Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Kor. 3, 9 – 15 Auf die sogenannten Unmündigen kommt es an

« Predigten Home

'streetcar and church', PSch

12. Sonntag nach Trinitatis

Auf die sogenannten Unmündigen kommt es an 1. Kor. 3, 9 – 15

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt am 10. August 2008 im Kirchsaal Süd

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Ich nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird's klar machen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch. 1. Kor. 3, 9 – 15

In einer Kirchengemeinde im US-Bundesstaat Oregon gab es seit Jahrzehnten jeden Sonntag denselben Ablauf: Sonntagsschule um 9.30 Uhr, Gottesdienst um 10.45 Uhr. Der Pfarrer fand die Uhrzeit 10.45 Uhr ungeschickt und wollte den Gottesdienst um eine Viertelstunde vorverlegen. Es gab sofort Widerstand gegen diese Idee. Gemeindemitglieder und Kirchenvorsteher sagten: "Aber Gottesdienst war immer um 10.45 Uhr". Der Pfarrer wollte wissen, wie und wann diese merkwürdige Zeit entstanden war und schaute in alten Protokollen der Kirchenvorstandssitzungen nach. Er musste mehr als 70 Jahre zurückblättern. Und dann fand er die Antwort. Früher hielt die Straßenbahn um 10.40 Uhr an der Ecke vor der Kirche. Wegen dieser Haltezeit fing der Gottesdienst um 10.45 Uhr an. Diese Straßenbahnlinie existiert allerdings seit 72 Jahren nicht mehr. Aber dass der Gottesdienst um 10.45 Uhr anfangen sollte, war für diese Gemeinde so selbstverständlich, als ob Jesus selber diese Zeit eingeführt hätte.

Dieser Vorgang ist charakteristisch für das kirchliche Leben. Es ist etwas Typisches, dass Traditionen und Denkweisen entstehen und jahrzehntelang bestimmend bleiben. Traditionen und Denkweisen sind wie Strömungen. Sie entspringen zu Beginn von einer kleinen Quelle, aber je länger sie am Leben bleiben, um so mehr werden Menschen von diesen Strömungen erfasst und geprägt. Und wenn Traditionen und Denkweisen einige Jahrhunderte am Leben geblieben sind, wird es um so schwieriger, etwas zu ändern.

In dem Text, der für heute vorgesehen ist, spricht Paulus von der Grundlage der Christenheit, die Jesus Christus heißt. Und er spricht davon, dass Menschen auf dieser Grundlage unterschiedliche Dinge bauen. Einiges ist wertvoll – vergleichbar mit Gold, Silber, Edelsteine - und Einiges ist weniger wertvoll –vergleichbar mit Heu und Stroh. Und Paulus warnt, dass das, was gebaut wird, erfahrungsgemäß eine lange Lebensdauer hat. Er spricht sogar davon, dass Einiges so dauerhaft bleibt, dass es erst am Tag des jüngsten Gerichtes entfernt werden kann.

Seit Paulus diesen Text schrieb, sind fast 2000 Jahre vergangen. Auf der Grundlage, die Jesus Christus heißt, ist vieles gebaut worden: Glaubensinhalte, Gottesdienstordnungen, hierarchische Strukturen, Bekenntnisse, Lieder, Kirchengesetze, willkürliche Entwicklungen, eigenwillige Änderungen. Und fast alles, was in der Kirche vorkommt, hat eine lange Geschichte. Ob wir es merken oder nicht, wir sind von Geschichte geprägt. Wir sind von Elementen geformt, die vor Jahrzehnten und Jahrhunderten entstanden sind. Ob wir es wollen oder nicht.

Um zu merken, wie sehr wir Christen von Geschichte geprägt worden sind, muss man ins Ausland gehen oder von einem ausländischen Christen besucht werden. Als ich nach Deutschland kam, fiel mir als Fremder sofort auf, dass evangelische Christen von einer Geschichte geprägt worden sind, die mir unbekannt war. Als Fremder habe ich gemerkt, dass bestimmte Dinge hier selbstverständlich sind, die für mich überhaupt nicht selbstverständlich waren.

