Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Misericordias Domini: 1. Petrus 2, 21b – 25 Gibt es eine Gerechtigkeit?

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'Gerichtssaal im Europäischen Gerichtshof', 2009, Stefan64

Misericordias Domini

Gibt es eine Gerechtigkeit? 1. Petrus 2, 21b – 25

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2010

Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet; der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen. 1. Petrus 2, 21b – 25

In unserer Gemeinde hatten wir einmal einen pensionierten Richter, der bei einem Bibelgespräch behauptete: „Es gibt keine Gerechtigkeit“. Er fasste damit seine jahrelangen Erfahrungen als Richter zusammen. Wer die Zeitung sorgfältig liest, könnte auf die Idee kommen, ähnlich zu denken wie er.

Zum Beispiel: Am 9. September 1999 hatte ein Polizist, ein Oberkommissar, in einer Kleinstadt in der Nähe von Lüneburg Ärger mit einem Vorgesetzten. Um sich abzureagieren, trank er Whiskey bis er betrunken war. Dann setzte er sich um 20.30 Uhr - als es dunkel war - ans Steuer seines Autos. Mit 90 Stundenkilometern übersah er einen 14-jährigen Schüler auf einem Mountainbike, dessen Rad keine Beleuchtung hatte. Es gab einen entsetzlichen Unfall, bei dem der Junge sofort tot war. Der Polizist hielt an. Die Windschutzscheibe seines Wagens war geborsten, die Splitter lagen auf dem Beifahrersitz. Die Vorderfront war verbeult. Zeugen berichteten später, dass er ausstieg, sein Auto mehrmals umkreiste, etwas aufgehoben hatte, dann ist er wieder eingestiegen und weggefahren. Ob er das Opfer oder das Fahrrad gesehen hatte, ist nie geklärt worden.

Beim Prozess sagte der Polizist, dass er sich an den Zusammenstoß nicht erinnern konnte. Zwischen dem Whiskeytrinken auf der Wache und der Festnahme, als er später vom Schlaf durch Kollegen aufgeweckt wurde, konnte er sich an nichts erinnern. Als Strafe bekam er zuletzt 11 Monate Freiheitsentzug, ausgesetzt zur Bewährung. Er musste 4.500 Euro wegen Trunkenheit am Steuer und Unfallflucht zahlen. Und 5.000 Euro Wiedergutmachung an die Eltern.

Diese milde Strafe löste Entsetzen aus. Die Eltern des Opfers waren maßlos empört. Der Vater, der wegen dieses Vorgangs zuletzt schwer krank wurde, empfand den Verlauf des Strafverfahrens als persönliche Kränkung, als eine schallende Ohrfeige für sich und seine Familie. Nach Meinung der Mutter müsste der Täter eine lebenslängliche Gefängnisstrafe bekommen. In der Redaktion der Lokalzeitung stapelten sich Leserbriefe, deren Schreiber über die "lächerliche Bewährungsstrafe" entsetzt waren. "Dieses Urteil spricht jedem Rechtsempfinden hohn", schimpfte ein Leser.

Eine Art Selbstjustiz setzte ein. Überall, wo der Polizist auftauchte, gab es ein Spießrutenlaufen. Seine Frau, eine Krankenschwester, wurde auf der Straßen geschnitten. Seine Söhne wurden in der Schule gemobbt.

Der Polizist wurde 3 Jahre nach der Tat aus gesundheitlichen Gründen pensioniert. Er sagte: "Für mich ist dieser Fall auch in zehn Jahren nicht vorbei, der verfolgt mich bis ans Lebensende." Er weiß, dass er immer der Polizist bleiben wird, der im Suff ein Kind totgefahren hat. Er weiß, dass er sich in seiner Heimat nie mehr unbefangen bewegen kann. Und er weiß, dass ihm die Eltern des Opfers offenbar nie verzeihen werden, denn sie weigern sich, sich mit ihm zu treffen. Er sagt: "Ich lebe doch schon fast wie in einem Gefängnis, es sind nur keine Gitter drum herum."

Dieser Vorfall ist etwas Typisches. Fast jede Woche kann man in einer Tageszeitung von ähnlichen Vorfällen lesen. Es kommt immer wieder vor, dass Menschen die Kontrolle über sich selbst verlieren, ungeheuerlichen Schaden anrichten, Menschen töten und verletzten und hinterher eine Strafe bekommen, die so mild ist, dass man auf die Idee kommen könnte, dass Menschenleben eine Schleuderware wären und dass unser Justizsystem kein Mitgefühl für das Leid der Opfer hat.

Was würde Jesus zu dem Vorfall sagen? Anhand der Evangelien können wir einige Vermutungen aufstellen. Vermutlich würde Jesus dem milden Urteil zustimmen. Vermutlich wäre Jesus gegen jede Bestrafung, die eine Form der Rache wäre. Vermutlich würde Jesus darauf hinweisen, was die Bibel verkündet, nämlich dass ein Vergehen die eigene Strafdynamik beinhaltet, denn der Polizist wird keinen Frieden finden, bis er vor Gott als oberstem Richter steht. Vermutlich würde Jesus den Täter auf irgendeine Weise in Schutz nehmen und würde versuchen, bei ihm die Barmherzigkeit Gottes anzubringen. Vermutlich würde er über die Eltern des Opfers weinen, weil sie so unversöhnlich sind, und weil ihre Unversöhnlichkeit krankmachend ist. Jesus würde auf jeden Fall die Schmerzen aller Beteiligten mitfühlen, er würde dafür beten, dass Gnade und Vergebung sich durchsetzen. Er würde darauf hinweisen, dass Gott allein Gerechtigkeit verwirklichen kann und dass man auf diese Gerechtigkeit mit Geduld warten muss.

