Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lk 18,31-43 Es geht um das Ganze

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Vorfastenzeit - Estomihi

Es geht um das Ganze Lk 18,31-43

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2001

Andrea di Bartolo. Way to Calvary. Thissen-Bornhemisz collection

Andrea di Bartolo. Way to Calvary.
Thissen-Bornhemisz collection

Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott. Lk 18,31-43

In der philippinischen Stadt Caloocan wurde ein katholischer Gottesdienst gefeiert, bei dem ein Taschendieb, Rosauro Jacinto, anwesend war. Als die Gemeindeglieder bei einem Gebet die Augen geschlossen hatten, nutzte der Dieb diese Gelegenheit, um eine betende Frau zu bestehlen. Der Priester, Eli Balboa, schaute gerade im richtigen Moment in diese Richtung und machte die Gemeinde auf den Dieb aufmerksam. Der Dieb wollte flüchten, aber er wurde von einem Kirchgänger eingeholt. Der Priester kam auf den Festgenommenen zu und sprach ein Gebet, in dem er um Gottes Vergebung für den Täter bat. Und danach verpasste ihm der Priester einen Kinnhaken.

Dieses Beispiel eines kämpfenden Christentums wirkt verblüffend. Ein Priester, der Gebet um Vergebung mit einem Kinnhaken verbindet, wirkt widersprüchlich.

'Boxing gloves', 2006,  en:User:Andman8

Aber Christentum mit Muskelkraft hat es immer gegeben. Im Jahre 1994 gab es einen anglikanischen Pfarrer in Sydney, Australien, mit dem Namen Dave Smith, der versucht hat, durch Boxen den Gottesdienstbesuch zu steigern. Er forderte die Kirchenfremden dazu auf, mit ihm 5 Runden zu boxen. Falls er verliert, würde er ein Abendessen spendieren; wenn er gewinnt, erwartet er von dem Verlierer, dass er am nächsten Sonntag den Gottesdienst in seiner Kirche besucht. Dieser Pfarrer war vermutlich unschlagbar, denn in seiner Jugendzeit gehörte er zu einer Bande, die an Straßenkämpfen beteiligt war. Er kannte sich aus in Boxen, Kickboxen, Judo, Ringen und in einer koreanischen Kampfsportart, die hap-ki-do heißt. Dieser anglikanische Geistliche sagte: „Ich kann ziemlich mies kämpfen, und es gefällt mir nicht, zu verlieren, besonders nicht im Namen Gottes.“

Wie bei dem philippinischen Kinnhakenspezialisten hat man auch hier das Gefühl, dass ein kämpfender Gottesvertreter ein Widerspruch ist. Denn es wird von einem Vertreter Gottes erwartet, dass er unter allen Umständen auf Gewalt verzichtet.

Aber eigenartigerweise wird von Gott selber erwartet, dass er mit großer Gewalt eingreift. In dieser Welt gibt es unermesslich viel Brutalität. Und immer wieder wird gefragt: warum greift Gott nicht ein? Warum lässt Gott es zu, dass bösartige Menschen Mord und Folter begehen? Wir würden gern einen Gott sehen, der so tatkräftig eingreift wie der philippinische Priester, wenn Verbrecher die Wehrlosigkeit eines Opfers kaltblütig ausnutzen. Wir würden gern einen Gott haben, der die Gottlosen so hart und so konkret anpackte, wie der australische Geistliche.

Und zur Zeit Jesu haben die Juden einen Messias mit Muskelkraft erwartet, der die bösen Menschen dieser Erde knallhart erledigen würde. Und die Anhänger Jesu haben damit gerechnet, dass ihr Meister dieser Messias sein könnte. Und deswegen konnten sie die Worte nicht verstehen, von denen unser Text für heute berichtet:

Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.

'View of Jerusalem', before 1904,  James Fairman

Diese Voraussage konnten die Jünger überhaupt nicht begreifen. Dreimal wird gesagt, dass sie diese Worte nicht verstehen konnten:

Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

Wenn Jesus der Messias ist, d.h. der Retter Israels, dann ist es unmöglich, dass er verspottet, misshandelt und gedemütigt wird. Das würde Gott niemals zulassen, hat man damals gedacht.