Ich werde z. B. nie vergessen, wie ich die ersten Gottesdienste in der Südgemeinde vor 35 Jahren erlebt habe. Im Gottesdienst war eine Atmosphäre, die mir fremd war. Was ich am Anfang erlebt habe, war, dass der evangelische Gottesdienst nicht die Atmosphäre einer Gemeindefeier hatte, sondern er war eher eine Pfarrerveranstaltung. Das fiel mir durch verschiedene Merkmale auf: erstens, dass der Pfarrer den Gottesdienst allein machte – abgesehen von einem Lektor, der eine Schriftlesung und die Abkündigungen vorlas. Ich war gewohnt, viele Mitwirkende im Gottesdienst zu sehen. Auffallend war auch, wie die Gemeindeglieder vereinzelt und möglichst weit auseinander saßen, als ob sie gerade Streit miteinander hatten. Die Lieder wurden im Sitzen gesungen und klangen zaghaft und mutlos. Aber was mich fast schockiert hat, war, dass die Gemeinde nach dem Gottesdienst sofort verschwunden war, ohne zu verweilen. Dass eine Gemeinde so schnell nach dem Gottesdienst weg war, hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie erlebt. Die Tür ging auf und die Gemeinde war weg, als ob es sich um eine Gefangenenbefreiung handelte.

In dieser Hinsicht war die Sprache der Abkündigungen bezeichnend. Es hieß nicht: „am kommenden Sonntag feiert die Gemeinde Gottesdienst“, sondern es hieß: am kommenden Sonntag wird der Gottesdienst von einem (mit Namen genannten) Pfarrer „gehalten“. Ich habe gleich gelernt, wie stark pfarrerzentriert die evangelische Kirche in Deutschland ist. Evangelische Christen gingen offenbar nicht zum Gottesdienst, um Gott anzubeten oder um die Auferstehung Christi zu feiern, sondern um einen bestimmten Pfarrer zu hören. Der Gottesdienst war eine Predigtveranstaltung. Auch die erste Bibelstunde, die ich erlebte, war eine Predigtveranstaltung des Pfarrers; es gab so gut wie kein Gespräch. (Es ist nachvollziehbar und nicht zu kritisieren, dass Menschen die Predigten eines bestimmten Pfarrers bevorzugen werden, es geht hier darum, festzustellen, dass eine gute Predigt allein nicht ausreicht, um eine dauerhafte gottesdienstliche Gemeinschaft zu stiften.)

Aber für die Gemeindeglieder war das alles selbstverständlich, denn so war es immer gewesen – seit Generationen. Tradition und Geschichte prägen uns Christen viel mehr als wir wahrnehmen.

Und in diesem Zusammenhang habe ich gelernt, wie unterschiedlich das Wort „Kirche“ verstanden werden kann. Wenn ich das Wort „Kirche“ höre, sehe ich vor meinen geistigen Augen die gottesdienstlichen Gemeinden, zu denen ich gehört habe. Ich habe mich immer – von Kindheit an - als Teil der Kirche verstanden. Aber es war für mich auffallend, dass evangelische Christen den Begriff „Kirche“ ganz anders sahen. Wenn evangelische Kirchenmitglieder „Kirche“ sagten, meinten sie nicht „wir, die wir die Kirche sind“, sondern Kirche bedeutet für sie „die da oben“. Kirche ist ein Verwaltungsapparat, Kirche ist eine Institution, Kirche besteht aus Funktionären, die in der Zeitung zitiert werden. Auch diese Denkweise hat eine lange Vorgeschichte.

Und als Ausländer ist mir im Laufe der Zeit ein Begriff aufgefallen, der in der evangelischen Kirche ein Schlagwort ist. Dieser Begriff kommt manchmal zu häufig vor, so dass man merkt: hier gibt es eine unterschwellige Unsicherheit. Es ist der Begriff „Kompetenz“. Kompetenz wird immer wieder gefordert. Kompetenz wird vielleicht sogar zu oft gefordert.

Denn es gibt in der evangelischen Kirche nach wie vor eine gewisse Unmündigkeit der Laien. Es geht hier nicht um die Frage, wie aktiv die Laien in der Gemeinde sind, sondern um die Frage: wer ist kompetent, die Bibel auszulegen, Gebete zu formulieren, den Glauben öffentlich zu bezeugen und das Leben einer Gemeinde zu prägen? Und die Antwort lautete seit Jahrhunderten: kompetent ist zuletzt nur derjenige, der eine theologische oder akademische Ausbildung hat. Auch diese Denkweise ist eine Strömung, die Jahrhunderte alt ist.

Nach Einschätzung eines Theologen war die Frage der Kompetenz in der Kirche spätestens im 13. Jahrhundert klar geregelt. Dieser Theologe schreibt dazu folgendes:

„In der Kirchengeschichte ist zu beobachten, dass etwa ab 1300 der Grad der inneren Ordnung und Disziplinierung in der Kirche weit vorangeschritten und geradezu perfekt war.“ Und was die heutige Zeit betrifft: „Man kann sagen: Noch nie ist in der Kirchengeschichte so perfekt gepredigt worden wie jetzt, noch nie waren alle liturgischen Texte so gut aufbereitet und verständlich, noch nie war die Frömmigkeit „sauberer“. Nie waren die Kirchen gründlicher vom Kitsch befreit. Doch den Menschen ist der Atem weggeblieben... Die Religiosität an der Basis bedarf eines gewissen Raumes von Unklarheit, von Geheimnisvollem. Wo der Glaube organisch wachsen soll, muss es einen subjektiven Schutzraum geben, in dem es ein wenig wild wuchert, bis die Pflanzen kräftig dastehen. Glaube ist ja nicht die Übernahme eines perfekten, komplexen Systems, sondern der Aufbau einer persönlichen Beziehung.“

