Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Kor. 9, 24 – 27 Jesus in Sing Sing

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'Sing Sing Prison', 1938, Stieglitz, C. M

Vorfastenzeit - Septuagesimae

Jesus in Sing Sing 1. Kor. 9, 24 – 27

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2004

Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden - obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden - obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben. Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen.
Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde. 1. Kor. 9, 24 – 27

Es gibt im Bundesstaat New York ein Gefängnis mit dem Namen Sing Sing. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts war dieses Gefängnis berüchtigt, weil hier harte Kriminelle unter unerbittlichen Bedingungen untergebracht waren. Im Jahre 1921 kam ein neuer Oberaufseher mit dem Namen Lewis Lawes. Er hatte eine junge Frau, Catherine, und drei kleine Kinder. Die Frau wurde gewarnt, dass sie sich niemals in das Innere des Gefängnisses begeben sollte, weil es unberechenbar wäre, wie diese knallharten Häftlinge reagieren würden, wenn die Frau des Wärters unter ihnen wäre. Aber sie hat diese Warnung nicht ernst genommen. Als es zum ersten Mal ein Basketballspiel unter den Insassen gab, ging sie mit ihren drei kleinen Kindern zu dem Innenhof des Gefängnisses und die vier saßen seelenruhig auf den Sitzplätzen unter den Kriminellen. Und es passierte nichts. Diese Frau des Oberaufsehers bestand darauf, die Häftlinge persönlich kennenzulernen. Sie besuchte die Gefangenen und lernte einen verurteilten Mörder kennen, der blind war. Sie fasste ihn an der Hand und fragte ihn, ob er Blindenschrift lesen könnte. Er wusste nicht, was das ist. Daraufhin hat sie ihn unterrichtet, wie man Blindenschrift mit der Hand liest. Später entdeckte sie einen taubstummen Häftling. Daraufhin lernte sie Zeichensprache, damit sie mit ihm kommunizieren könnte. Im Laufe der Zeit gab es Stimmen im Gefängnis, die behaupteten: diese Frau wäre die Gegenwart Jesu Christi in Sing Sing.

Aber im Jahre 1937, nachdem diese Frau 16 Jahre im Gefängnis gewirkt hatte, wurde sie bei einem Autounfall tödlich verletzt. Am nächsten Tag wurde der Sarg in ihrer Wohnung aufgebahrt, etwa 1 Kilometer von dem Gefängnis entfernt. Als der stellvertretende Oberaufseher in den Innenhof des Gefängnis schaute, sah er, wie die Gefangenen vor dem Haupteingang standen und weinten. Dann tat er etwas Erstaunliches. Er sagte zu den Gefangenen: „Also gut, Männer, ihr könnt gehen und Abschied nehmen von der Frau. Aber bis heute Abend seid ihr wieder da!“ Er öffnete das Tor und die Gefangenen gingen ohne Bewachung zu dem Haus des Wärters, um Abschied zu nehmen von der Verstorbenen. Und jeder Häftling kam zurück. Kein Einziger hat gefehlt.

Diese Begebenheit veranschaulicht, was das Wort „Freiheit“ bedeutet. Die größte Freiheit, die es gibt, ist die Freiheit, sich freiwillig zu einem Diener der selbstlosen Liebe zu machen. In dem Text aus dem 1. Korintherbrief, den wir vorhin gehört haben beschreibt Paulus diese Freiheit:

Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden - obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden - obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.

Diese Worte sind etwas trügerisch, denn die Übersetzung gibt den Sinn der Worte nicht wieder. Es wirkt so, als ob Paulus überall eine Rolle spielte, dass er überall etwas vormachte. Aber was wirklich gemeint ist, ist, dass Paulus sich in die Lage anderer Menschen versetzt hat. Es handelt sich um einen ganz einfachen Vorgang: er hat versucht, die Menschen zu verstehen und anzunehmen, so wie sie sind, damit eine Verbindung entsteht. Er hat versucht, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Diese Frau des Gefängniswärters hat diesen Vorgang vorgemacht. Mit Paulus hätte sie sagen können: Den Gefangenen bin ich ein Gefangener geworden. Denn sie war eine freie Frau, aber sie begab sich freiwillig unter Gefangene und diente ihnen. Sie wurde eine freiwillige Dienerin der selbstlosen Liebe. Wie Paulus sagte: „Obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne“.

Und warum hat er das getan? Die Antwort lautet: „Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.“ Das Evangelium ist eine gute Nachricht und eine befreiende Kraft. Er wollte diese gute Nachricht und diese befreiende Kraft nicht für sich selbst behalten, sondern mit anderen teilen, denn dadurch erlebte er erneut die Freude, die von dem Evangelium ausgeht. Es ist eine Freude, die Gnade zu bezeugen, die man empfangen hat, indem man anderen Menschen freiwillig und selbstlos dient.

