Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Markus 2, 1-12 Christlicher Glaube ist Wunderglaube

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'Christus heilet einen Gichtbrüchigen', Bernhard Rode, 1780

19. Sonntag nach Trinitatis

Christlicher Glaube ist Wunderglaube Markus 2, 1-12


Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen. Markus 2, 1-12

Vor einigen Jahren war ich in einem Café an der Eschersheimer Landstraße, um Kuchen zu kaufen. Und in der Nähe der Kasse lag ein Werbezettel für Transzendentale Meditation. Nach dieser Werbung soll Transzendentale Meditation erstaunliche Vorteile bringen: einen klaren Kopf, eine mitfühlende Psyche, stabile Gesundheit, Ruhe und Geborgenheit, neuen Lebensmut, neue Kraft, um Ziele zu erreichen und Träume zu verwirklichen, ein „ganzes, rundes, vollständiges Leben“; außerdem wird man den Sinn des Lebens erkennen, man bekommt Freude und immer mehr Freude, und eine Umkehr des Alterungsprozesses tritt ein. Und in diesem Zusammenhang wurde eine Frau zitiert, die sagte: „Ich weiß, dass die meisten der ca. 4 Millionen TM-Meditierenden in der Welt diese Erfahrung machen.“ Es ergibt sich die Frage: Wie kann sie so genau wissen, was 4 Millionen Menschen erfahren? Dieses „Ich weiß“ ist eine Selbst-Überschätzung.

'Falun Dafa second exercise, standing meditation', HappyInGeneral, 2008

Und etwas, was ich im Laufe der Jahre gelernt habe, ist, dass die Redewendung „ich weiß“ die Sprache der Sekten und der Fundamentalisten ist.

Vor dreißig Jahren hatte ich eine Begegnung mit dem Mitglied einer Sekte, und ich habe immer noch im Ohr, wie er zu mir sagte: „Ich weiß, dass das, was ich sage, wahr ist.“ Ich habe immer noch nicht vergessen – nach drei Jahrzehnten – wie dieses Sektenmitglied sagte: „Ich weiß“. Er sagte dieses „Ich weiß“ mit einer absoluten, unerschütterlichen Gewissheit.

Es gibt einen Theologen, der evangelikalischen Fundamentalismus untersucht hatte, und an einer Stelle schreibt er, dass ein Fundamentalist sich einbildet, dass er genau weiß, wie Gott sich verhalten wird, denn er bildet sich ein, dass die Bibel ein einheitliches Bild von Gott liefert. Und dieser Theologe schreibt folgendes: „Dass der Gott der Bibel sich laufend widerspricht, weil er sich erlaubt, auf andere, neue Weise Gott zu sein, das kann der Fundamentalist bei all seinen Bibelstudien nie gelten lassen. Er weiß, wie Gott ist.“

Diese Aussage passt genau zu dem Markustext, den wir vorhin gehört haben. Die Schriftgelehrten in dem Text verkörpern eine fundamentalistische, sektiererische Denkweise. Sie hören, wie Jesus zu dem Gelähmten sagt: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Und in ihren Herzen sagen sie: „Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“

Mit anderen Worten: diese Schriftgelehrten bilden sich ein, dass sie genau wissen, wie Gott sich zu verhalten hat. Es ist für sie ausgeschlossen, dass Gott in diesem Jesus anwesend sein könnte, um die Sünden zu vergeben. Denn die Schriftgelehrten wissen genau – bilden sie sich ein – wie und wo Sündenvergebung vollzogen wird: nämlich in dem Tempel zu Jerusalem, mit Brandopfer und mit Kulthandlungen, die der Hohepriester vollzieht. Diese Schriftgelehrten – wie alle fundamentalistisch denkende Menschen – sind nicht offen für die Möglichkeit, dass Gott etwas Neues vornehmen kann, was seine bisherigen Offenbarungen übersteigt. Sie bilden sich ein, dass sie ganz genau wissen, was Gott tun darf und nicht tun darf. Diese Schriftgelehrten bilden sich ein, dass Gott sich nach ihrem Glaubenkonzept richten muss. Und dass Gott in Jesus etwas grundsätzlich Neues eingeleitet hat, wird durch den Schlusssatz dieser Geschichte betont, der lautet: „So etwas haben wir noch nie gesehen.“

