Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Römerbrief 14. 7 – 9 „Keiner lebt sich selber“

« Predigten Home

'Bonn, Gymnasium', 1988, Deutsches Bundesarchiv

Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr

„Keiner lebt sich selber“ Römerbrief 14. 7 – 9

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2010

Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen. Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten.
Der eine hält einen Tag für höher als den andern; der andere aber hält alle Tage für gleich. Ein jeder sei in seiner Meinung gewiss. Wer auf den Tag achtet, der tut's im Blick auf den Herrn; wer isst, der isst im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der isst im Blick auf den Herrn nicht und dankt Gott auch.
Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. Römerbrief 14. 7 – 9

Es gab eine Untersuchung unter Jugendlichen, um festzustellen, wie sie reagieren, wenn sie unter Anpassungsdruck stehen. In diesem Experiment ging es um Gruppen, die aus 10 gleichaltrigen Personen bestanden. Eine jeweilige Gruppe betrachtete eine Reihe von Blättern. Jedes Blatt zeigte drei Linien, die unterschiedliche Längen hatten. Die Jugendlichen sollten die Hände heben, wenn der Leiter der Untersuchung auf die längste der drei Linien deutete. Aber 9 von den 10 Personen waren vorher eingeweiht. Diese Neun bekamen die Anweisung, die Hände zu heben, wenn der Leiter auf die zweitlängste Linie deutete, nicht auf die Längste, wie vorgesehen. Es ging um die Frage: wie würde die zehnte Person reagieren – die natürlich nicht eingeweiht war - , wenn sie sieht, dass die große Mehrheit auf die falsche Linie deutete? Was war das Ergebnis? Immer wieder passierte folgendes: die 9 Personen stimmten für die zweitlängste Linie, die uneingeweihte Person schaute verwirrt auf die Abstimmenden und erhob schließlich die Hand. Immer wieder hat die uneingeweihte Person durch Abstimmung behauptet, die zweitlängste Linie sei die längste, weil sie nicht den Mut hatte, eine eigene Ansicht gegen die überwältigende Mehrheit zu vertreten. Nur 25% der uneingeweihte Testpersonen hatte den Mut, die Wahrheit vor den Gleichaltrigen zu bezeugen.

Diese Untersuchung veranschaulicht einen Satz des Römerbrieftextes, der für heute vorgesehen ist: „Unser keiner lebt sich selber.“ Niemand denkt und handelt nur für sich allein, sondern alles, was wir denken und tun, hängt davon ab, was unsere Mitmenschen denken und tun. Wir sind alle verführbar und manipulierbar.

'A classroom in a Japanese high school', 2001, strngwrldfrwl from Japan

Diese Erforschung mit Jugendlichen erinnert mich an etwas, was ich erlebte, als ich in der Deutschherrenschule Religion unterrichtete. Es gab damals eine Schulleitung, die unbeliebt war, weil sie den Ruf hatte, anmaßend und diktatorisch aufzutreten. Diese Schulleiterin verordnete einmal, dass es nicht erlaubt war, in der Schule eine Fremdsprache zu sprechen. Alle Schülerinnen und Schüler sollten den ganzen Tag Deutsch reden – auch wenn es um Privatgespräche in der Pause ging. Wegen dieser Verordnung und andere, die vergleichbar waren, gab es eines Tages einen Streik unter den Schülern. Sie waren zwar anwesend im Schulhof, aber sie weigerten sich, die Schule zu betreten und den Unterricht zu besuchen. So gut wie alle waren am Streik beteiligt, denn er bedeutete auch schulfrei zu haben. Aber es gab eine Ausnahme. Mein Religionsunterricht ist an diesem Tag nicht ausgefallen und das hing hauptsächlich von einer einzigen Schülerin ab, die sagte: „Ich kenne die Schulleitung und die Situation nicht gut genug, um mir ein Urteil zu erlauben.“ Sie hatte andere Personen im Religionsunterricht mitgezogen. Diese Religionsschüler waren nervös und hatten Angst, wie die große Mehrheit auf ihre Streikweigerung reagieren würden. Sie hatten sogar Angst, geschlagen zu werden. Aber trotzdem waren sie im Unterrichtsraum.

Die Haltung dieses Mädchens ist wie ein Lichtstrahl, der eine dunkle Welt erleuchtet. Für die große Mehrheit der Schüler war es völlig undenkbar, sich nicht am Streik zu beteiligen. Niemand sonst ist auf die Idee gekommen, zu sagen: „Ich kenne die Situation nicht gut genug, um mir ein Urteil zu erlauben.“ Wie Paulus schrieb: „Keiner lebt sich selber“. Jeder Mensch wird manipuliert durch das, was die große Allgemeinheit denkt.

Dies gilt auch für Erwachsene. Wie viele Protestanten z. B. haben den Mut, zu sagen: „Eigentlich weiß ich zu wenig über die katholische Kirche, um mir ein Urteil über scheinbare Fehlentwicklungen in dieser Kirche zu erlauben.“ Wie viele Menschen sehen eine Fernsehsendung, die kirchliches Versagen oder muslimischen Fanatismus zeigt, und erlauben sich hinterher Urteile, als ob sie Experten seien, die alle Facetten einer Situation wissenschaftlich untersucht hätten?

Einmal ist mir jemand begegnet, der etwas in der Zeitung las, was ein Propst in einer Predigt angeblich gesagt hatte. Er war maßlos entsetzt. Er war aber nicht bereit, sich auf die Frage einzulassen, ob das Zitat korrekt übertragen oder ob es aus dem Zusammenhang herausgerissen wurde. Er war ein Gefangener seiner eigenen Betrachtungsweise und konnte sich nicht auf die Frage einlassen, ob er manipuliert worden war – nicht nur durch die Berichterstattung, sondern durch seine Vorgeschichte und durch die Generation, zu der er gehörte.

