Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigt von Pfarrer Phil Schmidt: Altjahrsabend - Jesaja 30, 8 – 17 bzw. 15 – 17 „Man kann nicht einfach da sitzen“

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'Rawinsonde weather balloon', 2009, Softwarehistorian

Altjahrsabend

„Man kann nicht einfach da sitzen“ Jesaja 30, 8 – 17 bzw. 15 – 17

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt am 31.12.2010 im Kirchsaal Süd

Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht und sprecht: »Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen«, - darum werdet ihr dahinfliehen, »und auf Rennern wollen wir reiten«, - darum werden euch eure Verfolger überrennen. Denn euer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel. Jesaja 30, 8 – 17 bzw. 15 – 17

So wie es eine Rivalität zwischen Frankfurt und Offenbach gibt, gibt es in Kalifornien eine Rivalität zwischen San Francisco und Los Angeles. Frankfurter sind überzeugt, dass alles, was in Offenbach vorkommt – besonders das Autofahren - verdächtig und fragwürdig ist. Und wir, die wir von Nordkalifornien stammen, sind überzeugt, dass alle, die in Los Angeles leben, eine Macke haben.

Es gibt zum Beispiel einen Mann in Los Angeles mit dem Namen Larry Walter. Eines Tages stellte er fest, dass er seine Nachbarschaft aus einer neuen Perspektive sehen wollte. Er kaufte 45 gebrauchte Wetterballons und befestigte sie an seinem Gartenliegestuhl. Er schnallte sich fest und nahm drei Dinge auf seinen Schoß mit: ein Brötchen, sechs Büchsen Bier und ein Luftgewehr. Freunde von ihm – oder vielleicht sollte man eher sagen: sogenannte Freunde von ihm - füllten die Ballons mit Helium. Dieser Ballonfahrer meinte, dass er etwa 30 Meter hochsteigen würde, dann könnte er nach und nach die Ballons abschießen und langsam zurück zur Erde gleiten.

Aber es kam ganz anders: innerhalb von kürzester Zeit befand er sich in einer Höhe von über 3000 Metern, mitten in einer Fluglugschneise des Los Angeles International-Airports. Er hatte zu viel Angst, um einen Ballon abzuschießen und blieb 2 Stunden in dieser Höhe. Der Flughafen musste so lange geschlossen bleiben. Als er zur Erde zurückkehrte, musste er drei Fragen beantworten.

„Hatten Sie Angst?“ „Ja“ „Würden Sie so etwas wieder tun?“ „Nein“. „Warum haben Sie das getan?“ Und seine Antwort lautete: „Man kann nicht einfach da sitzen.“

Diese letzte Bemerkung - „Man kann nicht einfach da sitzen“ - ist etwas Urmenschliches. Sie erinnert an einen Spruch von Blaise Pascal: „Alle Probleme der Menschen haben ihren Grund in der Unfähigkeit, still und allein in einem Raum zu sitzen.“ Es steckt etwas in uns Menschen, das uns manchmal dazu treibt, irgendetwas zu tun, egal was; die Hauptsache, es tut sich etwas, auch wenn es Unheil bringt.

Z. B. im April 1994 kam ein schwerkranker Mann, 77 Jahre alt, in eine Klinik. Er hatte nur noch 100 Tage gelebt. Innerhalb dieser 100 Tage gab es 56 Röntgenuntersuchungen, drei Computertomographien, dutzende von EKGs und mehrere Magenspiegelungen. Hier zeigt sich: wenn Menschen ohnmächtig sind, neigen sie dazu, sich in hektische Betriebsamkeit zu flüchten, nach dem Motto, die Hauptsache, es geschieht etwas, egal was.

Es gibt einen Jura-Professor, der seine erste Vorlesung damit beginnt, dass er zwei Zahlen an die Tafel schreibt, 4 und 2. Dann fragt er die Studenten: „Was ist die Lösung?“ Er bekommt als Antwort: „6“ (2 plus 4 sind 6), „8“ (2 mal 4 ist 8). Oder „2“ (4 minus 2 ist 2).
Der Professor erklärt dann, worum es geht: „Sie haben alle einen grundsätzlichen Fehler gemacht. Sie haben es versäumt, nach dem Problem oder nach der Aufgabe zu fragen. Es ist sinnlos, eine Lösung vorzuschlagen, wenn die Aufgabe nicht geklärt ist.“

Schweigend abzuwarten, bis es klar ist, welche Aufgabe bevorsteht, fällt uns Menschen schwer. Das gilt auch für Kirchengemeinden.

