Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Offenbarung 2, 8 – 11 Zuletzt gibt es keine Abgrenzungen mehr

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'Himmlisches Jerusalem', PSch

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr

Zuletzt gibt es keine Abgrenzungen mehr Offenbarung 2, 8 – 11

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2000

Und dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut - du bist aber reich - und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind's nicht, sondern sind die Synagoge des Satans. Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem zweiten Tode. Offenbarung 2, 8 – 11

Es gab einen Mann, der in der Zeit vor Weihnachten zusätzliches Geld brauchte und er suchte eine Nebenbeschäftigung. Er fand eine Stelle bei einer Firma, die über Telefon versucht, ihre Waren zu verkaufen. Er bekam einen Text, den er auswendig lernen sollte. Nach diesem Text sollte er die Kunden mit den Worten begrüßen: „Ich gratuliere Ihnen, Sie haben gerade einen Schinken gewonnen ...“ Nach diesem Einstieg sollte er dann versuchen, den Kunden dazu zu bringen, etwas zu bestellen. Er bekam eine Liste von potentiellen Kunden und vier Stunden lang begrüßte er die Personen auf dieser Kundenliste mit der erfreulichen Mitteilung, dass sie gerade einen Schinken gewonnen hatten. Aber alle Personen, die er anrief, hängten den Telefonhörer sofort auf, ehe er weiter reden konnte. Er dachte, dass er irgendetwas falsch machte, denn rechts und links von ihm saßen Mitarbeiter, die dabei waren, Bestellungen aufzuschreiben, und er hatte nach 4 Stunden keine einzige. Als ein Vorgesetzter vorbeikam, fragte er ihn, was er falsch macht. Der Vorgesetzter schaute seine Kundenliste an und sagte: „Ich glaube, Sie hätten diese Liste näher untersuchen sollen; alle Personen auf dieser Liste sind Juden.“

Diese Begebenheit veranschaulicht, dass wir in einem Zeitalter des religiösen Analphabetismus leben. Deswegen kann es vorkommen, dass ein Mensch vier Stunden lang jüdische Personen anruft, ohne jüdische Namen zu erkennen. Es ist sogar möglich, dass es Menschen gibt, die nicht wissen, dass Juden keinen Schinken essen dürfen. Ich habe die Erfahrung gemacht: wenn eine ganze Schulklasse gefragt wird, was sie vom Judentum weißt, kann sie keinen einzigen Anhaltspunkt nennen.

Es kann deshalb hilfreich sein, eine kleine Zeitreise zu machen – zurück zu der Geburtsstunde des Christentums. Am Anfang – unmittelbar nach der Auferstehung Christi – war die Jesusgemeinde eine rein jüdische Glaubensgemeinschaft. Die Anhänger Jesu verstanden sich als Juden, die den Messias gefunden hatten. Sie hielten die 613 Gebote der Torah ein, sie heiligten den Sabbat und feierten die jüdischen Feste. Der Tempel in Jerusalem war nach wie vor der Brennpunkt ihres Glaubens. Die Heilige Schrift der Jesusgemeinde war identisch mit der heiligen Schrift der Juden – die hebräische Bibel, die wir heute Altes Testament nennen. Aber ein erster Bruch zwischen Juden und Jesusanhängern kam, als die Anhänger Jesu den Gott der hebräischen Bibel mit Jesus identifizierten. In dem Text aus der Offenbarung, der für heute vorgesehen ist, heißt es: „der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden.“ Der Ausdruck „der Erste und der Letzte“ war in der hebräischen Bibel allein auf Gott bezogen. Und jetzt wurde der auferstandene Jesus, der tot war und lebendig geworden ist, mit Gott identifiziert. Dieser Glaubensinhalt war für Juden eine Gotteslästerung.

Eine zweite Entfremdung entstand, als die Jesusgemeinde Heiden als vollwertige Mitglieder aufnahm, ohne die Beschneidung zu verlangen und ohne zu verlangen, dass sie die 613 Gebote der Torah einhielten. Es wäre etwas Vergleichbares, wenn eine christliche Gemeinde heute Muslime als vollwertige Mitglieder aufnehmen würde, ohne die Taufe zu verlangen und ohne Abendmahlsbeteiligung zu erwarten. Alle christlichen Gemeinden würden sich von einer solchen Gemeinde abgrenzen – und mit Recht. Die Kluft zwischen Juden und Christen wurde also tiefer.

