Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Sexagesimae: Hebräer 4, 12. 13 Das Wort Gottes ist „madagat“

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Vorfastenzeit - Sexagesimae

Das Wort Gottes ist „madagat“ Hebräer 4, 12. 13

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2010

'St. Basil's Cathedral and Spasskaya Tower of Kremlin, Red Square, Moscow', 2005, Dmitry Azovtsev

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen. Hebräer 4, 12. 13

Es gibt unzählige Beispiele dafür, wie lebendig, kräftig und scharf das Wort Gottes sein kann. Zum Beispiel: während der Zeit der Sowjetunion wurde in Moskau ein Theaterstück mit dem Titel „Christus im Smoking“ aufgeführt. Es ging um atheistische Propaganda. Der Schauspieler, der Jesus spielte, war ein beliebter Darsteller mit dem Namen Alexander Rostovzey. Es war vorgesehen, dass er zwei Verse aus der Bergpredigt vorlesen sollte, dann sollte er sein Gewand abstreifen und ausrufen: „Gib mir meinen Smoking und meinen Zylinder“. Aber die Uraufführung lief nicht so wie vorgesehen. Der Schauspieler las vor: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Dann fing er an zu zittern. Offensichtlich war er überwältigt von dem, was er gerade vorgelesen hatte. Anstatt dem Textbuch zu folgen, las er die weiteren Seligpreisungen. Die anderen Schauspieler versuchten, ihn zu dem Textbuch zurückzulenken: sie husteten, sie stampften mit den Füssen, sie riefen ihm zu. Aber er war nicht davon abzubringen, aus Matthäus 5 weiter zu lesen. Als er fertig war mit Vorlesen, erinnerte er sich an einen Bibelspruch, den er in seiner Kindheit in seiner russisch-orthodoxen Kirche gelernt hatte: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Mit diesem Text hatte sich der Schauspieler vor dem Publikum Jesus Christus anvertraut. Dann ging der Vorhang herunter. Ohne Zweifel hat er gewusst, was er auf sich genommen hatte: sofortige Verhaftung und eine lange Gefängnisstrafe.

'Kremlevskaya Naberezhnaya street and Moscow skyline. In the left: Cathedral of Christ the Saviour', 2005, Dmitry Azovtsev

Was ist hier eingetreten? Dieser Schauspieler hat nicht nur entdeckt, dass Gott direkt zu seinem Herzen gesprochen hatte. Er hat auch seine eigene Identität entdeckt, die von dem Wort Gottes abgeleitet ist. Und diese Identität konnte er nicht mehr leugnen, egal was es kostete.

Dieses Ereignis veranschaulicht, wie das Wort Gottes wirken kann. Das Wort Gottes ist ein Ereignis, das kraftvoll eintreten kann. Das Wort Gottes ist zwar nicht automatisch identisch mit einem biblischen Text. Denn wenn ich z. B. die Seligpreisungen im Konfirmandenunterricht vorlesen würde, würde ich dadurch eher Langeweile verursachen, als dass etwas Dramatisches erfolgen würde. Aber das Wort Gottes ist in der Bibel verankert und kann aus einem Bibeltext entspringen. Das Wort Gottes ist etwas Lebendiges, was einen Menschen umhauen kann. Das Wort Gottes ist auch unberechenbar, deswegen wird es mit einem zweischneidigen Schwert verglichen.

Es gab einen Bibelübersetzer, der in einem nördlichen Teil der Philippinen arbeitete – unter einem Stamm mit dem Namen Agta. Er stellte fest, dass es besonders schwierig war, den Hebräerbrief in die Sprache dieses Stammes zu übersetzen, denn es gibt in diesem Buch viele Begriffe, die mit Ritualen des Tempelkults in Jerusalem zusammenhingen – eine völlig fremde Welt für einen Stamm in den Philippinen. Aber es gab eine Stelle des Hebräerbriefes, wo er eine geniale Übersetzungsmöglichkeit fand; nämlich die Stelle, die für den heutigen Sonntag vorgesehen ist, wo es heißt: „Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig.“

