Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigt von Pfarrerin Silke Alves-Christe: Markus 1, 40-45 Eine Geschichte voller „Widersprüche“

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'The Jesus Heals a Leper window at St. Matthew's Lutheran Church in Charleston, South Carolina', 1912, Cadetgray

14. Sonntag nach Trinitatis

Eine Geschichte voller „Widersprüche“ Markus 1, 40-45

Predigt gehalten von Pfarrerin Silke Alves-Christe zu ihrem Einführungsgottesdienst am 25.09.2011 in der Dreikönigskirche

Der Predigttext für den 14. Sonntag nach Trinitatis steht im Markusevangelium Kapitel 1, in den Versen 40-45

Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm:
Willst du, so kannst du mich reinigen.
Und es jammerte ihn und er streckte die Hand aus,
rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will's tun; sei rein!
Und sogleich wich der Aussatz von ihm und er wurde rein.
Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.
Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, sodass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern
er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden. Jesaja 29,17-24

Liebe Gemeinde!

Die Heilung eines Aussätzigen ist mit der Einführung einer Pfarrerin in den Dienst in ihrer neuen Gemeinde nicht leicht zusammenzubringen, um so mehr, als es sich nicht um eine rundherum stimmige, nicht um eine ganz und gar harmonische Geschichte handelt.
Vielmehr stecken in dieser Heilungsgeschichte so manche Widersprüche. Ist nicht Jesu Verhalten in sich widersprüchlich? Widerspruch/widersprechen – mir scheinen gerade diese Begriffe ein Schlüssel für diesen heutigen Predigttext zu sein.

Nun, der Beginn ist ganz so, wie wir es von Jesus gewohnt sind: Ein Aussätziger, ein Leprakranker, ein Ausgegrenzter, einer, der sich - wegen der Ansteckungsgefahr seiner Krankheit - von allen anderen Menschen fernhalten muß, der handelt im Widerspruch zu den für ihn geltenden Regeln. Statt Abstand zu halten und warnend zu rufen: „Unrein, unrein!“ wagt er es, sich Jesus zu nähern, kniet nieder und spricht zu Jesus: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“ „Willst du, so kannst du“ ist eine etwas ungewöhnliche Form, die Bitte um Heilung zu äußern, aber es spricht daraus ein ganz klares Vertrauen zu Jesus.
„Und es jammerte Jesus“. Das griechische Wort, das Luther mit „es jammerte ihn“ übersetzt, ist ein emotional sehr stark gefüllter Begriff. Man könnte auch übersetzen: „er wurde von großem Mitleid erfüllt“ oder sogar: „es drehte sich ihm das Herz im Leibe um“. Nun gibt es aber unter den frühen griechischen Handschriften des Neuen Testaments auch einige, in denen anstelle dieses intensiven Mitgefühls Jesu ein anderes Wort steht: nämlich: „Jesus wurde zornig.“ Also schon wieder ein Widerspruch!

Ich halte diese abweichende Lesart allerdings nicht für so abwegig; denn darin drückt sich Jesu scharfer Widerspruch aus gegen die Mächte der Krankheit und der Ausgrenzung.
Jesu Zorn gilt der Schrecklichkeit der Krankheitsnot, die dem ursprünglichen guten Schöpferwillen widerspricht.
Dass Jesus, der die heilvolle Nähe Gottes verkörpert, nicht nur Mitleid und Jammer, sondern regelrecht Zorn empfindet über die Macht der Krankheit, über die entstellende, Gemeinschaft zerstörende, unheilvolle Kraft, das ist ein Widersprechen, ein Widerspruch gegen Böses, der mir Eindruck macht. Jesu Zorn angesichts der Mächte des Bösen verstehe ich als Ermutigung sowohl an jeden einzelnen von uns, als auch an die Gemeinde und Kirche, über das Mitleid hinaus zu einem stärkeren Widerspruch gegen Leid und Not zu finden, ja dem Unheilvollen, dem Ausgrenzenden und Bösen, das wir erleben oder auch nur beobachten, deutlich – durchaus auch zornig – zu widersprechen. Ob aus Zorn gegen die unheilvolle Krankheit oder aus tiefempfundenem Mitleid mit dem leidenden Menschen – es ist für Jesus selbstverständlich, den Regeln zu widersprechen, die die Krankheit festschreiben wollen:

Er streckt die Hand aus, rührt ihn an und spricht zu ihm: Ich will’s tun; sei rein!