Was dieser Theologe hier andeutet ist folgendes: die Kirche in ihrer historisch überlieferten Gestalt bietet zu wenig Spielraum für schlichte Gemüter. Wenn es um Bibelauslegung und Glaubenszeugnis geht, ist das Christentum zu sehr von Akademikern und Spezialisten dominiert. Wie ein Theologe es ausdrückte: „Oft mache ich die Erfahrung, dass akademische Theologen die Laien sprachlos machen.“ Die biblische Wissenschaft hat in den letzten 150 Jahren viel Wertvolles geleistet, aber sie hat die normalen Menschen in den Gemeinden unmündig gemacht.

Wo Sprachlosigkeit vorkommt, ist das ein Zeichen, dass etwas mit unseren Gemeinden nicht stimmt. Denn eine Sprachlosigkeit der sogenannten kleinen Leute passt nicht zu Jesus, der die Grundlage unserer Kirche ist. Wie Paulus in dem Korintherbrieftext bemerkt:

Ich nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.

Für den Grund, der Jesus heißt, war es wesentlich, dass die sogenannten Unmündigen zur Geltung kamen. In einem Gebet im Matthäusevangelium sagt Jesus:

Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart.

Der Prüfstein einer Kirchengemeinde ist nicht, wie viele schlaue Leute sie hat oder wie kompetent die Amtsträger sind, sondern ob und wie die sogenannten „Unmündigen“ oder die sogenannten „Einfältigen“ oder die sogenannten „Normalen“ zur Geltung kommen. Denn eine lebendige Gottesdienstgemeinschaft kommt nicht von oben herab, sondern kann nur an der Basis entstehen.

In dieser Hinsicht können wir als Gemeinde dankbar sein, denn in den letzten 30 Jahren gab es erfreuliche Ansätze. Das Abendmahl ist nicht mehr ein Bußgang mit Karfreitagsatmosphäre für einzelne Sünder, der nach dem Gottesdienst angehängt ist – wie vor 35 Jahren – sondern ist immer mehr zu einem menschenfreundlichen Gemeinschaftserlebnis geworden. Es gibt bei uns in der Gemeinde eine Vielfalt von Gottesdienstformen, bei denen sogenannte normale Menschen bei der Gestaltung, bei der Bibelauslegung und bei der Formulierung von Gebeten mitwirken können, ohne sich zuerst fragen zu müssen, ob sie kompetent sind oder nicht - wie das Tischabendmahl, Familiengottesdienste oder die Jugendgottesdienste, die einmal im Monat hier im Kirchsaal donnerstagabends stattfinden. Gerade in der Konfirmandenarbeit zeigt sich eine erstaunliche Mündigkeit der ehrenamtlichen Jugendlichen, die Andachten halten und unterrichten. Es gibt auch Bibelgespräche in unserer Gemeinde, wo normale Gemeindeglieder hochwertige Bibelauslegung betreiben. In der Fähigkeit von Mitgliedern unserer Gemeinde, die Bibel auszulegen, zeigt sich eine eindrucksvolle Vollmacht, die vor 30 Jahre unvorstellbar gewesen wäre.

Auf der Grundlage, die Jesus Christus heißt, ist vieles aufgebaut worden, was organisch nicht dazugehört, auch wenn es wie eine Selbstverständlichkeit aussieht. Jeder von uns hat die Aufgabe, zu überlegen, welche überlieferten Traditionen heilsam und kraftvermittelnd sind und welche Traditionen belastend und kraftraubend wirken. Jesus, die Grundlage unserer Kirche, wollte nicht eine Glaubensgemeinschaft haben, die von Akademikern und Spezialisten dominiert wird, sondern er wollte eine Kirche, in der die sogenannten Unmündigen voll zur Geltung kommen.

Möge Gott uns helfen, dass wir erkennen, was zu der Grundlage der Kirche gehört und was nicht dazu gehört. Und möge Gott uns helfen, dass jeder Einzelne von uns merkt: Kirche ist nicht außerhalb meiner Person, sondern ich bin Kirche, wir sind Kirche.

Die Postkarte mit dem Bild einer Straßenbahn ist ca. 100 Jahre alt und deshalb ist das Copyright abgelaufen. Photo von Psch.

^ Zum Seitenanfang

PSch