Die Nachfolger der Schriftgelehrten sind die sogenannten kritischen Bibelausleger, die mit wissenschaftlichen Methoden die Bibel auslegen möchten. Diese Bibelausleger wollen die Bibel so auslegen, dass ein Mensch mit Verstand und Bildung die biblische Botschaft akzeptieren kann. Und diese zeitgemäßen Bibelwissenschaftler sind in einer Hinsicht wie Sektierer und Fundamentalisten: denn sie wissen ganz genau, was Gott tun darf und was Gott nicht tun darf. Und etwas, was Gott nicht tun darf, ist Wunder vollbringen. Die sogenannten kritischen Bibelausleger wissen ganz genau, dass das Wunder, von dem der Markustext berichtet, nicht passiert ist, denn Wunder gibt es nicht. Es ist ausgeschlossen – nach dieser Denkweise – dass ein Gelähmter, dessen Beine so gut wie abgestorben sind, anhand eines Wortes Jesu sofort aufstehen und laufen kann. Die kritischen, protestantischen Bibelausleger des 19. und des 20 Jahrhunderts sagten kategorisch: wir wissen ganz genau, dass die Wunder der Bibel nicht geschehen sind. Diese Bibelausleger hielten die Wunder der Bibel für mythologische Legenden oder für symbolische Ausschmückungen. Aber diese Sprache, die behauptet: wir wissen ganz genau, was Gott in Jesus nicht tun kann, ist nicht die Sprache der Wissenschaft, sondern die Sprache der Fundamentalisten und der Sektierer.

'Jesus und die Schwiegermutter Petri', Meister des Hitda-Evangeliars, um 1020, (Bremond 2008)

Es gibt einen Grund, weshalb protestantische Bibelausleger sich mit Wundern so schwer tun. In dem Markustext geht es um Sündenvergebung. Und die Heilung des Körpers ist nach Markus eine Demonstration, dass Vergebung tatsächlich eingetreten ist. Die protestantische Denkart kann traditionsgemäß diese Wahrheit nicht einordnen. Denn Protestanten machen eine scharfe Unterscheidung zwischen Seele und Körper. Nach der protestantischen Mentalität ist Glaube ein geistiger Vorgang und dementsprechend spielt sich Vergebung in einem seelischen Bereich ab. Der Körper spielt dabei keine Rolle, außer dass er eine Behausung für die Seele bietet. Aber ansonsten wird Vergebung mit dem Verstand wahrgenommen.

Aber diese protestantische Denkweise ist nicht die Denkweise der Bibel. Die Bibel betont die Ganzheitlichkeit des Menschen. Vergebung ist ein Vorgang, der den ganzen Menschen erfasst. Vergebung bedeutet, dass die gebrochene Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch geheilt wird. Der ganze Mensch wird in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen. Deswegen ist es folgerichtig, dass der Gelähmte nach dem Zuspruch der Vergebung nicht nur seelisch, sondern auch körperlich wieder intakt ist. Ein Bibelausleger hat diesen Vorgang mit den folgenden Worten zusammengefasst: „Vergebung der Sünden führt unweigerlich zu einer Auferstehung des Leibes und ewigem Leben.“ Die Sündenvergebung, die Jesus dem Gelähmten zusprach, führte folgerichtig zu einer Auferstehung des Leibes, denn die Beine des Mannes waren so gut wie abgestorben. Und wie die Schriftgelehrten richtig erkannt hatten: nur Gott hat die Vollmacht und die Berechtigung, so etwas zu tun.

Dieser Markustext offenbart eine Lücke, die in der evangelischen Kirche vorkommt. Der protestantische Glaube ist eine ziemlich nüchterne Angelegenheit, denn Wunder sind eigentlich nicht vorgesehen – auch nicht die Wunder der Bibel. Wenn man aber die Wunder ausklammert, was bleibt übrig? Was übrig bleibt, ist ein armseliger Glaube, der ziemlich auf Moral und Ethik beschränkt ist. Wenn es keine Wunder gibt, dann ist Gebet nur noch ein therapeutisches Selbstgespräch – ohne Wirkung auf Gott, ohne Wirkung auf diese Welt. Wenn es keine Wunder gibt, dann ist das Abendmahl bloß ein Gedächtnismahl und mehr nicht. Wenn es keine Wunder gibt, dann ist Weihnachten total verlogen, denn Gott ist nicht Mensch geworden. Wenn es keine Wunder gibt, dann können wir Ostern nur im Sinne von Rudolf Bultmann feiern, der behauptete, dass Jesus nicht leibhaftig auferstanden ist, sondern als Botschaft seiner Anhänger auferstanden. Wenn es keine Wunder gibt, dann kann Gott uns nicht mehr überraschen, sondern ist ziemlich berechenbar. Wenn es keine Wunder gibt, dann können wir mit den Sektierern und Fundamentalisten sagen: wir wissen ganz genau, was Gott tut und nicht tut.