Als Kirche und als Gemeinde kennen wir diese menschliche Neigung zum Aktionismus. Es gibt auch in der Kirche einen Drang, ständig neue Aktionen durchzuführen, neue Ausschüsse zu bilden und immer mehr Information zu verbreiten. Was Strukturveränderungen betrifft, kommen wir als Kirche nie zur Ruhe; immer neue Strukturmöglichkeiten werden ausgedacht, die zu neuen Verordnungen führen, die das Leben unweigerlich komplizierter machen.

Für eine Kirchengemeinde ist es eine fast unwiderstehliche Versuchung, Tätigkeiten einzuleiten nach dem Leitsatz: Hauptsache, es tut sich was. In der früheren Südgemeinde waren manche stolz darauf, dass es so viele Angebote und Feste in der Gemeinde gab. Eine Zeitlang war das inoffizielle Motto der Gemeinde: „Bei uns ist immer etwas los.“ Aber „wenn immer etwas los ist“ kann das verhängnisvoll sein.

'Prophet Isaiah', first quarter of XVIII cen., 18 century icon painter

Das bringt uns zu dem Jesajatext, der für heute vorgesehen ist. Als Jesaja lebte, war die internationale Situation angespannt. Assyrien war eine Weltmacht, die eine ständige Drohung für das Volk Israel darstellte. 722 hatte Assyrien das Nordreich von Israel vereinnahmt. Das Südreich Juda, wo Jesaja als Prophet tätig war, musste damit rechnen, von Assyrien überfallen und besetzt zu werden. Aber dann kam eine Ablenkung: Assyrien musste sich um eine Herausforderung von Babylon kümmern und zog sich von der westlichen Front etwas zurück, Ägypten fühlte sich ermutigt, dieses Macht-Vakuum auszufüllen und sich gegen Assyrien zu behaupten. Der König von Juda überlegte, ob er sich Ägypten anschließen sollte. Es war eine politisch-strategische Überlegung: eine Koalition mit Ägypten könnte Juda eventuell Sicherheit bieten.

In dieser Situation entstand die Botschaft, die wir vorhin gehört haben:

Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.

Jesaja verkündet: ihr sollt einfach still sein, ihr sollt nichts tun und euch vertrauensvoll auf Gott verlassen. Denn egal, was eintreten mag, Gott wird seinen Willen zu seiner Zeit durchsetzen. Es ging Jesaja nicht um machtpolitische Fragestellungen, sondern um das Zeugnis Israels der Welt gegenüber.

Allerdings wusste Jesaja, dass Juda sich in Aktionismus flüchten würde. Denn in dem nächsten Satz heißt es:

Aber ihr wollt nicht und sprecht: »Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen«, - darum werdet ihr dahinfliehen, »und auf Rennern wollen wir reiten«, - darum werden euch eure Verfolger überrennen.

Der Prophet sah voraus, dass die Bewohner von Juda nicht einfach still abwarten konnten, sondern auf Pferde steigen und gegen Assyrien etwas Kämpferisches unternehmen würden - nach dem Leitsatz: Wir müssen unbedingt etwas tun; wir können nicht einfach passiv abwarten. Jesaja sagte deshalb voraus, dass sie deswegen vor den Assyrern fliehen würden. Dieser Aktionismus führte zu einer Katastrophe.

Es gibt einen Arzt mit dem Namen Till Bastian, der folgendes geschrieben hat:

„Aktivität entlastet. Sie baut unerträgliche innere Spannung ab. Sie gaukelt uns zudem vor, die Situation kontrollieren zu können, sie lässt uns glauben, wir seien nicht mehr hilflos dem Geschick ausgeliefert – wir tun ja etwas, und sei es auch nur, damit irgendetwas geschieht.“

Für Juda zur Zeit des Propheten Jesaja war Aktionismus ein Ausdruck des Unglaubens. Die mangelnde Bereitschaft, still abzuwarten, kann auch für uns heute ein Zeichen sein, dass wir nicht bereit sind, uns vertrauensvoll in die Hände Gottes zu begeben.

