Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 18, 31 – 43 Begriffsstutzigkeit

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'Blindenheilung, Neufassung', 1979 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Blindenheilung, Neufassung', 1979
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Vorfastenzeit - Estomihi

Begriffsstutzigkeit Lukas 18, 31 – 43

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2007

Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war. Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott. Lukas 18, 31 – 43

Als dieses Gemeindehaus gebaut wurde, gab es viele Leute, die keine Ahnung hatten, wo sich das neue Gemeindezentrum befand. Die Menschen, die östlich der Darmstädter Landstraße wohnten, kannten das alte Gemeindehaus am Wendelsplatz, aber sie konnten den neuen Ort nicht einordnen. Ich erinnere mich an mehrere Gespräche, in denen ich versucht hatte, zu erklären, dass die Tucholskystraße westlich der Darmstädter Landstraße liegt und parallel dazu läuft, dass das Gemeindehaus südlich vom Südbahnhof ist – etwa in der Mitte zwischen dem Südbahnhof und Holiday Inn. Solche Erklärungen waren meistens vollkommen sinnlos, denn etwa ab diesem Zeitpunkt im Gespräch habe ich glasige Auge gesehen und dann kam unweigerlich die Frage: „Meinen Sie die Kirche oben am Südfriedhof?“

'Gemeindezentrum Süd, PSch'

Diese kleine Begebenheit zeigt, dass wir Menschen nicht nur mit unseren Ohren allein hören, sondern auch mit dem Geist. Personen, die nie westlich der Darmstädter Landstraße, südlich des Südbahnhofs oder nördlich vom Holiday Inn waren, konnten sich überhaupt nicht vorstellen, wo die Tucholskystraße sich befindet. Es war, als ob man beschreiben wollte, wie man vom Wendelsplatz nach Nairobi kommt. Es ist auch etwas typisch Menschliches, dass eine Person – wenn sie mit etwas vollkommen Neuem konfrontiert wird – zunächst an das Bekannte denkt. Deswegen kam immer wieder die Frage: „Meinen Sie die Kirche oben am Südfriedhof?“ – gemeint war St. Wendel oder die Bergkirche. Denn was ein Mensch hört und mit dem geistigen Auge sieht, hängt davon ab, was ihm bekannt ist.

Dieses Phänomen kommt auch in dem Lukastext vor, der für heute vorgesehen ist. Jesus hatte seinen Jüngern zum dritten Mal klar und deutlich gesagt, was ihm bevorsteht: Auslieferung an die Römer, Misshandlung, Erniedrigung, Geißelung, Tötung, und drei Tage danach eine Auferstehung von den Toten. Diese Worte sind eindeutig. Aber die Jünger konnten sie nicht einordnen. Es heißt:

Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

Lukas wiederholt sich hier, denn dreimal sagt er dasselbe: dass die Jünger absolut nicht begreifen konnten, was sie gerade gehört hatten. Und es ist dasselbe Problem, wie bei der Tucholskystraße. Die Jünger konnten Jesus nicht verstehen, weil sie nicht einordnen konnten, was sie gehört hatten. Es war etwas völlig Neues.

In diesem Zusammenhang muss man bedenken, dass die Anhänger Jesu damals im Judentum verankert waren. Das Judentum wartet bis heute auf einen Messias, der die Welt auf eine sichtbare Weise verändert. Nach jüdischer Erwartung setzt sich ein Messias erfolgreich durch: er verwirklicht Frieden und Gerechtigkeit, so dass jeder Bewohner dieser Erde es sehen kann. Der Messias bringt die Wüste zum Blühen, er vernichtet die Feinde Israels, so dass Israel dauerhaft in Ruhe und Sicherheit leben kann. Ein Messias aber, der am Kreuz scheitert, passt überhaupt nicht in dieses Konzept. Ein Messias, der sich erniedrigen und töten lässt, ist per Definition kein Messias – auch wenn er von den Toten aufersteht. Pinchas Lapide, ein jüdischer Religionswissenschaftler, war überzeugt, dass Jesus von den Toten auferstanden ist, aber er war trotzdem nicht bereit, Jesus als Messias anzuerkennen.