Der Theologe Klaus Berger hat behauptet, dass eine protestantische Kirche, welche die Wunder der Bibel verdrängt, keine Zukunft hat. Er schreibt: „Wollte man die Wunder des Neuen Testaments ausklammern, blieben nur Vernunft und Moral übrig...Mir will aber scheinen, dass ein Christentum auf der Basis von Vernunft und Moral allein keine Zukunft haben kann. Belegen kann ich dies anhand von Rückmeldungen aus dem Bereich des Religionsunterrichtes, der fast in der Regel nur noch der Themenliste „Beziehung, Freundschaft, Ehe, Umweltschutz“ folgt. Die Schüler melden sich dann zum Philosophieunterricht um, weil dort Themen wie Sünde, Gott und Stellvertretung behandelt werden. Die Erwachsenen, die an den theologischen Kernthemen interessiert sind, wandern in evangelikale oder gar fundamentalistische Gruppen ab.“

Für die protestantische Mentalität sind Wunder irgendwie peinlich. Aber die Bibel verkündet eindeutig, dass der Gott der Bibel ein Gott ist, der Wunder vollbringt. Der Gott Israels und der Gott, der in Jesus Christus erschienen ist, ist ein Gott, der sich durch seine Wunder sogar definiert. Wie es in verschiedenen Psalmen heißt:

  • Du bist der Gott, der Wunder tut.
  • Gelobt sei Gott der HERR, der Gott Israels, der allein Wunder tut!
  • Wir danken dir, Gott, wir danken dir und verkündigen deine Wunder.
  • Erzählet unter den Heiden von seiner Herrlichkeit, unter allen Völkern von seinen Wundern!

Aber tut Gott auch heute noch Wunder? Als Antwort auf diese Frage könnte man China betrachten, wo die Christenheit dabei ist, explosivartig zu wachsen. Und ein Grund, weshalb die Christenheit dort schnell am Wachsen ist, lautet: es passieren dort Wunder. Ein westlicher Beobachter, der durch China gereist ist, berichtete: „Die christlichen Gemeinden dort berichten alle, dass sie Wunder erlebt hatten. Ein typisches Beispiel ist eine Frau, 80 Jahre alt, die eines Tages anfing, als Laienpredigerin zu dienen. Nach einem Gottesdienst kamen Dorfbewohner auf sie zu, die krank waren – teilweise sogar krebskrank. Die 80-Jährige betete für sie und viele sind sofort geheilt worden. Zwei weitere Personen kamen dazu und wurden geheilt. Dann drei weitere Familien. Nachdem die Frau weg war, haben die Dorfbewohner beschlossen, an Jesus zu glauben.“

Wie soll man einen solchen Bericht beurteilen? Die sogenannten kritischen Theologen werden solche Berichte als naiven Volksglauben abtun – als ob sie genau wüssten, was Gott tut und nicht tut. Offenbar haben die Christen in China noch nicht "gelernt", dass Gott keine Wunder tut.

Aber der Gott, der sich in der Geschichte Israels und in der Geschichte Jesu Christi offenbart hat, ist ein Gott, der nicht nur Wunder tut, sondern der durch seine Wunder seine Identität offenbart hat. Christlicher Glaube ist deshalb Wunderglaube. Als Christ darf man mit kindlichem Vertrauen Gott um Wunder bitten. Auch in Deutschland sind Wunder vorgekommen - und besonders dort, wo Menschen noch nicht „gelernt“ haben, dass Gott keine Wunder tun kann.

Möge Gott uns helfen, zu lernen, dass mit ihm alles möglich ist. Wie im Buch Hiob festgestellt wird:

Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen, und Wunder, die nicht zu zählen sind.

Die Radierung 'Christus heilet einen Gichtbrüchigen', Bernhard Rode, 1780, ist im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Falun Dafa second exercise, standing meditation', HappyInGeneral, 2008, ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 2.0 Lizenz.
Das Bild 'Jesus und die Schwiegermutter Petri', Meister des Hitda-Evangeliars, um 1020, (Bremond 2008), ist im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.

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