Aber es war die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70, die eine endgültige Spaltung zwischen Juden und Christen bewirkte. Denn als die Stadt von den Römern bedroht und belagert wurde, zogen die Juden, die außerhalb wohnten, in die Stadt hinein. Aber gleichzeitig zogen die Jesusanhänger in die umgekehrte Richtung - aus der Stadt heraus. Denn für sie war der Tempel nicht mehr der Brennpunkt des Glaubens; für sie war der Wohnort Gottes überall da, wo zwei oder drei im Namen des Auferstandenen versammelt waren. Für Christen gab es keinen heiligen Boden mehr, sondern für sie war das himmlische Jerusalem wichtiger geworden als das irdische Jerusalem. Für die Juden dagegen war der Tempel der Wohnort Gottes auf Erden. Für sie war es eine heilige Pflicht, diesen Tempel mit dem Leben zu verteidigen, bis Gott eingreift und die Heiden vertreibt. Und die Judenchristen, die im Namen Jesu von der Stadt flüchteten, galten als Verräter.

Als Jerusalem und der Tempel zerstört wurden, hatten die Juden eine Identitätskrise. Wir Evangelische können ein bisschen ahnen, wie heftig diese Krise war. Denn obwohl die evangelische Christenheit offiziell keinen heiligen Boden und keine heiligen Orte hat, ist es für uns Evangelische unvorstellbar, eine einzige Kirche preiszugeben, ohne ein großes Stück Glaubensidentität zu verlieren.

Stellen Sie sich mal vor, wie es wäre, wenn es hier in Frankfurt nur eine einzige evangelische Kirche gäbe. Und diese Kirche wäre die einzige auf der ganzen Welt und wäre durch Gewalt zerstört worden. Diese Zerstörung würde eine unvorstellbare Identitätskrise auslösen.

Als der Tempel in Jerusalem zerstört wurde, hatten die Juden den Mittelpunkt ihres Glaubens verloren. Durch diese Zerstörung verloren etwa die Hälfte der 613 Gebote ihre Durchführbarkeit. Es wäre etwas Vergleichbares, wenn eine Erschütterung eintreten würde, die so groß wäre, dass wir Christen hinterher nur noch die Hälfte unseres apostolischen Glaubensbekenntnisses sprechen könnten.

Das Judentum musste sich nach dem Jahre 70 neu definieren. Wer seine Identität verloren hat und wer auf der Suche nach einer neuen Identität ist, ist zunächst ohnmächtig und kann nur durch Abgrenzung eine neue Identität aufbauen. Und in dieser Phase des Neudefinierens hat sich das Judentum von der Christenheit endgültig abgegrenzt. Jesusanhänger wurden von der Synagoge ausgeschlossen.

In dem Text, der für heute vorgesehen ist, geht es um Ausschluss aus der Synagoge. In Smyrna gab es eine große jüdische Gemeinde. Für die Judenchristen war dieser Ausschluss verhängnisvoll, denn Judentum war eine offiziell erlaubte Religion. Als die Christen aus der Synagoge ausgestoßen waren, verloren sie dadurch nicht nur eine geistige Heimat, sondern sie verloren außerdem gesetzlichen Schutz. Jetzt waren sie ausgeliefert, und dementsprechend sagte der Text aus der Offenbarung eine Verhaftungswelle und eine Leidenszeit voraus.

Und es ist lehrreich zu sehen, wie das Buch der Offenbarung in dieser Lage christliche Identität definiert. In dieser Situation, in der Christen keinen Boden mehr unter den Füßen hatten, sollten sie ihren Halt in Gott finden, der in Jesus erschienen und durch den Tod gegangen ist - wie der Text bezeugt - um Menschen vor dem sogenannten „zweiten Tod zu bewahren“. Der Ausdruck „zweiter Tod“ ist eine Bezeichnung für eine endgültige Entfremdung von Gott.