Wie schwer es ist, die Demütigung eines Gesandten Gottes zu akzeptieren, wird in dem Koran veranschaulicht. Für den Islam war Jesus ein großer Prophet. Und in dem Koran wird berichtet, dass dieser Jesus nicht am Kreuz gestorben ist; sondern es wird behauptet, dass ein anderer an seiner Stelle gekreuzigt wurde. Dieser Text aus dem Koran zeigt die Mentalität der Gläubigen im Nahen Osten. Obwohl Jesus für den Islam nur ein Prophet war, konnte nicht akzeptiert werden, dass Gott es zulassen würde, dass ein Prophet gewaltsam umkommt. Um so schwieriger war es für die Anhänger Jesu, als Juden die Demütigung und Hinrichtung eines Messias zu akzeptieren.

Aber was wäre die Alternative gewesen? Wenn Jesus nach Jerusalem als Messias einzieht, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder muss er die Feinde Israels mit roher Gewalt vernichten oder sie müssen ihn mit roher Gewalt vernichten. Denn eine Besatzungsmacht wie Rom lässt sich nicht vorschreiben, wer in Palästina die Herrschaft übernimmt. Wenn Jesus aber Gewalt angewendet hätte, dann hätte er die Römer entweder ermorden müssen oder auf eine übernatürliche Weise ihre Gewaltfähigkeit ausschalten müssen.

Es hat z. B. in unserer Zeit Überlegungen gegeben, ob man nicht bei unverbesserlichen Gewaltverbrechern eine Art Gehirnoperation vornehmen könnte, bei der es darum geht, die Stellen im Gehirn auszuschalten, die für Gewaltanwendung zuständig sind. Hinterher hätte man einen Menschen, der nicht mehr dazu fähig wäre, etwas Aggressives zu tun. Auch wenn es möglich wäre, eine solche Operation durchzuführen, darf man so etwas tun? Darf man einen Menschen so reduzieren, dass er nicht mehr ein Mensch ist, weil er nicht mehr fähig ist, zwischen Gut und Böse zu entscheiden?

Es ist offensichtlich, dass Gott einen solchen Vorgang ablehnt. Gott mordet nicht. Denn wenn Gott so eingreifen würde, dass die Entscheidungsmöglichkeit zwischen Gut und Böse ausgeschaltet wäre, dann wäre das eine Art Mord an der Seele. Ein Mensch, der nicht mehr entscheiden kann, ob er Gutes oder Böses tut, ist nicht mehr ein Mensch, denn er hat seine Seele verloren.

Gott verzichtet auf tödliche Gewalt, denn es geht Gott um das Ganze. Vor einigen Jahren gab es eine politische Partei, die vor einer Wahl die Parole verkündete: „Es geht um das Ganze“. Das könnte auch die Parole Gottes sein: Es geht um das Ganze; es geht um die ganze Menschheit. Gott will mit jedem einzelnen Menschen eine Beziehung haben. Gott will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Wenn Gott tödliche Gewalt einsetzen würde, würde er einen Teil der Menschheit preisgeben, und das kann er nicht, weil er nicht will, dass ein einziger Mensch verloren geht. Jede einzelne Seele ist für Gott unermesslich kostbar.

Es gab eine christliche Jugendgruppe, die auf die Straße ging, ausgerüstet mit Kassettenrekordern. Sie gingen in die Stadtmitte und zum Bahnhof, um Straßenpassanten die Mikrophone ihrer Kassettenrekorder unter die Nase zu halten und zu fragen: „Wie stellen Sie sich Gott vor?“ Die meisten Passanten reagierten mit Verlegenheit und es gab viele Floskeln bei den Antworten. Aber ein Dreizehnjähriger wusste ganz genau, wie er sich Gott vorstellen sollte; er sagte: „Gott stelle ich mir als Person vor, und zwar als jemand, der es schafft, viereinhalbe Milliarden Menschen und noch mehr so lieb zu haben, als wären es seine Einzelkinder.“

Und weil es Gott um jede einzelne Person geht, musste Jesus auf tödliche Gewalt verzichten, als er nach Jerusalem heraufzog. Es war eine folgerichtige Notwendigkeit, dass Jesus misshandelt und getötet wurde.