In diesem Zusammenhang könnte man auch an die Jesusbücher denken, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Im 19. Jahrhundert entstand die sogenannte kritisch-historische Bibelforschung. Es wurde ernsthaft diskutiert, ob Jesus überhaupt gelebt hatte, denn die Historiker waren nicht überzeugt, dass es ausreichende Belege für die Existenz Jesu gegeben hatte. Aber heute gibt es unter kritischen Historikern keinen Zweifel, dass Jesus wirklich gelebt hat. Und das Argument dieser Wissenschaftler lautet: wenn Jesus erfunden wäre, wäre er niemals am Kreuz gestorben. Denn ein Messias, der am Kreuz stirbt, passte überhaupt nicht in die Erwartungswelt des Judentums, und auch nicht in die Vorstellungswelt des Heidentums. Wenn Jesus eine erfundene Person wäre, würde sein Schicksal anders ausgesehen haben.
Hier sehen wir noch einmal, warum es den Jüngern so schwer fiel, Jesus zu begreifen, als er seinen bevorstehenden Leidensweg voraussagte.

Und es gibt eine entsprechende Begriffsstutzigkeit heute. Jeder Mensch hat eine Vorstellung, wie Gott zu sein hat. Gott müsste eigentlich – nach gängiger Denkweise – unschuldiges Leiden ohne Zögerung abschaffen und alle Bösewichte sofort zur Rechenschaft ziehen, wie ein allmächtiger Polizist. Es dürfte nie vorkommen, dass ein Mensch eine unzumutbare Katastrophe über sich ergehen lassen müsste, wenn Gott seine Funktion als Gott erfüllen würde – so die übliche Vorstellung.

'Gregory of Nazianzus (russian icon)'
, XVI c.

Aber anstatt dass Gott überall eingreift und uns das Leben angenehm gestaltet, tut er meistens so, als ob er ohnmächtig wäre. Aber er geht einen Schritt weiter; nämlich er fühlt mit uns, er fühlt unsere Freuden und Schmerzen mit. Der Leidensweg Jesu sollte offenbaren, dass Gott aus eigener Erfahrung unsere Schmerzen, Gebrechlichkeiten und Krankheiten kennt.
Aber was haben wir davon, dass Gott mit uns fühlt und unsere Schmerzen kennt? Ist diese Art Gott für uns nützlich?

Die deutlichste Antwort auf diese Frage lieferte ein Erzbischof von Konstantinopel im 4. Jahrhundert, Gregor von Nazianz. Dieser Kirchenvater verkündete, dass Gott in Jesus das gesamte Menschsein – Leib, Geist und Seele – annahm und annehmen musste. Und die Begründung lautete: „Denn was er nicht annahm, hat er auch nicht geheilt.“ Das heißt: Gott kann nur für uns Gott sein, wenn er an jeder Einzelheit unseres Lebens teilnimmt. Denn nur so kann er die Kluft überbrücken, die zwischen ihm und uns besteht. Wenn Gott nicht an unseren Schmerzen teilnimmt, kann er uns von unseren Schmerzen nicht erlösen.
Wie der Theologe Helmut Thielicke bezeugte: Wenn Gott nicht dabei ist in den Tausenden von Einzelheiten, die mein Leben ausmachen, dann kann er nicht für mich Gott sein. Dietrich Bonhoeffer bezeugte dieselbe Wahrheit, als er in seiner Todeszelle saß und schrieb: „Nur der leidende Gott kann helfen“.
Die Vorstellung, dass Gott mit seinem Volk leidet, hängt mit dem Begriff Liebe zusammen. Abraham Heschel - ein jüdischer Theologe polnischer Herkunft - bezeugte, dass der Inbegriff des prophetischen Glaubens ist, dass Gott seinen Liebesbund mit seinem Volk so ernst nimmt, dass er wegen der Handlungen seines Volkes in Mitleidenschaft gezogen wird. Wegen seiner Liebe zu seinem Volk ist Gott ausgeliefert. Zum Beispiel: als das Volk Israel in das babylonischen Exil deportiert wurde, wurde Gott mit seinem Volk verschleppt und erlitt die Trauer seines Volkes. Diese Fähigkeit, in der Liebe so verwundbar zu sein, dass auch das schuldhafte Schicksal geteilt wird, definiert, wer Gott ist.