Mit seiner erbarmenden Berührung, mit seinem befreienden Wort läßt Jesus den Aussätzigen Gemeinschaft mit Gott erfahren, durch die er geheilt wird.

Der unerschrockenen und zudem erfolgreichen Zuwendung Jesu zu dem Kranken, der heilenden Berührung dieses unreinen, ausgegrenzten Menschen folgt der nächste Widerspruch sozusagen auf den Fuß:

'Noli me tangere', ca. 1430, André Abellon

Dem gerade Geheilten „drohte Jesus und trieb ihn alsbald von sich“. Manche Exegeten übersetzten sogar: „Jesus schnaubte ihn an“. Heftige Worte, die dem heilsamen Geschehen doch eindeutig widersprechen. Wie kann auf die heilende Nähe eine solch krasse Distanzierung folgen? Nähe und Distanz – ein Dauerbrennerthema menschlicher Beziehungen: das richtige Maß, den angemessenen Wechsel zwischen Nähe und Distanz zu finden, beschäftigt uns unser Leben lang. Wo die Berührung Jesu eine intensive Nähe geschenkt hat, da darf der Geheilte sich nicht gemütlich einrichten, da muß auch die Ablösung gelingen.

Eigenständig und mündig soll er seinen Weg weitergehen – hinein in die Gemeinschaft, aus der er verstoßen worden war, wieder eingegliedert in das soziale und kultische Leben.
Das Widersprüchliche an unserer Heilungsgeschichte scheint sich zum Schluß noch einmal zu steigern. Statt dem Geheilten Mut zu machen, anderen von seiner heilsamen Begegnung mit Jesus zu erzählen, spricht Jesus – ganz im Gegenteil – zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst. Ist das nicht ein Widerspruch zu unserem Auftrag, die frohe Botschaft weiterzusagen? Warum darf der Geheilte nicht von der geschenkten Heilung erzählen?

Schon früheren Auslegern der Bibel ist aufgefallen, dass Jesus im Markusevangelium ziemlich oft geradezu verbietet, eine gelungene Heilung weiterzuerzählen. Was ist der Grund für diese Geheimnistuerei?
Schon ein merkwürdiger Wundertäter, der verbietet, über das vollbrachte Wunder zu erzählen!
Messiasgeheimnis – so nennen Bibelausleger diese Besonderheit des Evangelisten Markus.
Der Grund dafür ist dieser: Jesus soll nicht mißverstanden werden als Wunderheiler, wie es damals viele gab.
Von Jesus einfach als Wunderheiler zu erzählen ist höchstens die halbe Wahrheit.

Diese Seite seines Wirkens genügt noch nicht, um zu erkennen, dass Jesus der Christus, der Messias ist.
Natürlich – wenn Jesus, der Sohn Gottes, der Gottes heilende Kraft in sich trägt, Menschen begegnet, dann erfahren sie dieses Heil ganz handgreiflich, dann erleben sie eine wunderbare Veränderung ihres belasteten Lebens; aber sie erfahren damit doch noch nicht abschließend und umfassend, wer dieser Jesus von Nazareth wirklich ist.
Mit dem sogenannten Messiasgeheimnis will der Evangelist Markus deutlich machen: Es umgibt Jesus ein Geheimnis, das noch nicht gelüftet werden sollte, weil es vor Kreuz und Auferweckung mißverstanden werden könnte.

