Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Markus 8, 31 – 38 Die Ausstrahlungskraft des Kreuzes

« Predigten Home

Vorfastenzeit - Estomihi

Die Ausstrahlungskraft des Kreuzes Markus 8, 31 – 38

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.
Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?
Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln. Markus 8, 31 – 38

Im Juni letzten Jahres wurde ein neuer Sitzungssaal in Dietzenbach eingeweiht. Dabei wurde ein Kreuz an der Rückwand dieses Saals aufgehängt. Bei der ersten Kreistagssitzung im September protestierten 6 Abgeordnete gegen die Anwesenheit dieses Kreuzes, weil ein Kreuz ein christliches Symbol ist, das die religiösen Gefühle von Andersgläubigen oder Nichtgläubigen verletzen könnte. Und staatliche Einrichtungen sind zu religiöser Neutralität verpflichtet, wurde argumentiert. Die Sprecherin dieser 6 Abgeordneten forderte eine Abstimmung, ob das Kreuz entfernt werden sollte, um die Neutralität des Raumes wiederherzustellen. Der Kreistagsvorsitzende lehnte diesen Abstimmungsantrag ab und die 6 Abgeordneten verließen den Saal vor Eintritt in die Tagesordnung.

Diese Angelegenheit kam vor den Hessischen Verwaltungsgerichtshof, der Mitte Februar entschied, dass das Kreuz vor Kreistagssitzungen entfernt werden muss. Dieser Streit um das Kreuz in Dietzenbach wurde als „sehr emotional geführte Auseinandersetzung“ bezeichnet.

Diese Auseinandersetzung zeigt, dass das Kreuz als Symbol eine große Ausstrahlungskraft hat. Denn obwohl das Kreuz an der Rückwand hing, wo es für fast alle Anwesenden nicht im Blick war, war es für 6 Abgeordnete unerträglich, während einer Kreistagssitzung in demselben Raum zu sein mit diesem Kreuz.

'An old cross in the parish church in Selca, Slovenia', 2008, Mitja Leskovar

Dass ein Kreuz eine starke emotionale Auswirkung haben kann, ist alles andere als einmalig. Überall auf der Welt kann man Beispiele finden für die emotionale Wirkung des Kreuzes. In Polen z. B. gab es Anfang der 80er Jahre eine heftige Auseinandersetzung um das Kreuz. Das kommunistische Regime hatte angeordnet, dass alle Kruzifixe, die in Schulen, Fabriken, Krankenhäusern und öffentlichen Einrichtungen vorkamen, entfernt werden mussten. Der öffentliche Protest war so energisch, dass das Regime es nicht wagte, diese Verordnung durchzusetzen. Aber in der Stadt Garwolin ordnete ein eifriger Schulamtverwalter an, dass 7 Kruzifixe aus den Vortragssälen entfernt werden sollten. Daraufhin kamen Eltern in die Schule und ersetzten die Kreuze. Der Verwalter ließ auch diese Kreuze entfernen. Am nächsten Tag veranstalteten 2/3 der Schüler einen Sitzstreik. Die Schüler wurden von der Polizei gewaltsam entfernt. Die Schüler marschierten mit Kreuzen in ihren Händen zu einer Kirche für ein Morgengebet. 2500 Schüler von anderen Schulen kamen dazu, um den Protest zu unterstützen. Diese Vorgänge veranschaulichen, wie viel Ausstrahlungskraft das Kreuz haben kann.

Die Ausstrahlungskraft des Kreuzes wurde auch in Jerusalem vorgeführt. Es gab dort vor 8 Jahren eine armenisch-christliche Prozession, die zur Grabeskirche zog, bei der ein Kreuz getragen wurde. Ein orthodoxer Jude mit dem Namen Mosche Arenfeld spuckte auf den Boden vor den Kreuzträger, um seine Verachtung für dieses Symbol zu zeigen. Dieser orthodoxe Jude wurde von einem israelischen Gericht in Jerusalem verurteilt, weil er den religiösen Frieden verletzt hatte; er wurde zu zwei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt und er musste eine Geldstrafe bezahlen. Die Ausstrahlungskraft des Kreuzes ist also so schwerwiegend, dass sogar ein israelisches Gericht nicht zulässt, dass ein Kreuzträger beleidigt wird.

