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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Karfreitag: „Mein täglich Feindbild gib mir heute“

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'Ночь на Голгофе', Vasily Petrovich Vereshchagin, 1835–1909

Karfreitag

„Mein täglich Feindbild gib mir heute“

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2010

Neulich erschien im Internet ein Beitrag mit der Überschrift „Mein täglich Feindbild gib mir heute“. Der einleitende Satz lautete: „Mediale Hassfiguren sind unersetzlich. Zu ihnen zählen Heidi Klum, Dieter Bohlen oder Politiker wie Guido Westerwelle und Roland Koch. Je mehr diese Menschen an unseren Nerven sägen, desto weniger können wir von ihnen lassen.“ In diesem Artikel wurde hervorgehoben, wie sehr unsere Bevölkerung Feindbilder braucht: genauer gesagt, Prominente, über die man sich aufregen kann. Es gibt ein tiefes menschliches Bedürfnis, empört zu sein, sich moralisch zu entrüsten. Wenn Berühmtheiten sich daneben benehmen, gibt es eine heimliche Schadenfreude, denn die eigenen Unzulänglichkeiten erscheinen unwesentlich im Vergleich zu den Ungeheuerlichkeiten, die sich Prominente erlauben. Wer sich über das Gehalt von Josef Ackermann gewaltig empören kann, braucht keine Gewissensbedenken mehr über den eigenen Umgang mit Geld zu haben. Wer Selbstzweifel hat, ob man vielleicht zu viel Alkohol trinkt, braucht nur auf Margot Käßmann zu schauen, um Gewissensentlastung zu bekommen. Wer mit der eigenen Aggressivität nicht zurecht kommt, kann diese Angriffslust auf die Prominenten projezieren, die auf dem Bildschirm oder in Boulevard-Zeitungen für Sensation sorgen. Wer einen anderen herabwürdigt, kann sich selbst dadurch aufbauen.

'Sending Out the Scapegoat', William James Webb, 1830—1904

Wenn man von medialen Feindbildern spricht, muss man vor allem an die katholische Kirche denken. Für Menschen, die sich moralisch entrüsten wollen, ist die katholische Kirche – salopp gesagt – „ein gefundenes Fressen“, denn sie bietet vielfältige Angriffsflächen. Wer unterschwellig ein schlechtes Gewissen hat, weil sein Verhältnis zu der Kirche oder zu Gott ungeklärt ist, kann eine Art Selbstreinigungsprozess durchführen, indem man sich über lästerliche Priester empört. Das gilt besonders für Evangelische. Was würden Protestanten und was würden die öffentlichen Medien ohne die katholische Kirche machen? Sie bietet fast täglich einen Anlass, erschüttert zu sein. Alle heimlichen, anonymen Sünden, die in der eigenen Seele lauern, kann man mit einem Befreiungsschlag loswerden, indem man sich über Zustände in der katholischen Kirche moralisch entrüstet.

Es gibt einen biblischen Begriff für die Feindbilder, die Schuld-Entlastung bieten: nämlich der Sündenbock. Zur Zeit Jesu wurden die Sünden des Volkes auf einen Ziegenbock übertragen und danach wurde dieser Sündenträger in die Wüste geschickt. Dieser Opfervorgang sollte das Volk reinigen.

In der heutigen Zeit sind die Sündenböcke nicht vorgegeben, sondern sie ergeben sich, je nach Situation. Auf Arbeitsplätzen, in Schulen und in Familien dienen Mobbingopfer als Sündenböcke. In den öffentlichen Medien kann man sich einen Sündenbock aussuchen. Es gibt immer etwas –Topmanager, Islamismus, Internatschulen, Sozialhilfebetrüger. Wer sich entsetzen will, um sich selbst zu rechtfertigen, findet täglich einen Anhaltspunkt.

Wir Menschen neigen also dazu, unsere verborgene Schuld auf andere zu projezieren. Da ergibt sich die Frage: wie kann Gott uns aus einer solchen Verstrickung befreien?

Gott will uns Gnade und Vergebung vermitteln. Aber mit Worten allein wird seine Gnade bei uns nicht ankommen. Es genügt nicht, dass Gott zu einem Menschen sagen würde: ich liebe dich, ich vergebe dir. Denn die Aggressivität in menschlichen Herzen ist abgrundtief verwurzelt. Es ist nicht zu ermessen, wie viel Gewalt und Missbrauch innerhalb Familien vorkommen, die nicht gemeldet werden und deshalb verborgen bleiben. Dass unsere Bevölkerung täglich Sündenböcke braucht, auf die man herabschauen kann, zeigt, dass eine Feindseligkeit in uns Menschen lauert, die man mit Worten allein nicht erreichen kann.