Und in diesem Zusammenhang macht er einen Vergleich. Er vergleicht das Christsein mit Leistungssport. Paulus war offenbar sportbegeistert, und konnte deshalb Parallelen sehen zwischen Leistungssport und Christsein. Gestern stand in einer Zeitung ein Bericht über das Fußballwochenende. Da konnte man lesen, dass auch die Fußballspieler von Bayer Leverkusen ein „Seelenleben“ haben. Offenbar haben die Spieler dieser Mannschaft ein Problem mit Motivation und Konzentration. Deshalb hat der Trainer in einem Interview gesagt, dass er mit jedem Spieler eine „partnerschaftliche Besprechung“ unternehmen wird, um „jedem einzelnen Spieler zu sagen, worum es im Beruf Profifußball geht.“ Offenbar wissen die Spieler nicht, worum es geht. Und es geht uns Christen manchmal genau so. Denn wissen wir, worum es geht? Es ist sehr leicht, orientierungslos zu werden, und dadurch die Motivation und Konzentration zu verlieren. Deshalb redet Paulus von dem Ziel, das er wie ein Leistungssportler vor seinem geistigen Auge hält, damit er nicht schlapp wird. Das Ziel beschreibt er als einen unvergänglichen Siegeskranz. Das Ziel ist die Unvergänglichkeit, die ewige Geborgenheit in Gott. Und wer dieses Ziel vor Augen hat, besitzt die größte Freiheit, die es gibt: die Freiheit, Gott und den Menschen freiwillig zu dienen, damit möglichst viele Menschen schon jetzt zu diesem unvergänglichen Leben in Gott gehören können. Wenn ein Mensch ein klares Ziel vor Augen hat, dann lebt er ganz anders als Menschen, die nicht wissen, wohin sie eigentlich gehen.

'Frankfurt International Airport', 2007, Marek Ślusarczyk (Tupungato)

Es gibt einen Mann, der an einem Flughafen die wartenden Passagiere beobachtet hatte und etwas dabei feststellte. Er schrieb folgendes: „Es fällt auf, dass man die wartenden Passagiere in zwei Kategorien einteilen kann: diejenigen, die eine feste Buchung haben, und diejenigen, die standby fliegen. Die Fahrgäste, die fest gebucht sind, sind entspannt: sie lesen Zeitungen, unterhalten sich, sind ruhig oder schlafen. Die Fahrgäste, die auf gut Glück reisen, sind auffallend nervös: sie kreisen herum in der Nähe der Ticket-Schalter, sie kommen nicht zur Ruhe, sondern laufen ziellos herum und rauchen.“ Und dieser Beobachter sah in diesem Unterschied ein Gleichnis: wenn ein Mensch mit Zuversicht weiß, wo seine Lebensreise endet, ist er frei und gelassen. Wenn ein Mensch weiß, dass er zu der ewigen Herrlichkeit Gottes gehört, dann strahlt er eine große Freiheit aus – und diese Freiheit kommt zum Ausdruck durch freiwillige Dienste der selbstlosen Liebe. Aber wenn ein Mensch nicht weiß, was ihm zuletzt bevorsteht, dann wird man das an seinem Lebensstil merken: man wird nervöse Hektik, Unruhe, Orientierungslosigkeit und eine enge Ichbezogenheit feststellen.

'Legend of St Francis, Sermon to the Birds', 1266–1337, Giotto di Bondone

In diesem Zusammenhang gibt es eine Begebenheit aus dem Leben von Franz von Assisi.
Eines Tages wollte Franz in die Stadt gehen und predigen; er lud einen jungen Mönch dazu ein, ihn an diesem Tag zu begleiten. Der junge Mönch war geehrt und ging gerne mit. Aber er wurde bald etwas verwirrt. Denn während des Tages gingen die Beiden durch die Straßen und Gassen. Sie begegneten Hunderten von Menschen. Aber Franz redete kein Wort. Am Ende des Tages gingen sie nach Hause, aber nicht ein einziges Mal hatte Franz irgendjemanden angesprochen oder eine Predigt gehalten. Der junge Mönch war enttäuscht und fragte: „Ich dachte, dass wir in die Stadt gegangen sind, um zu predigen?“ Franz erwiderte: „Mein Sohn, wir haben gepredigt. Während wir unterwegs waren, haben wir gepredigt. Wir wurden gesehen und unser Verhalten wurde genau beobachtet. Es hat keinen Zweck, überall herumzugehen und zu predigen, wenn wir nicht überall predigen, während wir herumgehen.“

Es ist unsere Aufgabe, die große Freiheit zu predigen, die uns gegeben ist, weil wir wissen, zu wem wir in Ewigkeit gehören. Und diese Predigt besteht zunächst aus dem, was ein Beobachter feststellen kann. Und was ein Beobachter an Christen feststellen kann, hat Paulus mit dem Satz zusammengefasst:
Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne.

Die Photographie 'Sing Sing Prison', 1938, Stieglitz, C. M, is a work for hire created prior to 1968 by a staff photographer at New York World-Telegram & Sun. It is part of a collection donated to the Library of Congress. Per the deed of gift, New York World-Telegram & Sun dedicated to the public all rights it held for the photographs in this collection upon its donation to the Library. Thus, there are no known restrictions on the usage of this photograph.
Die Photographie 'Frankfurt International Airport', 2007, Marek Ślusarczyk (Tupungato), ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 2.5 Generic license.
Das Bild 'Legend of St Francis, Sermon to the Birds', 1266–1337, Giotto di Bondone, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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