Die Ausstrahlungskraft des Kreuzes haben auch Modemacher entdeckt. Vor einigen Jahren gab es einen Zeitungsartikel über die Vermarktung des Kreuzes. Das Kreuz wurde als „Verkaufshit“ bezeichnet. Es hieß: „Nach dem Willen der Modemacher soll das Kreuz in der Frühjahrskollektion als schicke Neuerung feilgeboten werden und das Uhren- und Schmuckgeschäft beleben....Ob in Jeans oder im eleganten Abendkleid, zum neuen „Outfit“ dürfte das Kreuz nicht fehlen.“ Hier wird das Kreuz verniedlicht. Kann es sein, dass diese Verniedlichung des Kreuzes auch ein indirekter Protest gegen das Kreuz ist?

Mit anderen Worten: überall, wo man hinschaut, ist festzustellen, dass das Kreuz alles andere als ein harmloses Symbol ist. Das Kreuz hat eine Wirkung auf die menschliche Seele, die manchmal verblüffend ist. Die bloße Anwesenheit eines Kreuzes in einem staatlichen Raum genügt, um Proteste auszulösen, um Gerichtsverhandlungen in Gang zu bringen. Warum hat das Kreuz eine so starke Ausstrahlungskraft?

Um diese Frage zu beantworten, kann es eine Hilfe sein, den Markustext zu betrachten, der für heute vorgesehen ist. In diesem Text verkündet Jesus, dass er in Jerusalem umgebracht wird. Und Petrus, der gerade festgestellt hatte, dass Jesus der Messias ist, kann das nicht akzeptieren. Denn ein Messias, der gewaltsam umgebracht wird, ist kein Messias – nach den bisherigen Vorstellungen. Ein Messias muss die Feinde Israels besiegen, und das geht nur mit roher Gewalt. Ein Messias muss sich durchsetzen, sonst ist er kein Messias.

Und heute denken die Menschen genauso wie Petrus. Es wird von Gott erwartet, dass er das Böse verhindern müsste. Er müsste eigentlich eingreifen – notfalls mit Gewalt – damit Mord, Folter und Krieg nicht vorkommen.

Anstatt dessen offenbart sich Gott in einem gekreuzigten Messias, ein Symbol der Ohnmacht und ein Symbol der Niederlage. Das Kreuz ist ein Symbol, dass Gott das Böse nicht angreift, sondern das Böse zunächst erleidet. Und das passt uns nicht. Deswegen schrieb Paulus, dass das Kreuz eine Torheit und ein Ärgernis ist. Das Kreuz ist ein Symbol dafür, dass Gott ganz anders ist, als wir ihn haben wollen. Denn unsere Gesellschaft ist erfolgsorientiert; das Kreuz ist ein Symbol des Misserfolgs.

Das Kreuz ist aber auch eine Offenbarung, wie pervers wir Menschen sind. Denn Gott wurde Mensch, wohnte unter uns, offenbarte seine sanfte Liebe und was war das Ergebnis? Er wurde nicht nur umgebracht, sondern auf eine Art und Weise, die unvorstellbar grausam und abartig ist. Das Kreuz ist ein Symbol dafür, dass der Mensch die Nähe Gottes nicht verkraftet. Wenn Gott in der Nähe ist, dann müssen Menschen sich entweder grundlegend ändern oder sie müssen Gott aus der Welt schaffen, notfalls mit Gerichtsverhandlungen und mit roher Gewalt. Dass es Menschen gibt, die es scheinbar nicht ertragen, in demselben Raum zu sein mit einem Kreuz, entspricht der menschlichen Sündhaftigkeit, welche die Nähe Gottes nicht erträgt.

Das Kreuz ist ein Symbol für die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen. Und in diesem Zusammenhang gibt es ein abstoßendes Wort: das Wort Sünde. Etwas, was wir Menschen nicht akzeptieren können, ist, wie tiefgründig unsere Sündhaftigkeit ist. Das können wir einfach nicht glauben. Und deshalb brauchen wie die Bibel, die uns diese Wahrheit mit aller Deutlichkeit sagt. In dem 1. Buch der Bibel wird festgestellt: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“. In dem Römerbrief werden wir Menschen folgendermaßen beschrieben: „Sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.... Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte."

Wir Menschen bilden uns ein, dass wir mehr oder weniger gut und anständig sind, weil wir gebildet und zivilisiert sind, weil wir Anstand und Höflichkeit gelernt haben, weil wir unser Bestes tun. Die meisten Menschen glauben nicht, dass sie einen Erlöser brauchen. Deswegen fällt es den meisten Menschen so leicht, auf Kirche und Gottesdienst zu verzichten. Aber Jesus hat eindeutig festgestellt: „Niemand ist gut als Gott allein.“ Und das bedeutet: so wie wir sind, können wir vor Gott in Ewigkeit nicht bestehen.