Und weil Worte allein nicht ausreichen, hat Gott der Menschheit einen Sündenbock präsentiert: nämlich Jesus Christus, „das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt“. Dass Jesus ein wirksamer Sündenbock war, wurde am Kreuz anschaulich, als er verspottet wurde. Die verborgene Aggressivität, die in den Menschen damals lauerte, wurde auf diesen Prominenten übertragen. Es heißt in dem Matthäusevangelium:

Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe... Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten... Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.

Das Neue Testament bezeugt, dass es von Gott gewollt war, dass Jesus eine Sündenträgerrolle übernimmt. Aber diese Sündenbockdynamik reicht nicht aus. Es genügt nicht, dass unsere Sünden auf Jesus übertragen werden. Wenn Gott uns mit seiner Barmherzigkeit erreichen will, muss er tief in unsere Herzen eindringen. Und damit Gott die Tiefe unseres Herzens erreichen konnte, hat er am Kreuz eine Dimension seines Wesens offenbart, die uns unter die Haut und gegen den Strich geht. Gott hat nämlich auf Golgatha seinen Zorn offenbart.

'Lightning', 2005, Saperaud

Dieser Begriff „Zorn Gottes“ ist zwar anstößig, aber er ist ein wesentlicher Bestandteil der biblischen Botschaft. Das Wort „Zorn“ kommt 325 Mal in der Bibel vor, meistens im Zusammenhang mit Gott.

Es sind vor allem die Passionslieder unseres Gesangbuchs, die das Thema Zorn Gottes aufgreifen. Vorhin z. B. hat der Chor in einer Liedstrophe von den „Zornesruten“ gesungen, die Gott an Jesus vollzog. Es heißt in dieser Gesangbuchstrophe: „Die Straf' ist schwer, der Zorn ist groß“.(EG 83, 2) Diese Vorstellung, dass das Leiden Jesu am Kreuz ein Ausdruck des Zornes Gottes war, ist schwer zu verdauen. Hier kommt etwas zum Vorschein, was wir Menschen nicht einordnen können. Hier zeigt Gott ein fremdes Gesicht, das erschreckend ist. Der Gott, der sich auf Golgatha offenbart hat, ist ein Gott, den es nicht geben darf.

Denn wir wollen einen „lieben Gott“ haben. „Der liebe Gott“ darf nicht zornig sein. „Der liebe Gott“ darf nicht ein unschuldiges Opfer mit Zornesruten bestrafen. Der Gott, der sich in dem gekreuzigten Jesus offenbart hatte, vertritt eine Theologie, die es nicht geben darf. Die Passionslieder unseres Gesangbuches sind offenbar theologisch nicht korrekt. Sie sind an manchen Stellen ekelhaft. Sie vermitteln ein Bild von Gott, das nicht zumutbar ist.

Diese Passionsstrophen, die ausmalen, was Jesus stellvertretend für uns Menschen gelitten hat, gehen unter die Haut.

Aber genau darum geht es. Gott will den Menschen unter die Haut gehen. Gott will uns in einer verborgenen Tiefe des Herzens treffen, die sonst nicht zu erreichen wäre.

In dem Propheten Jeremia heißt es. „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ Nur Gott kann unsere Herzen ergründen; nur er weiß, wie er uns mit seiner Gnade erreichen kann. Und der Weg in die Tiefe unseres Herzens ging über Golgatha.

Denn das Herz ist ein Ablenkungskünstler. Die Sensationen, die täglich im Fernsehen zu betrachten sind, sind eine willkommene Ablenkung für das menschliche Herz. Die eigene Schuldhaftigkeit kann man gut verdrängen, wenn das Fernsehen jeden Abend um 20 Uhr eine Reihe von Sündenböcken liefert. Das Herz kann sich an entsetzlichen Dingen ergötzen und auf diese Weise vor dem Angesicht Gottes fliehen.

Aber auf Golgatha hört die Flucht vor dem Angesicht Gottes auf. Hier zeigt sich Gott mit einem Gesicht, das zwar abschreckend ist – entstellt und blutüberströmt – aber hier wird die Kluft zwischen Gott und Mensch überbrückt. Warum das so ist, bleibt ein Geheimnis.