Himmlisches Jerusalem', PSch

In dieser Suche nach christlicher Identität spielt das himmlische Jerusalem eine entscheidende Rolle. Auch für Christen war die Zerstörung Jerusalems eine Erschütterung. Deswegen wird in diesem letzten Buch der Bibel ein künftiges, himmlisches Jerusalem in Aussicht gestellt, das am Ende der Zeit erscheinen wird, „von Gott aus dem Himmel herabkommen“. Für Juden ist das irdische Jerusalem ein Brennpunkt des Glaubens. Für uns Christen ist es das himmlische Jerusalem. Unsere Identität ist also noch nicht abgeschlossen. Wie es in dem ersten Johannesbrief heißt: Wir wissen nicht, was wir sein werden. Deswegen sollen wir uns nicht zu sehr an dem Jetzigen festklammern.

Es wird von einer Frau berichtet, die am Anfang des Jahrhunderts New York zum ersten Mal besuchte. Sie stammte aus einer Kleinstadt und wurde gewarnt, dass sie in der großen Stadt aufpassen sollte, weil es dort viele Diebe und Betrüger gibt; sie war also auf der Hut. Sie suchte ihr Hotel auf und nachdem sie sich eingetragen hatte, wurde sie von einem Bediensteten zu Ihrem Zimmer geführt. Als sie das Zimmer sah, hat sie gedacht: aha, jetzt versucht man, mich zu betrügen. Das Zimmer war unzumutbar klein, es gab keine Fenster, als Möbel gab es nur einen Klappstuhl, es war kein Bett zu sehen, offenbar war es in der Wand versteckt. Und dafür sollte sie teures Geld zahlen. Sie fing sofort an, zu protestieren. Der Bediensteste erwiderte: „Aber, gnädige Frau, das ist nicht Ihr Zimmer; das ist der Aufzug.“ Diese Frau vom Lande hatte noch nie einen Aufzug gesehen.

Und diese Begebenheit kann als Gleichnis dienen für uns. Unser Leben hier auf dieser Erde ist ein Übergang, wie ein Aufzug, der uns zu unserer eigentlichen Wohnung führen wird. Wie Jesus sagte: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.“ Das, was wir jetzt Heimat nennen, ist nur etwas Vorläufiges. Das, was wir jetzt genießen, ist eng und düster – wie ein Aufzug - im vergleich zu der Herrlichkeit, für die wir vorgesehen sind. Deswegen müssen wir lernen, unsere Identität nicht zu sehr in dem Jetzigen zu sehen, sondern unsere Identität liegt in dem, was noch nicht da ist.

Auch müssen wir lernen, unseren Glauben nicht allein durch Abgrenzung zu definieren. Abgrenzung ist ein Zeichen von Identitätsschwäche. Zum Beispiel: wenn Rechtsradikale sich von Ausländern aggressiv abgrenzen, dann nicht deswegen, weil sie eine so starke nationale Identität haben, sondern im Gegenteil: weil sie keine nationale Identität haben; ihre vermeintlich nationale Identität ist inhaltslos. Und in der Vergangenheit, wenn Christen sich auf eine aggressive Weise von Juden und Muslimen und voneinander abgegrenzt hatten, dann war das ein Zeichen von einem Glaubensvakuum, von einer großen Identitätsschwäche. Auch innerhalb einer Kirche oder einer Gemeinde sieht man dieses Bedürfnis, sich von anderen Christen abzugrenzen: es gibt unselige Redewendungen wie „die da oben“, oder „die da untern“. Manchmal sind solche Abgrenzungen – vorläufig gesehen und seelsorglich gesehen – sogar eine berechtigte Notwendigkeit. Aber sie sind auch ein Zeichen, dass wir noch weit von dem entfernt sind, was wir eines Tages sein werden.

Das letzte Buch der Bibel zeigt uns, wo unsere Identität liegt: in dem Gott, der sich in Jesus am Karfreitag und an Ostern ein für allemal definierte, der mit uns ist in allem, was wir erleben und erleiden und der uns in eine ewige Zukunft begleiten wird – symbolisiert durch ein himmlisches Jerusalem. In dem himmlischen Jerusalem gibt es keine Abgrenzungen mehr, denn – wie es in dem letzten Buch der Bibel heißt - die Tore dieser himmlischen Stadt sind nach allen Seiten hin aufgeschlossen.

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