Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigt von Pfarrerin Silke Alves-Christe: Anonymus „Gedenke, Herr, wie es uns gehet“ - Kantatengotetsdienst - BWV 217

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'Suchet den HERRN, so werdet ihr leben.', 02. Februar 2014, Gmeindezentrum

Kantatengottesdienst

„Gedenke, Herr, wie es uns gehet“
(BWV 217)

Predigt gehalten von Pfarrerin Silke Alves-Christe am 09.02.2014 in der Bergkirche

'Azulejos of Jesus among the Doctors', 2010, Joseolgon

1. Coro
Gedenke, Herr, wie es uns gehet,
schaue und siehe unsre Schmach!
Unsre Freude hat ein Ende,
unser Reihen ist in Wehklagen verkehret,
die Krone unsers Hauptes ist abgefallen:
o weh, dass wir so gesündiget haben!

2. Recitativ
Ach, Jesu ist verloren! Ich bin lebendig tot,
denn der Verlust sagt meinen Ohren noch mehr als eine Todesnot.
Soll ich denn ohne Jesum sein, o schreckensvolle Pein!
Ihr Töchter Zions, könnt ihr keine Nachricht geben,
wo ist mein Heil und Leben?
Ach, welche Sicherheit hat mich dahin geführt!
Ich habe nicht wie mir gebührt, den Heiland festgehalten,
ich ließ die Laster in mir walten, o wehe mir!
Bei meinen Sünden, wo werd´ ich Jesum wiederfinden?

3. Aria alle Pastorale
Saget mir, beliebte Felder und ihr angenehmen Wälder,
sagt, wo treff´ ich Jesum an?
Meines Herzens Kron´ und Lust ist mir leider unbewußt,
sagt, wo ich ihn finden kann?

4. Recitativo
Sei kummervolles Herz, getrost,
dein Heil läßt bei den Jammerklagen dich nicht verzagen;
sein Wort zeigt mit bewährten Gründen,
wie und an welchem Ort dein Jesus sei zu finden.
Da sagen dir die Himmelslehren:
Du sollst durch Buß und Glauben wiederkehren,
so werde Gott sich gleichfalls zu dir nah´n.
Wohlan! Es wird zu meinem Trost geschehen,
daß ich mein Heil bald werde wiedersehen!

5. Coro
Ändert euch, ihr Klagelieder,
Jesus, meine Lust kommt wieder,
weil mein Herz ihn sehnlich sucht!
Seid, ihr Sünden, seid verflucht,
ihr sollt mich nicht weiter trennen,
mich von Jesu scheiden können.

Liebe Gemeinde!

In das Bach-Werke-Verzeichnis haben einige wenige Kantaten Eingang gefunden, die gar nicht von Johann Sebastian Bach selbst komponiert wurden. Sie wurden 1950 im ersten vollständigen Bach-Werke-Verzeichnis nur mit einigen Fragezeichen aufgenommen. Der neueren Forschung ist es gelungen, einige von ihnen anderen bekannten Komponisten zuzuordnen, bei anderen aber handelt es sich um namentlich unbekannte Bach-Schüler. Unsere heutige Kantate ist offenbar eines der seltenen Zeugnisse für Johann Sebastian Bachs Wirken als Kompositionslehrer, das Werk eines Schülers also, der seinem Meister sehr nahe kommt. Der Dichter des Textes dieser Kantate ist gleichfalls nicht namentlich bekannt.

So kunstvoll auch die Musik dieses begabten Anonymus ist, die Worte dieser Kantate klingen nicht gerade besonders erhebend. Wir freuen uns in unserer Gemeinde auf die Kantatengottesdienste, möchten die herrliche Musik genießen und durch den schönen Gesang unserer Kantorei einen anderen Zugang zu unserem Glauben gewinnen als nur durch das Wort allein. Aber der Text der heutigen Kantate wirkt auf den ersten Blick wenig ansprechend:Schmach, Wehklagen und Sünde sind der Tenor des ersten Chorstückes. Ja, der erste Satz dieser Kantate ist ein wörtliches Zitat aus den Klageliedern des Alten Testaments, jenen Klagen, die das Volk Israel nach der Zerstörung des prächtigen Jerusalemer Tempels in den Trümmern gesungen hat. Im Kapitel 5 der Klagelieder lesen wir:

Gedenke, HERR, wie es uns geht; schau und sieh an unsre Schmach!
Unsres Herzens Freude hat ein Ende, unser Reigen ist in Wehklagen verkehrt.
Die Krone ist von unserm Haupt gefallen. O weh, daß wir so gesündigt haben!