Aber Millionen von Menschen haben Gemeinschaft mit Gott am Golgatha gefunden. Die Aggressivität – auch die Aggressivität Gottes - , die bei der Kreuzigung Jesu zum Vorschein kam, kann tatsächlich aggressive menschliche Herzen erreichen und in ihnen Frieden stiften.

'Schaf', 2008, Volker.G

Es gibt eine Frau, die einen Sommerurlaub in der Schweiz verbrachte. Bei einer Wanderung kam sie an der Hütte eines Schafhirten vorbei. Da sah sie ein Schaf, das hinfällig aussah, und sie fragte dem Hirten, was mit ihm los war. Der Hirte gab zu, dass er ein Bein dieses Schafes brechen musste, weil er keine andere Wahl hatte. Das Schaf war widerborstig gewesen: er entfernte sich immer wieder von der Herde und riskierte sein Leben, indem es an gefährlichen Abhängen wanderte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es abstürzen und umkommen würde. Aber noch schlimmer war es, dass andere Schafe ihm folgten. Es brachte nicht nur sich selbst, sondern andere Schafe in Gefahr. Nachdem das Schaf nicht mehr laufen konnte, war es böse auf den Hirten und versuchte, ihn zu beißen, als er versuchte, es zu füttern. Er ließ das Schaf zwei Tage lang in Ruhe. Danach brachte er dem Schaf etwas zu fressen und diesmal hat es das Futter nicht nur angenommen, sondern hat die Hand des Hirten geleckt - als Zeichen der Dankbarkeit. Der Hirte sagte: „Bald wird das Schaf wieder gesund und dann wird es sich vorbildlich verhalten. Es wird auf meine Stimme hören und nicht mehr eine Gefahr für die anderen sein.“

Diese Begebenheit kann als Gleichnis dienen für das, was Gott am Kreuz vollbrachte. Bei Jesaja 53 heißt es: „Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg.“ Menschen sind manchmal so eigenwillig wie Schafe, die sich selbst und andere ins Unheil bringen. Um uns zu retten, musste Gott etwas Drastisches tun. Er musste etwas brechen. Er musste nicht ein Bein brechen, sondern er musste vor allem die Götzenbilder zerbersten, die in uns lauern. Wie Calvin sagte: "Des Menschen Geist ist eine Götzenfabrik, die ständig in Betrieb ist." Das menschliche Herz ist unablässig dabei, Gottesverfälschungen zu produzieren. Das, was „Gott“ genannt wird, ist oft nur ein Phantasieprodukt. Das sieht man an der Sensationslust unserer Bevölkerung: wer ständig Sündenböcke braucht, zeigt dadurch, dass er den wahren, lebendigen Gott nicht kennt. Deswegen müssen selbstgemachte Gottesbilder zusammenbrechen, damit Gemeinschaft mit dem wahren, lebendigen Gott zugänglich wird.

Und deshalb hat sich Gott in dem gekreuzigten Christus offenbart. Den Gott, der sich auf Golgatha offenbart hat, hat sich kein Mensch ausgedacht. Niemand würde auf die Idee kommen, sich Gott so vorzustellen: ein Gott, der seinen Zorn an einem unschuldigen Opfer auslässt, und gleichzeitig ein Gott, der als Mensch blutet und stirbt. Wer diesen Gott anbetet, der bekommt einen Frieden, der nicht von dieser Welt ist. Wer diesen Frieden bekommen hat, braucht keine Sündenböcke mehr. Möge Gott uns helfen, in dem gekreuzigten Christus den wahren, lebendigen Gott zu finden, damit wir einen Frieden bekommen und bezeugen können, der nicht von dieser Welt ist. Amen.

Nachtrag:
Der Zorn Gottes ist seine leidenschaftliche Liebe für uns Menschen, die sich gegen alles richtet, was ihn von den Menschen trennt, besonders gegen Sündhaftigkeit und Tod. Diese leidenschaftliche Liebe für die Menschen ist ein brennendes Feuer, das Gott dazu getrieben hat, Mensch zu werden und das schrecklichste Leiden auf sich zu nehmen, das vorstellbar wäre. Denn nur so konnte er uns dort abholen, wo wir uns befinden.

Das Bild 'Ночь на Голгофе', Vasily Petrovich Vereshchagin, 1835–1909, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Bild 'Sending Out the Scapegoat', William James Webb, 1830—1904, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Schaf', 2008, Volker.G, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Die Photographie 'Lightning', 2005, Saperaud, ist gemeinfrei (public domain) weil sie Material enthält, das von einem Angestellten des National Oceanic and Atmospheric Administration im Verlaufe seiner offiziellen Arbeit erstellt wurde.

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