'NCCA NATIONAL HERITAGE SITE', 2007, Shubert Ciencia from Nueva Ecija, Philippines

Es gibt ein Wort in der Agta-Sprache, „madagat“, das stechend, giftig oder kräftig bedeuten kann. Eine giftige Schlange z. B. ist „madagat“, aber auch ein Arzneimittel, das heilend wirkt, wird „madagat“ genannt. Dasselbe Wort kann giftig, stechend, kräftig oder heilend bedeuten. Und so ist das Wort Gottes. Ein Assistent des Übersetzers erläuterte, wie er diese Stelle im Hebräerbrief verstand: „Alles hängt davon ab, wie wir zu dem Wort Gottes stehen. Wenn wir es hören und versuchen ihm auszuweichen, ist es wie eine giftige, stechende Schlange. Aber wenn wir davon leben, hat es eine kräftige, heilende Kraft und wirkt wie Medizin.“

Es ist auffallend, dass gerade Bibelübersetzer hautnah erleben, dass das Wort Gottes kräftig und lebendig ist. Das klassische Beispiel dafür ist der Bibelübersetzer Martin Luther, der ein „Aha“-Erlebnis hatte, als er sich mit einer Stelle aus dem Römerbrief auseinandersetzte. Von diesem Erlebnis leben wir Evangelischen bis heute. Durch das Übersetzen gibt es eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text. Wenn ein biblischer Text in die eigene Situation übertragen wird, kann das Wort Gottes lebendig und kräftig auftreten. Es wird zum Beispiel von einem chinesischen Gelehrten berichtet, der von einem Missionar beauftragt wurde, die Bibel aus dem Englischen ins Chinesische zu übersetzen. Während der Arbeit war es dem Gelehrten anzusehen, dass er immer aufgewühlter wurde. Schließlich wurde er gefragt, was mit ihm los war. Er antwortete: „Dies ist ein wunderbares Buch. Ich entdecke hier meine eigene Identität. Derjenige, der dieses Buch inspiriert hat, ist auch derjenige, der mich erschaffen hat." Hier ist auch eine auffallende Dimension des Wortes Gottes zu erkennen: dass die Identität, die in uns verborgen ist, zum Vorschein kommt. Das hat der Schauspieler in Moskau erlebt, der vorhin erwähnt wurde. Deswegen heißt es in dem Text:

Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes

Das Wort Gottes kann also eine aufwühlende Wirkung haben. Aber in dem Kontext des Hebräerbrieftextes geht es zuletzt nicht um das Aufwühlende, sondern um Ruhe. In diesem 4. Kapitel geht es um das Thema Ruhe. Ruhe ist der Inbegriff aller Verheißungen. So wie Gott am 7. Tag von seinem Schöpfungswerk ruhte, so ist der Mensch auch für eine Sabbatruhe vorgesehen. Es heißt: die Schöpfung wurde durch das Ruhen Gottes vollendet. Der Mensch soll auch zur Vollendung kommen, indem er in Gott zur Ruhe kommt. Wie es heißt:

Es ist also noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen. So lasst uns nun bemüht sein, zu dieser Ruhe zu kommen, damit nicht jemand zu Fall komme... Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert

„Ruhe“ in diesem Zusammenhang bedeutet nicht Stillstand. Es gibt so etwas wie eine trügerische Ruhe. Denn manche Menschen sind in ihrem Glaubensleben zu einem Stillstand gekommen, aber sind deswegen unruhig im Herzen. Eine trügerische Ruhe ist das, was das Wort Gottes wie ein zweischneidiges Schwert angreift.