'Christ's dispute with the doctors in the temple.', ± 1545 or later,  Follower of Jheronimus Bosch

In dieser Hinsicht könnten wir auf Jesus schauen. Schon mit 12 Jahren kannte er sich so gut in der Bibel aus, dass er Staunen ausgelöst hatte. Er saß mit den Schriftgelehrten in dem Tempel in Jerusalem, hörte ihnen zu und stellte Fragen, so dass es hieß: „alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.“

Trotz seiner Frühreife wartete Jesus 18 weitere Jahre, bis er anfing, öffentlich zu wirken. 18 Jahre lang tat er nichts (in der Öffentlichkeit), sondern wartete einen inneren Reifungsprozess ab. Wie ist es mit uns? Inwieweit sind wir bereit, mit Geduld und Besonnenheit innere Reifungsprozesse abzuwarten?

Auch war es bei Jesus auffallend, dass er sich nicht gezwungen fühlte, auf jede Frage und auf jede Herausforderung eine Antwort zu geben. Es fiel besonders auf, wie er nach seiner Verhaftung, als er falsch angeklagt war, kein Wort der Verteidigung sagte. Pilatus wunderte sich über das Schweigen Jesu. Diese Wehrlosigkeit, die als Schweigen zum Ausdruck kam, war nicht Feigheit, sondern war der Ausdruck eines kompromisslosen Vertrauens in Gott.

Jesus verwirklichte, was Juda zur Zeit des Propheten Jesaja nicht verwirklichen konnte. Er konnte still sein in einer unerträglichen Situation. Er stand nicht unter dem Zwang, irgendetwas zu tun, egal was, nur damit etwas geschieht. Stillsein innerhalb eines Sturmes ist ein massives Glaubenszeugnis. Dass Jesus während eines Sturmes am See Genezareth in einem Boot schlafen konnte, ist eine Veranschaulichung seines Urvertrauens.

Viel Unheil könnte verhindert werden, wenn wir Christen lernen könnten, in krisenhaften Situationen nicht voreilig zu reden und zu handeln. Nach meiner Erfahrung werden Krisen mehrfach verschlimmert, wenn Menschen etwas Unüberlegtes sagen, einfach weil sie nicht die Geduld haben, um lange genug zu schweigen bis sie wissen, was sie eigentlich sagen sollten.

'Albert Einstein during a lecture in Vienna in 1921 (age 42).', 1921, Ferdinand Schmutzer

In diesem Zusammenhang denke ich an Albert Einstein. Er war einmal Ehrengast bei einem feierlichen Abendessen einer Universität. Er wurde gebeten, spontan eine Rede zu halten. Albert Einstein stand auf und sagte: „Mein Damen und Herren, es tut mir Leid, aber ich habe nichts zu sagen.“ Er setzte sich, aber stand dann doch wieder auf und sagte: „Falls ich irgendwann etwas zu sagen habe, komme ich zurück.“ Sechs Monate später meldete sich Einstein bei dem Präsident der Universität und sagte: „Jetzt habe ich etwas zu sagen.“ Er wurde wieder zu einem Abendessen eingeladen und diesmal hielt er eine Rede.

So könnte es auch in einer christlichen Gemeinschaft zugehen. Wir sollten keine Angst vor Stillstand und vor Leerlauf haben. Denn Leerlauf und Stillstand öffnet Raum und Zeit für Gott, damit er in uns Reifungsprozesse bewirken kann. Denn wie Jesaja schreibt:

Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.

Möge Gott uns helfen, im neuen Jahr genügend Geduld aufzubringen, dass wir uns Zeit nehmen für Gebet und für die Bibel, dass wir lernen, dass wir Gott auch durch Ruhen und Schweigen dienen können, dass wir lernen abzuwarten, bis Gott seinen Willen für uns offenbart hat.

Die Photographie 'Rawinsonde weather balloon', 2009, Softwarehistorian, ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, da es von einem Beamten oder Angestellten einer US-amerikanischen Regierungsbehörde in Ausübung seiner dienstlichen Pflichten erstellt wurde und deshalb nach Titel 17, Kapitel 1, Sektion 105 des US Code ein Werk der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ist.
Die Ikone 'Prophet Isaiah', first quarter of XVIII cen., 18 century icon painter, ist im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.
Das Gemälde 'Christ's dispute with the doctors in the temple.', ± 1545 or later, Follower of Jheronimus Bosch, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Albert Einstein during a lecture in Vienna in 1921 (age 42).', 1921, Ferdinand Schmutzer, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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