'Vierge de Pitié', 2010 ,Rh-67

Das Klagelied dieser Kantate hat aber einen ganz anderen Grund als Trümmer und Krieg und Zerstörung.
Seufzend, mit „ach eingeleitet, wird der Grund genannt:

Ach, Jesu ist verloren!

Das ist offenbar das schlimmste, was passieren kann; denn wir hören auch gleich, was das bedeutet:

Ach, Jesu ist verloren!
Ich bin lebendig tot!

Aber was soll das heißen: Jesus ist verloren?
Fragen über Fragen durchziehen die Gesänge dieser Kantate:

Soll ich denn ohne Jesum sein?
Wo ist mein Heil und Leben?
Wo werd´ ich Jesum wiederfinden?
Sagt, wo treff´ ich Jesum an?
Sagt, wo ich ihn finden kann?

Wer stellt in welcher Situation solche Fragen?
Es geht offenbar nicht um den gestorbenen Jesus und auch nicht um das leere Grab, bei dessen Anblick Maria Magdalena den Gärtner fragte:

Wo hast du ihn hingelegt?

Die Fragen:

„Wo werd´ ich Jesum wiederfinden?
Sagt, wo treff´ ich Jesum an?
Sagt, wo ich ihn finden kann?”

beziehen sich nicht auf Jesu Tod, sondern ganz im Gegenteil auf seine Jugend, genauer gesagt auf die einzige Kindheitsgeschichte, die die Evangelien von Jesus erzählen.
Fällt Ihnen der Bezug der Kantate zur heutigen Schriftlesung auf?
Mit den vielen Fragen der Kantate kann man gut das verzweifelte Suchen von Maria und Josef in Verbindung bringen. Drei Tage lang waren Jesu Eltern auf der Suche, das heißt: Am ersten Tag war der Verlust gar nicht aufgefallen. Der Zwölfjährige mußte ja nicht mehr an ihrer Hand gehen, sondern war doch sicher mit anderen Kindern zusammen unterwegs.
Der Evangelist Lukas erklärt das so:

Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten.

Und allmählich wird ihnen klar:

Wo werd´ ich Jesum wiederfinden?

'Jésus dans le temple', 2013, tilisateur:Djampa - User:Djampa

So fragen Maria und Josef, als sie sich entschließen, die Pilgergruppe aus Nazareth, mit der sie zum Passahfest gekommen waren, nach Galiläa weiterziehen zu lassen, und selbst nach Jerusalem zurückzukehren, um ihren Sohn zu suchen.

Saget mir, beliebte Felder und ihr angenehmen Wälder, sagt, wo treff´ ich Jesum an?

Die Frage aus dem dritten Satz der Kantate, aus der Arie könnte die Frage der Eltern Jesu gewesen sein, als sie den ganzen Weg einer Tagesreise zurück nach Jerusalem nach Jesus absuchen, jeden Baum und Strauch.

Ihr Töchter Zions, könnt ihr keine Nachricht geben, wo ist mein Heil und Leben?

Dies könnte die Frage der Eltern Jesu gewesen sein, als sie die Bewohner Jerusalems, ihre Gastgeber und die Leute in der Nachbarschaft ihres Pilgerquartiers und jeden, den sie in der Stadt trafen, nach ihrem verlorenen Sohn Jesus fragten.
Aus der Frage, die Maria ihrem Sohn stellte, als sie ihn endlich gefunden hatte:

“Mein Sohn, warum hast du uns das getan?“

können wir rückschließen, welche Qual diese Suche für die verzweifelten Eltern gewesen sein muß.
Aber diese Kantate, die von Verlust, vom Fragen und vom Suchen handelt, erwähnt doch gar nicht Maria und Josef und ihren 12-jährigen Sohn, schon gar nicht den Moment des Findens – zwischen den Schriftgelehrten, im Tempel von Jerusalem, im Haus seines Vaters.

Der Textdichter unserer Kantate hat das Motiv der Suche der Eltern Jesu nach ihrem verlorenen Sohn sozusagen als Symbol verstanden für die Suche eines Menschen, der Jesus verloren hat.
Nicht Maria und Josef haben Jesus verloren, sondern der sündenverhaftete Mensch, der sich in falschen Sicherheiten wiegt und den Lastern keinen Widerstand leistet, hat Jesus verloren.
So quälend, wie die Suche nach dem eigenen Kind für Eltern sein muß, so quälend ist die Suche für einen Menschen, der Jesus verloren hat. Er oder sie fühlt sich

lebendig tot!