Es gibt z. B. einen Pfarrer mit dem Namen Edmund Steimle, der folgendes feststellte:

„Immer wieder kommt es vor, dass ich mir einbilde, dass ich verstanden habe, wer Gott ist und was mein Leben ausmacht. Dann lese ich in der Bibel und werde erschüttert: ein Licht bricht in meine Welt hinein und demontiert mein gepflegtes Konzept von Gott und von meinem Leben. Meine gemütlichen Vorstellungen von Gott und Welt werden untergraben oder durchlöchert, und ich muss alles neu überdenken. Aber das ist gut so. Denn wenn solche Erschütterungen nicht eintreten würden, würde die Bibel keine Autorität über uns haben, sie wäre sonst nicht die Vermittlerin eines jenseitigen Wortes. Die Bibel wäre sonst ein langweiliges, gewöhnliches Buch, das mich in meinen Vorurteilen und bruchstückhaften Erkenntnissen bestätigen würde. Gerade weil die Bibel das Wort Gottes ist, wird sie mich aufrütteln und überraschen. Sie lässt nicht zu, dass ich Gott und Leben so definiere, wie es mir passt.“

Zuletzt will das Wort Gottes uns aber nicht aufrütteln, sondern zur Ruhe bringen. Das Wort Gottes ist ein zweischneidiges Schwert, das trügerische Gottesvorstellungen zerschneidet, damit wir Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott verwirklichen und in ihm zur Ruhe kommen können. Dieses Ruhen in Gott ist nicht Stillstand, sondern Ruhe im Sinne einer Befreiung, Befreiung von allem, was das Leben zu einer nervösen Hektik macht. Vor allem will uns das Wort Gottes von Todesangst befreien. Denn hinter allen Unruhen des Lebens steckt die Todesangst, die tief in jedem Herzen lauert. Nur das Wort Gottes kann diese Todesangst entlarven und mit Osterglauben überwältigen.

'Estudo pessoal da Bíblia', 2007, fotografia pessoal

Damit die Bibel als Wort Gottes zur Geltung kommt, kann es hilfreich sein, nicht nur allein für sich in der Bibel zu lesen sondern mit anderen zusammen die Bibel auszulegen. Es gibt in unserer Gemeinde verschiedene Bibelgesprächs-Angebote, die nicht so gut besucht sind, wie es eigentlich sein sollte. Nicht jedes Bibelgespräch wird automatisch eine Begegnung mit dem Wort Gottes sein, denn kein Mensch verfügt über das Wort Gottes. Aber ich habe es öfters erlebt, dass Menschen, die gemeinsam die Bibel auslegen, auf einmal tief in ihren Grundfesten erschüttert wurden. Das sind wohltuende Erschütterungen.

Denn durch das Wort Gottes entdecken wir, wer wir wirklich sind. Wie Dietrich Bonhoeffer schrieb:

Was wir unser Leben, unsere Nöte, unsere Schuld nennen, ist ja doch gar nicht die Wirklichkeit, sondern dort in der Schrift ist unser Leben, unsere Not, unsere Schuld und unsere Errettung. Weil es Gott gefallen hat, dort an uns zu handeln, darum wird uns nur dort geholfen werden. Nur aus der Heiligen Schrift lernen wir unsere eigene Geschichte kennen.

Möge Gott sein Wort unter uns freisetzen, dass wir entdecken, wer wir sind und die Ruhe finden, für die wir in Ewigkeit vorgesehen sind, damit wir diese Ruhe ausstrahlen können, damit wir für andere segensreich wirken können.

Die Photographien 'Kremlevskaya Naberezhnaya street and Moscow skyline. (In the left: Cathedral of Christ the Saviour)' und 'St. Basil's Cathedral and Spasskaya Tower of Kremlin, Red Square, Moscow', 2005, Dmitry Azovtsev, http://www.daphoto.info, sind urheberrechtlich geschützt von Dmitry Azovtsev. Es ist erlaubt, diese Bilder unter den Bedingungen der Creative Commons Attribution License zu nutzen.
Die Photographie 'NCCA NATIONAL HERITAGE SITE', 2007, Shubert Ciencia from Nueva Ecija, Philippines, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.
Die Photographie 'Estudo pessoal da Bíblia', 2007, fotografia pessoal, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic license.

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