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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Römerbrief 8, 31b – 39 Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?

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Altjahrsabend

Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Römerbrief 8, 31b – 39

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt am 31. Dezember 2009

'Siddhartha Gautama meditating', 2007, Sacca

Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? wie geschrieben steht (Psalm 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.« Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Römerbrief 8, 31b – 39

Es gibt eine buddhistische Erzählung von einer Großmutter aus der Stadt Savatthi in Indien, deren Enkelkind gestorben war. Sie suchte Siddhartha Gautama auf - auch Buddha genannt (d. h. der Erwachte), um seinen Rat zu bekommen, wie sie mit ihrer Trauer umgehen sollte. Siddhartha fragte nach, wie viele Menschen in ihrer Stadt wohnten. Sie gab eine Zahl an. Daraufhin fragte er: „Würden Sie gern so viele Kinder und Enkelkinder wie die Zahl der Bewohner von Savatthi haben?“ Die alte Frau erwiderte, dass sie das gern hätte.
Buddha sagte: „Aber wenn Sie so viele Kinder und Enkelkinder hätten wie Bewohner von Savatthi, dann müssten Sie jeden Tag weinen, denn Menschen sterben dort täglich. Wer 100 geliebte Personen hat, hat 100 Sorgen; wer 90 Geliebte hat, hat 90 Sorgen. Wer nur eine Person liebt, hat nur eine Sorge; wer niemanden liebt, hat keine Sorgen.“
Es heißt: die Frau ging getröstet nach Hause.

Wir müssen davon ausgehen, dass diese Geschichte hintergründiger ist, als sie wirkt, dass sie eine verborgene Botschaft enthält, die nicht sofort erkennbar ist. Aber auf jeden Fall wird hier vordergründig verkündet, dass ein Mensch lernen sollte, nicht zu sehr an geliebten Personen zu hängen. Liebe bedeutet unweigerlich Schmerz, denn das Leben ist vergänglich. Und diese buddhistische Geschichte bezeugt: wer in Frieden leben will, muss lernen, einen inneren Abstand von der Liebe zu finden. Man darf nicht zu viel lieben.

Für uns Christen gibt es allerdings eine ganz andere Perspektive. Die Bibel verkündet, dass Liebe von Gott kommt und dass die Liebe Gottes in uns Menschen Gestalt annehmen sollte. Nach christlicher Auffassung kann man nicht zu viel lieben, denn Gott in seiner Liebe ist unermesslich.

Aber je größer die Liebe, um so größer wird der Schmerz sein, wenn der Tod eintritt. Wie sollen wir zu diesem Leiden stehen, zu dem die Liebe zuletzt hinführt? Ist es unsere Lebensaufgabe, einen inneren Abstand von der Liebe zu suchen – wie die buddhistische Geschichte andeutet – oder ist es unsere Lebensaufgabe, um der Liebe willen schmerzhafte Trauer in Kauf zu nehmen?

'Sacrifice of Isaac', 1635, Rembrandt

Die Antwort auf diese Frage befindet sich in dem Römerbrieftext, der für heute Abend vorgesehen ist. Eine Schlüsselstelle dieses Textes ist am Anfang, wo es heißt:

Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Diese Sprache ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern stammte von einer alttestamentlichen Geschichte, die Geschichte von der Versuchung Abrahams. In dieser Geschichte hörte Abraham die Stimme Gottes, die ihn dazu aufforderte, seinen einzigen Sohn als Schlacht- und Brandopfer am Berg Morija als Opfergabe hinzugeben. Er ging hin zur Opferstätte und war dabei, diesen Auftrag auszuführen – sein Sohn lag auf dem Opferholz, das anzuzünden war, Abraham hatte das Messer in der Hand – als er von dem Engel des Herrn im letzten Moment davon abgehalten wurde. Und dann heißt es:

Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, will ich dein Geschlecht segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres.

Diese zwei Bibelstellen – aus dem Römerbrief und aus dem 1. Buch Mose - definieren sich gegenseitig. Es geht in beiden Texten um vorbehaltloses Vertrauen.

Abraham vertraute Gott bedingungslos, deshalb verschonte er seinen Sohn nicht. Gott vertraut uns bedingungslos, deshalb verschonte er seinen Sohn nicht.

Aber was bedeutet es, dass Gott uns vertraut? Es bedeutet: Gott vertraut darauf, dass es sich lohnt, uns allen seine volle Liebe zu schenken. Die Liebe Gottes ist rückhaltlos; er hält nichts zurück. Wenn er seinen eigenen Sohn nicht verschont hat – sondern zuließ, dass er gekreuzigt wurde – dann zeigt er damit, dass er uns alles schenken will, was er zu bieten hat.

Und weil Gott seine Liebe ohne Vorbehalt schenkt, sind wir dazu berufen, auch vorbehaltlos zu sein, wenn es darum geht, Liebe zu schenken. Die buddhistische Geschichte ist eine Aufforderung, die Liebe einzugrenzen. Die biblische Geschichte ist eine Aufforderung, die Liebe grenzenlos und schonungslos fließen zu lassen, egal welche Schmerzen dadurch entstehen.