Das klingt vielleicht weltfremd. Jesus war aber nicht naiv. Es ist durchaus vorstellbar, dass er akzeptieren würde, dass eine Justiz auch Vergeltung als Gerechtigkeitsform einsetzen muss. Er würde akzeptieren, dass es Gefängnisstrafen geben muss, um die Unschuldigen zu schützen.

'Immanuelskirken', 2006, Ib Rasmussen

Denn Jesus wurde mit einem Hirten verglichen und ein Hirte trägt eine Keule bei sich (die in Psalm 23 „Stecken genannt wird), um seine Herde gegen wilde Tiere und Diebe zu schützen. Auch eine Steinschleuder gehörte zu der Ausrüstung eines Hirten, wie wir von der Begegnung zwischen David und Goliath wissen. Ein guter Hirte darf kein Pazifist sein, sondern muss bereit sein, seine wehrlosen Schafe mit Waffengewalt zu verteidigen. Aber Gewalt allein reicht nicht aus, um Gerechtigkeit zu verwirklichen.

In dem Text aus dem 1. Petrusbrief, der für heute vorgesehen ist, heißt es:

Er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet.

Diese Worte erinnern an das Verhalten Jesu nach seiner Verhaftung. Er hat Spott und Misshandlung schweigend ertragen. Als er am Kreuz hing, hat er nicht gesagt: Dieses Unrecht werdet ihr alle eines Tages bereuen, sondern hat um Vergebung für alle gebetet, die dazu beigetragen hatten, dass er so grausam hingerichtet wurde.

Der Text aus dem 1. Petrusbrief liefert eine Erklärung für seine Verhaltensweise:

er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet.

Das heißt: er vertraute darauf, dass Gott seine Gerechtigkeit durchsetzen würde. Und er bezeugte, wie jeder Mensch zu der Gerechtigkeit Gottes beitragen kann, nämlich, indem man Gnade und Vergebung vorbedingungslos schenkt, indem man nach einem Schlag ins Gesicht die andere Wange hinhält, indem man Unrecht geduldig erträgt.

Die Gerechtigkeit Gottes wird zwar erst jenseits der Geschichte dieser Erde vollkommen verwirklicht, aber das heißt nicht, dass sie völlig abstrakt wäre oder nur jenseitig. Sie nimmt schon jetzt konkrete Gestalt an.

'Frozen light in a snow weekend MANZANEDA', 2008, Paulo Brandao

Es gibt z. B. einen Richter in dem US-Bundesstaat Ohio, der etwas von der Gerechtigkeit Gottes veranschaulicht. In manchen Bundesstaaten haben Richter die Freiheit, sogenannte „kreative Strafen“ auszuführen – als Alternative zu Gefängnis- oder Geldstrafen. Es gab z. B. ein Tierheim in der Stadt Painesville. Im Jahre 2005 wurde die Leiterin dieses Heimes verhaftet. Offenbar wollte sie Geld und Mühe sparen und hat einige von ihren anvertrauten Haustieren in einem Wald ausgesetzt. Der Richter, Michael Cicconetti, verordnete, dass sie eine Nacht im Wald allein zu verbringen hatte, damit sie erleben würde, was sie den Tieren angetan hatte. Er sagte dazu: „Sie können den Koyoten und den Waschbären zuhören.“ Es war allerdings eine eisige Winternacht, und nach dreieinhalb Stunden erfuhr sie Gnade; sie wurde abgeholt und durfte den Rest der Nacht in einer warmen Gefängniszelle verbringen. Solche Strafen, bei denen ein Täter in die Situation des Opfers versetzt wird, sollen nach bisherigen Erfahrungen eine heilsame Wirkung haben.

Diese Begebenheit veranschaulicht, wie Gott Gerechtigkeit verwirklichen wird. Irgendwann wird jeder Mensch vor Gott als Richter treten. Und in Jesus ist zu erkennen, was wir in diesem Moment erleben werden. Wir werden Gott sehen, wie er wirklich ist, und wir werden erleben, wie unermesslich gütig und liebevoll er ist. Unsere Augen werden aufgehen und wir werden seine Gnade und Barmherzigkeit mit voller Wucht erkennen. Aber dieses Erlebnis wird nicht nur angenehm sein, denn unsere Augen werden aufgetan und wir werden sehen, was wir anderen Menschen angetan haben, das Gute und das Böse. Wir werden uns in die Situation unserer Mitmenschen versetzen können. Wir werden mit stechender Klarheit nachempfinden können, was wir angerichtet haben, das Gute und das weniger Gute. Diese Erfahrung wird uns heilen und reinigen. Nach einer solchen Erfahrung sind alle anderen denkbaren Strafen hinfällig.

Ausschlaggebend sind Gnade und Barmherzigkeit. Nur ein Mensch, der grenzenlose Vergebung empfangen hat, wird von aller Blindheit befreit. Strafen bewirken nur Trotzreaktionen. Gnade allein bewirkt eine umfassende Befreiung und Reinigung.

Als Christusnachfolger sind wir dazu berufen, die Gerechtigkeit Gottes vorwegzunehmen, indem wir so handeln wie Jesus, von dem es heißt, dass er „nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet“. Wie es im Text heißt: Christus hat sich für uns eingesetzt, „damit wir der Gerechtigkeit leben“. Möge Gott uns helfen, seine Güte und Barmherzigkeit zu verkörpern und zu bezeugen, damit seine Gerechtigkeit in dieser Welt möglichst bald verwirklicht wird.

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Die Photographie 'Frozen light in a snow weekend MANZANEDA', 2008, Paulo Brandao, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license.

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