Jesus einfach einzureihen in die Reihe der Wunderheiler, ohne von Kreuz und Auferstehung zu sprechen, genügt nicht, um zu erkennen, wer Jesus Christus wirklich ist. Als umjubelter Wundertäter, dem die Massen nachlaufen, um für sich persönlich Heil und Wohlergehen zu erlangen, wäre Jesus für unsere Bedürfnisse instrumentalisiert, aber nicht als der verstanden, der er für uns und für unsere Welt in Wahrheit ist.

Bald nachdem Jesus die Ausgrenzung des Aussätzigen durchbrochen hat, wird er nämlich selbst ausgegrenzt, verachtet und schließlich sogar hingerichtet. Allzu schnell schlägt der Jubel der Massen um, und die Begegnung des Gottessohnes mit dieser Welt führt ihn ans Kreuz.
Wenn Jesus nur als vollmächtiger Wunderheiler gesehen worden wäre, dann säßen wir heute sicher nicht hier. Weil er aber als Gekreuzigter und schließlich Auferstandener erfahren und verkündigt wurde, darum versammeln wir uns in seinem Namen. Wir kommen zusammen nicht als Nachfolger eines erfolgreichen Wundertäters, sondern weil Jesus Christus auch dem Leiden und Sterben nicht auswich, weil er sich beidem stellte. Nicht durch ein Heilungswunder, sondern nur im Leiden und Sterben Jesu kann man Gott eindeutig erkennen. Erst durch sein Todesleiden hindurch kommt die wahre Heilung, das eigentliche Heil durch Gott zu uns.

'Cross of Bagergue', 2009, Sharon Mollerus

Als christliche Gemeinde, als Pfarrerin in der Verkündigung der frohen Botschaft werden wir immer wieder von den heilenden, zurechtbringenden Begegnungen Jesu mit kranken, mit depressiven, mit gebeugten und blinden Menschen erzählen, aber die frohe Botschaft, die uns durch unser Leben trägt und uns auch im Sterben noch Hoffnung schenkt, ist die Botschaft vom auferstandenen Gekreuzigten. Weil Jesus dem Leiden und Sterben nicht ausgewichen ist, hat Gott ihn auferweckt zu einem neuen Leben in Herrlichkeit, an dem auch wir teilhaben werden.

Als Kirche, als Gemeinde, als Pfarrer sind wir oft versucht, das Leiden zu verdrängen, es nicht ausreichend zur Sprache zu bringen. Es ist angenehmer, am Kreuz vorbei zu predigen, es ist verlockender, sich eine Kirche zu wünschen, die Erfolg hat, die bei den Menschen ankommt, die gegen den Trend wächst.
Es könnte aber sein, dass Kirche, wenn sie den Gekreuzigten predigt, wenn sie sich an die Seite der Leidenden stellt und den leidbringenden Mächten widerspricht, gerade nicht den Jubel der Massen erntet, sondern durchaus den Widerspruch dieser Welt ertragen muß.

Martin Luther hat die Alternative, um die es geht, in der Gegenüberstellung einer Theologie der Herrlichkeit und einer Theologie des Kreuzes zum Ausdruck gebracht. Nur die Theologie des Kreuzes erfaßt für ihn Gott, Jesus und die Kirche richtig, während die Theologie der Herrlichkeit alles durcheinander bringt. Luther hat es so formuliert:

Der Theologe der Herrlichkeit nennt das Schlechte gut und das Gute schlecht. Der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge wie sie wirklich sind.

Zu einem solchen Realismus möge uns Gott helfen, wenn wir gleich im Abendmahl Jesu Tod verkünden und Jesu Auferstehung preisen.
Amen.

Das Glasfenster 'The Jesus Heals a Leper window at St. Matthew's Lutheran Church in Charleston, South Carolina', 1912, Cadetgray, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Die Photographie 'Cross of Bagergue', 2009, Sharon Mollerus, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.
Das Gemälde 'Noli me tangere', ca. 1430, André Abellon, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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