Aber Jesus ist von den Toten auferstanden, und damit hat Gott seine Herrlichkeit offenbart. Er hat ein für allemal demonstriert, dass er mächtiger ist als alles, dass er die Zukunft in Ewigkeit bestimmen wird, und dass jeder Mensch die Beziehung zu ihm klären muss und klären wird – ob diesseits oder jenseits des Todes. Gott hat seine Allmacht demonstriert, allerdings auf eine unauffällige Weise, denn nur wenige waren direkte Zeugen des Auferstandenen. Gott könnte uns überwältigen mit seiner Herrlichkeit, aber das tut er nicht, denn er will unsere Entscheidungsfreiheit nicht ausschalten. Er weigert sich, eine einzige menschliche Seele zu töten.

Es gibt in diesem Zusammenhang eine Legende: vier Menschen durften die Unbegreiflichkeit Gottes schauen. Als sie in unsere Welt von Raum und Zeit zurückkehrten, waren sie verstört. „Der erste zitterte wie Espenlaub. Stumm stierte er gegen die Wand. Er verweigerte Speise und Trank. Sein Gesicht verfiel. Seine Augen erloschen.“ Der zweite warf sich zu Boden, weil sich alles in furchtbarer Gleichzeitigkeit auf ihn stürzte. Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Er verfiel dem Wahnsinn. Der dritte sprach: „Wir haben das Unermessliche gesehen. Was sind wir Anderes als ein Stück Sinnlosigkeit, vom großen Sinn abgesplittert? Was sind wir Anderes als ein Stück Vergänglichkeit, vom Ewigen abgebrochen? All unsre Gesetze sind nicht einmal eine halb Stufe aufwärts zum Göttlichen“. Er wurde zu einem maßlosen Sünder. Der vierte verdeckte sein verstörtes Gesicht mit seinen Händen und sagte: „Wehe uns. Wie tot sind wir, gemessen am Lebendigen! Wie eng sind wir, gemessen am Unendlichen! Wie töricht sind wir, gemessen an der ewigen Wahrheit! Aber Gottes Hand trägt uns.“ Er allein schaffte es, nicht zugrunde zu gehen. Diese Legende veranschaulicht, warum sich Gott verborgen hält. Er will, dass wir uns rein freiwillig für oder gegen ihn entscheiden.

'Abraham Lincoln', 1869, George P. A. Healy

Im 19. Jahrhundert gab es einen amerikanischen Präsidenten mit dem Namen Abraham Lincoln. Er gilt als einer der großen Staatsmänner seines Jahrhunderts, denn er schaffte die Sklaverei ab und hielt eine Nation während eines Bürgerkrieges zusammen. Aber gerade wegen dieser Sklavereiabschaffung und wegen des Bürgerkrieges hatte er viele Feinde. In einer Zeitung, die bis heute noch existiert und als niveauvoll gilt, wurde er folgendermaßen beschrieben: „Ein dreckiger Märchenerzähler, ein Tyrann, ein Lügner, ein Dieb, ein Aufgeblasener, ein Trottel, ein Ungeheuer, ein Gauner, ein Meineidiger, ein Räuber, ein Schwindler, ein Schlachter, ein Landpirat“. Aber Lincoln reagierte auf solche Angriffe mit Besonnenheit. Einmal hatte Lincoln einen Besucher, der ihm folgendes sagte: „Herr Präsident, ich kann Sie nicht verstehen. Sie behandeln ihre Feinde mit einer auffallenden Güte. Eigentlich müssten Sie diese Feinde vernichten wollen.“ Lincoln erwiderte: „Ich will tatsächlich meine Feinde vernichten, indem ich sie in Freunde verwandle.“ Und genauso ist Gott, er will seine Feinde vernichten, indem er sie in Freunde verwandelt. In dem 2. Buch Mose wird berichtet: „Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet.“ Damit wird die Bestimmung aller Menschen veranschaulicht. Wir Menschen sind dazu bestimmt, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen und Freundschaft mit ihm zu genießen.

Möge Gott uns helfen, diese Wahrheit zu bezeugen, indem wir inmitten einer aggressiven Welt gütig und geduldig bleiben, so wie Jesus Christus das vorgelebt hat.

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PSch


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