Aber so sind wir Menschen. Als ich Theologie studierte, wurden wir Theologiestudenten von den Professoren manipuliert, die Bibel auf eine bestimmte Weise zu betrachten. Diese Manipulation war gutartig, sie war gut gemeint, sie war im Namen der Wissenschaft und der Sachlichkeit. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, bis ich nachträglich feststellen konnte, wie ich damals gelenkt wurde und was an dieser Lenkung falsch war. Aber das ist das normal zu erwartende. Denn wie Paulus schrieb: „unser keiner lebt sich selber.“ Wir sitzen alle in demselben Boot, wenn es um sogenannte objektive Wahrheit geht, denn wir Menschen sind alle begrenzt und beschränkt.

Der Römerbrieftext, der für heute vorgesehen ist, steht in einem bestimmten Zusammenhang. In Rom lebten Judenchristen und Heidenchristen in einer Gemeinschaft zusammen. Die Juden waren von den Speisevorschriften der Bibel geprägt. Sie konnten weder unreines Fleisch essen, noch Fleisch, das von einem heidnischen Opferkult stammte. Sie fühlten sich verpflichtet, den Sabbat zu heiligen. Die Heidenchristen hatten eine ganz andere Vorgeschichte. Sie konnten sich viel mehr Freiheit erlauben, ohne Gewissensbisse zu bekommen. Es gab deshalb Spannungen zwischen diesen Gruppierungen.

Paulus stellte fest, dass die kultischen Vorschriften des Alten Bundes für Heidenchristen nicht verbindlich sind. Aber dass heißt nicht, dass jeder einfach tun sollte, was er wollte, denn „unser keiner lebt sich selber“. Es gab die Gefahr, dass beide Gruppierungen bedenkenlos weiter so tun würden, als ob das, was sie denken, selbstverständlich ist, ohne darüber nachzudenken, wie sie von der eigenen Vorgeschichte geprägt worden sind, und ohne zu merken, wie sie andere manipulieren.

'The Pantocrator - Fresco in Troodos in Asinou Church', 2007, Ed89

Die Judenchristen sollten den Heidenchristen keine Vorhaltungen machen, weil sie einen freieren Lebensstil hatten. Die Heidenchristen sollten die Judenchristen nicht belasten, indem sie ihre Freiheit hemmungslos auslebten, sondern sie sollten Rücksicht auf dessen Skrupel nehmen. „Denn keiner lebt sich selber.“

Die Hauptsache, wie Paulus schreibt, ist dass jeder weiß, warum er etwas denkt und tut. Wer z. B. auf Arbeit am Sabbat verzichtet, sollte wissen, warum er Gott auf diese Weise verherrlichen will. Und wer am Sabbat arbeitet, sollte sich bewusst machen, warum er diese Freiheit hat und wie er Gott auf diese Weise verherrlichen kann.

Denn „leben wir, so leben wir dem Herrn“, schreibt er. Das heißt: alles, was wir tun und unterlassen, ist Gott geweiht. Alle Menschen sind Gott geweiht. Denn „wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“, heißt es. Zuletzt sind wir Gott Rechenschaft schuldig, wenn wir andere Menschen manipulieren oder belasten.

Dieser Text ist eine Aufforderung zur Bescheidenheit. Denn der Römerbrieftext verkündet eine große Verheißung.

Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.

Wir Menschen sind nicht für Vernichtung vorgesehen, sondern für ewige Zugehörigkeit zu Gott. Alles Leben ist Gott geweiht; jedes Menschenleben ist Gott heilig. Vor jedem Menschenleben sollten wir Christenmenschen deshalb Ehrfurcht haben. Und Ehrfurcht bedeutet Bescheidenheit, die zurückhaltende Bescheidenheit, die zugibt: „Eigentlich weiß ich zu wenig über meine Mitmenschen, um mir ein Urteil über sie zu erlauben. Nur Gott allein weiß, wie wir Menschen wirklich sind und warum wir so sind.“ Der Hintergrund zu aller gedankenlosen Manipulation ist mangelnde Bescheidenheit. Wenn mehr Menschen bereit wären zuzugeben, dass ihre Betrachtungsweise begrenzt ist, würde es weniger Verblendung geben.

Möge Gott uns helfen, so zu werden wie das Mädchen in der Realschule, das aus Bescheidenheit bereit war, eine eigene Ansicht gegenüber einer überwältigenden Mehrheit zu vertreten und sich nicht von einer Allgemeinheit manipulieren zu lassen. Dieses Mädchen ist das Urbild eines genügsamen Christenmenschen, der in dem Bewusstsein lebt: „Unser keiner lebt sich selber...wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“

Die Photographie 'Bonn, Gymnasium', 1988, Deutsches Bundesarchiv, wurde im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Bundesarchiv und Wikimedia Deutschland aus dem Bundesarchiv für Wikimedia Commons zur Verfügung gestellt. Das Bundesarchiv gewährleistet eine authentische Bildüberlieferung nur durch die Originale (Negative und/oder Positive), bzw. die Digitalisate der Originale im Rahmen des Digitalen Bildarchivs.
Die Photographie 'A classroom in a Japanese high school', 2001, strngwrldfrwl from Japan, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license.
Das Bild 'The Pantocrator - Fresco in Troodos in Asinou Church', 2007, Ed89, wurde von Marcobadotti, dem copyright Halter unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: I, the copyright holder of this work, release this work into the public domain. This applies worldwide.In some countries this may not be legally possible; if so: I grant anyone the right to use this work for any purpose, without any conditions, unless such conditions are required by law.

^ Zum Seitenanfang

PSch