Wer Jesus verloren hat, steht vor den Trümmern der eigenen Existenz.
Ja, der Eingangschor stimmt aus diesem Grund ein Klagelied an wie bei der Zerstörung von Stadt und Tempel.

Gedenke Herr, wie es uns geht!

Und dann kommt mit dem Ausruf:

„O, weh, dass wir so gesündigt haben!“

eine Aussage, die viele abschreckt, wenn sie mit Kirche zu tun haben, daß sie immer auf ihre vermeintlichen Sünden angesprochen werden.
Ich denke, daß Sünde für uns meint, daß wir Gott nicht suchen, daß wir nach allem anderen suchen: nach Anerkennung, nach Sicherheit, nach so mancher Freude, aber daß wir nicht wirklich auf der Suche nach Jesus sind. So wie Maria und Josef gesucht haben, denen nichts anderes mehr wichtig war als diese intensive Suche.

Suchet den HERRN, so werdet ihr leben.

Vielleicht haben Sie am letzten Sonntag nach dem großen Gottesdienst zur Wiedereröffnung unseres renovierten Gemeindezentrums dieses Wort des Propheten Amos an der Wand eines Raumes im Gemeindezentrum gelesen. Wenn nicht, finden Sie ein Foto vorn auf Ihrem Gottesdienstblatt.

Suchet den HERRN, so werdet ihr leben.

Ich sehe darin genau die richtige Antwort auf die Klage der Kantate:

Ach, Jesu ist verloren! Ich bin lebendig tot! -

Suchet den HERRN, so werdet ihr leben.

'Jesus among the doctors in the Temple', 2009, Phillip Medhurst

Daß wir nicht mehr suchen, daß wir meinen, alles schon zu haben, daß wir weder Sehnen noch Suchen, noch Sehnsucht in uns haben, daß zu vieles Gewohnheit geworden ist, daß wir nichts Neues mehr erwarten oder zu finden hoffen, das hat mir diese Kantate wieder neu eröffnet.
Das kann man meinetwegen unsere Sünde nennen: diese genügsame, selbstzufriedene Annahme, alles schon gefunden zu haben, alles schon geregelt zu haben, alles schon unter Dach und Fach zu haben. Das ist eine Haltung, die dem, was Glauben meint, sehr fern und fremd ist.

Das intensive Suchen und Fragen dieser Kantate möchte ich in meinen Glauben wieder hineinholen, dieses Nicht-locker-Lassen im Fragen und Suchen.
Schon die Vorfreude, den verlorengegangenen Jesus wiederzufinden, verwandelt das Klagelied des ersten Satzes in eine fröhliche Zuversicht im Schlußchor:

Jesus, meine Lust, kommt wieder, weil mein Herz ihn sehnlich sucht!

Da heißt es übrigens nicht: Ich werde Jesus finden,

weil mein Herz ihn sehnlich sucht

Sondern

Jesus kommt wieder, weil mein Herz ihn sehnlich sucht!

Jesus läßt sich nicht einfach nur finden, sondern er kommt dem Suchenden entgegen. Denn er ist ja selbst ein Suchender, der 99 Schafe warten läßt, um dem einen verlorenen nachzugehen, bis er`s findet. Schwierig ist es für Gott nur mit denen, die meinen, alles schon gefunden zu haben.
Gott liebt die Suchenden. Er ist ja selbst ein Suchender, auf der Suche nach jedem einzelnen von uns und immer bereit, uns auf unserer Suche entgegenzukommen.
Amen.

Die Abbildung 'Azulejos of Jesus among the Doctors', 2010, Joseolgon, ist unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license lizensiert.
Das Bild 'Jésus dans le temple', 2013, tilisateur:Djampa - User:Djampa (Bruley chapelle du Rosaire Jésus dans le temple - inscription [BENEDICTA TU] IN MULERIBUS (Tu es bénie entre toutes les femmes) - Céramiques du XIXe siècle.), ist unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic und 1.0 Generic license lizensiert.
Das Gemälde 'Jesus among the doctors in the Temple', 2009, Phillip Medhurst, ist frei bezüglich der Bedingungen der Free Art License.
Das Bild 'Vierge de Pitié', 2010 ,Rh-67, ist unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic und 1.0 Generic license lizensiert.

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