Gott ist die Liebe – verkündet die Bibel. Liebe – wenn sie authentisch ist - macht den Liebenden verwundbar.

Es wird von Skeptikern behauptet, dass Gott nicht wirklich existiert, sondern nur ein Phantasieprodukt ist. Aber ein verwundbarer Gott kann nicht ein Produkt menschlichen Wunschdenkens sein, genauso wie ein gekreuzigter Christus nicht aus einem Wunschdenken heraus entsteht. Wenn Menschen sich einen Gott ausdenken, dann nicht einen Gott, der ohnmächtig mitleidet. Aber es ist der verwundbare Gott, den wir brauchen, denn nur mit einem verwundbaren Gott können wir Gemeinschaft haben. Und Gemeinschaft mit Gott ist das Einzige, worauf ein Mensch absolut nicht verzichten kann. Davon hängt alles ab. Davon hängt unser ewiges Leben ab.

'Kreuzaufnahme', 1980 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Kreuzaufnahme', 1980
Walter Habdank. © Galerie Habdank

In Russland gab es ein Ehepaar, das ein Kind im Säuglingsalter hatte, das unheilbar krank war; die Ärzte konnten nichts mehr machen. In ihrer Verzweiflung suchten die Eltern einen Pfarrer auf, der für ihr Kind beten sollte. Trotz des Gebetes starb das Kind in den Armen des Geistlichen. Was die Eltern dazu sagten, zeigt genau, was biblischer Glaube ist. Sie sagten: „Es ist besser, innerhalb eines Sturmes mit Jesus zu sein, als innerhalb eines Sturmes ohne Jesus zu sein.“ Mit anderen Worten: innerhalb der Krisen und Katastrophen des Lebens kommt es allein darauf an, dass der lebendige Gott mit einem ist, auch wenn er - wie Jesus im Sturm - scheinbar schläft; allein darauf kommt es an.

Denn zuletzt ist Gott nicht ohnmächtig. Deswegen steht die Heilung des Blinden in dem Lukasevangelium unmittelbar nach der dritten Leidensankündigung Jesu. Jesus wird zwar ohnmächtig in den Tod gehen, aber er ist nicht wirklich ohnmächtig. Denn die Heilung des Blinden demonstrierte seine göttliche Allmacht. Aber Gottes Allmacht ist für uns Menschen völlig irrelevant, wenn Gott nicht mit uns ist mit seiner verletzbaren Liebe in allem, was wir erleben und erleiden. Deswegen musste Jesus zum Kreuz gehen, damit wir wissen, dass Gott mit uns ist in allem. Wie ein anglikanischer Bischof sagte: „Der gekreuzigte Jesus ist das einzige exakte Bild von Gott, das die Welt jemals gesehen hat.“ Denn das Kreuz Jesu ist für uns Christen die entscheidende Offenbarung Gottes.

Möge Gott uns helfen, den Kreuzesweg Jesu zu begreifen, als ein Ereignis, das Gott ein für allemal definiert hat, damit wir Gemeinschaft mit Gott finden und bewahren, egal was vorkommen mag.

Das Glasfenster 'Bearing of the Cross. Stained glass, Paris, ca. 1500', wurde von seinem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Die russiche Ikine 'Gregory of Nazianzus', XVI c., ist im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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