dass seine Lebensangst keineswegs ein privates, genetisches Problem ist, sondern geradezu ein Grundpfeiler der menschlichen, auch der christlichen Existenz.

Die Angst steckt in jedem Menschen, aber die schwere Aufgabe besteht darin, sie zuzulassen und richtig mit ihr umzugehen. Zum Modellfall wird für Kierkegaard das Grimmsche Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“. Dazu schreibt er:

„Dies ist ein Abenteuer, das jeder Mensch zu bestehen hat: Dass er lerne sich zu ängsten, denn sonst geht er dadurch zugrunde, dass ihm nie angst war, oder dadurch, dass er in der Angst versinkt; wer hingegen gelernt hat, sich recht zu ängstigen, der hat das Höchste gelernt“.

Wenn angesichts der komplexen Probleme unserer Welt das Angstgefühl, das Gefühl zu schwanken wie auf einem schiffbrüchigen Boot, immer mächtiger wird, beobachte ich zwei verschiedene Wege, mit der Angst umzugehen:

  • Der eine Weg ist die Verdrängung der Angst durch die Zerstreuung und die Oberflächlichkeit einer Spaßgesellschaft nach dem Motto: Wir amüsieren uns zu Tode.
  • Der zweite Weg ist der Versuch, alles in ein klares, schlichtes Schwarz-Weiß-Raster einzuordnen. Ich denke dabei an die Fundamentalisten in den unterschiedlichen Religionen, denen nichts wichtiger ist als ein festes Fundament, das durch nichts in Wanken gebracht werden darf. Ihre knallharte Festlegung von Gut und Böse ist in der Tat beängstigend.

Der christliche Glaube eröffnet uns eine dritten Weg, den ich bezeichnen möchte als „Mut zur Angst“.
In dem Grundvertrauen, dass Gott diese Welt und mein Leben in seinen Händen hält, kann ich mich als Christ, als Christin ganz auf die Ambivalenz dieses Lebens einlassen und muss nicht in die eine oder andere Richtung entfliehen, weder in die seichte Ablenkung noch in die aggressive Radikalisierung.
Nicht völlige Angstlosigkeit, sondern vielmehr Mut zur Angst, Mut zum fraglichen Sein zeichnet den christlichen Glauben aus. Kreuz und Auferweckung, Passion und Ostern umschließen alle Ängste, alle Ambivalenzen dieses Lebens.

Mascha Kaléko hat ein Gedicht geschrieben mit dem Titel „Rezept“. Es beginnt und endet mit dem Rat:

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten

Das Wagnis des christlichen Glaubens, die Einladung zu einem Leben im Vertrauen, verstehe ich genau so:
Jage die Angst vor den Ängsten fort! Fasse Mut, mit Angst zu leben und nicht krampfhaft gegen sie anzukämpfen!
Wir müssen die Angst nicht verbannen, nicht aus der Kirche vertreiben.
Darum werden wir die Mauer der Angst auch nicht aus der Kirche tragen, und ihre Steine irgendwo verschwinden lassen. Wir tragen sie ab, aber wir verbannen sie nicht. Die Aspekte der Angst bleiben in der Kirche, bleiben in unserer Mitte, weil wir uns ihnen im Gottvertrauen mutig stellen können. Amen.

Mauer der Angst, 2015, Silke Alves-Christe
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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