'J. Robert Oppenheimer', 1944

J. Robert Oppenheimer, ein Atomphysiker, der als „Vater der Atombombe“ bezeichnet wurde, sagte einmal: „Wenn wir das Böse leugnen, das in uns ist, dann machen wir uns selbst unmenschlich und verlieren nicht nur unsere Bestimmung, sondern auch die Möglichkeit, mit dem Bösen in anderen umzugehen.“ Dementsprechend gab es eine Aussage von G. K. Chesterton, dem Autor der beliebten Pater Brown Kriminalgeschichten. Eine Zeitung veröffentliche einen Artikel mit der Überschrift: „Was stimmt nicht mit der Welt?“ Chesterton schrieb einen Leserbrief zu diesem Artikel, und dieser Brief bestand aus einem Wort, mit dem er die Frage des Artikels beantworten wollte. Was stimmt nicht mit der Welt? Die Antwort Chestertons lautete: Ich bin’s. Die Welt stimmt nicht, weil ich nicht stimme. Wir machen gern die Politiker und Regierungschefs für alles Elend dieser Welt verantwortlich, aber alles, was in der Welt an Boshaftigkeit zu sehen ist, entspringt aus unseren Herzen. Man kann keine Trennung vollziehen zwischen guten und bösen Menschen, denn alle sind Sünder, d. h. es gibt in jedem Herzen eine Verkehrtheit, die wir Menschen aus eigener Kraft nicht ändern können.

Das Kreuz ist ein Symbol für unsere Verkehrtheit und unsere Erlösungsbedürftigkeit. Gott kommt in die Welt als Mensch und lässt sich kreuzigen, denn die Alternative wäre, dass er in die Welt kommt und alle umbringt: die Offenbarung seiner Herrlichkeit würde genügen, um alle Menschen zu vernichten. Aber er will Gemeinschaft mit uns herstellen, und das geht über das Kreuz.

Wenn wir also aufgefordert werden, das Kreuz täglich auf uns zu nehmen, dann heißt das konkret: wir sollen annehmen, dass wir Sünder sind, die auf eine Erlösung angewiesen sind, die von außerhalb der eigenen Person kommt und die wir uns nur als Geschenk der Gnade aneignen können. Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren. D. h. wer sich einredet, dass sein Leben gut genug ist, der lebt mit einer Illusion, die irgendwann kläglich zusammenbrechen muss. Wer sein Leben verliert, d.h. wer seine jetzige Identität als Sünder aufgeben will, und in Gott eine neue Identität finden will, der kann einen Zugang zu dem wahren, ewigen Leben finden, das Jesus verkörpert.

Es wird von einem Mann berichtet, der einen Therapeuten aufsuchte und sagte: „Ich spüre, dass mein Leben in die falsche Richtung geht und ich habe deshalb Schuldgefühle.“ Der Therapeut sagte: „Also möchten Sie ihr Leben in eine neue Richtung lenken.“ Der Mann erwiderte: „Nein. Ich will die Schuldgefühle abbauen.“ Diese Anekdote veranschaulicht, wie wir Menschen sind. Sünde bedeutet buchstäblich, dass das Leben in eine verkehrte Richtung läuft und dass ein Richtungswechsel notwendig ist, eine Umkehr; aber die menschliche Natur sträubt sich dagegen.

Möge Gott uns also helfen, dass wir täglich einen Richtungswechsel vornehmen, indem wir unsere Erlösungsbedürftigkeit anerkennen und die Gnade annehmen, die nur für Sünder zugänglich ist. Möge Gott uns helfen, dass wir täglich seine Nähe suchen: z. B. durch Bibellesen und durch Gebet, damit wir täglich die richtige Richtung einschlagen.

Die Abbildung 'An old cross in the parish church in Selca, Slovenia', 2008, Mitja Leskovar, wurde von mir, ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Die Photographie 'J. Robert Oppenheimer', 1944, ist eine Arbeit des United States Department of Energy (oder predecessor organization), die ein Angestellter während der Ausübung seiner offiziellen Tätigkeiten angefertigt hat. Als eine Arbeit des U.S. federal government, ist das Bild im public domain.

^ Zum Seitenanfang

PSch