Denn Gott verschonte sich nicht, sondern nahm unser Fleisch und Blut an, hat sich verwundbar gemacht, hat sich der Menschheit ausgeliefert und erlitt in Jesus den grausamsten Tod, den man sich vorstellen könnte, um seine Liebe zu offenbaren.

'US postage stamp of 1940 depicting en:Booker T. Washington', 2007, Wysinger, PD-STAMP

Wie sieht schonungslose Liebe im Alltag aus? Ein Beispiel dafür bietet ein Afroamerikaner mit dem Namen Booker Washington. Er wurde im Jahre1856 als Sklave auf einer Plantage geboren, und er wurde zu einem der bekanntesten Pädagogen, Sozialreformer und Bürgerrechtler seiner Zeit. Er gründete und leitete ein angesehenes Bildungsinstitut für Schwarze. Er bekam einen Ehrendoktortitel verliehen. Er erschien als erster Afroamerikaner auf einer Briefmarke. Sein Geburtsort ist heute ein nationales Denkmal. Hier ist also ein Mann, der hochprominent war. Aber einmal passierte folgendes. Booker Washington war in einer Stadt, um einen Vortrag zu halten. Er stand in der Eingangshalle eines Hotels, als ein Geschäftsmann eilig hereinkam. Der Geschäftsmann sah den Schwarzen und nahm automatisch an, dass es sich um einen Gepäckträger handeln musste. Er forderte ihn dazu auf, sein Gebäck in sein Zimmer zu bringen. Washington sagte: „Jawohl, mein Herr“ und trug das Gepäck. Später kam der berühmte Pädagoge zurück in die Eingangshalle, wo seine Freunde warteten, die diesen Vorgang beobachtet hatten. Sie waren entsetzt über die Unverschämtheit des Geschäftsmanns. Washington erwiderte folgendermaßen: „Der Geschäftsmann gab mir ein Trinkgeld. Ich nahm es an, damit er sich nicht bloßgestellt fühlen würde. Ich kann das Geld als Spende für die Ausbildung eines meiner Studenten einsetzen.“ Hier ist ein Beispiel, wie vorbehaltlose Liebe aussieht. Dieser Pädagoge hat sich überhaupt keine Gedanken über seine eigene Würde gemacht; seine einzige Sorge war, den Geschäftsmann nicht bloßzustellen und die Ausbildung eines Studenten zu fördern. Das ist die Art Liebe, die Gott offenbarte, als er seinen eigenen Sohn nicht verschonte.

Aber schonungslose Liebe ist nur deswegen sinnvoll, weil der Tod nicht das letzte Wort hat. Die buddhistische Geschichte, die am Anfang erwähnt wurde, hat als Hintergrund die unerbittliche Vergänglichkeit es Lebens. Aber für uns Christen gibt es einen anderen Hintergrund, nämlich die Verheißung der Auferstehung und Teilhabe an der ewigen Herrlichkeit Gottes. Vorbehaltlose Liebe ist voller Sinn, weil uns nichts von der Liebe Gottes trennen kann, wie der Römerbrieftext verkündet.

Wie es heißt:

Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Das heißt: alle Liebe, die wir einsetzen, ist nicht umsonst und geht nicht verloren, sondern wird zu der Vollendung beitragen, für die wir in Gott vorgesehen sind.

'Pennsylvania Station', 1962, PD-USGOV-INTERIOR-HABS

Es gab einen Arbeitslosen, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach New York reiste, um ein Leben des Bettelns zu beginnen. Er stieg an dem Pennsylvania-Bahnhof aus und fing an, auf der Straße nach Geld zu betteln. Nach etwa einem Jahr hatte er eines Tages eine unvergessliche Begegnung. Er tippte einer Person auf die Schulter und sagte: „Mein Herr, geben Sie mir bitte 10 Cent“. Als der angesprochene Mann sich umdrehte, war der Bettler erschüttert: er sah seinen eigenen Vater. Der Vater hatte 18 Jahre nach ihm geschaut – und jetzt in diesem Moment gefunden. Der Vater sagte: „Ich habe dich gefunden. Alles, was ich habe, gehört dir.“

Diese Begegnung kann für uns als Gleichnis dienen. Gott sucht nach uns, deswegen hat er seinen eigenen Sohn nicht verschont. Und wenn er uns findet, will er uns alles geben, was er hat. Und was er zu bieten hat ist ewige Geborgenheit und Heilung für alle Schmerzen, die wegen der Liebe entstanden sind. Gott schenkt uns seine Liebe und diese Liebe kann man nie verlieren. Deswegen wird man auch geliebte Personen nie verlieren. Wie Augustin sagte: „Man verliert niemals die, die man in dem liebt, den man nicht verlieren kann.“ Gibt es ein größeres Geschenk als diese Verheißung?

Möge Gott uns helfen, im neuen Jahr die Verheißung zu verinnerlichen, die lautet:

Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Das Bild 'Siddhartha Gautama meditating', 2007, Sacca, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Das Gemälde 'Sacrifice of Isaac', 1635, Rembrandt, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Abbildung 'US postage stamp of 1940 depicting en:Booker T. Washington', 2007, Wysinger, PD-STAMP, ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, da es von einem Beamten oder Angestellten einer US-amerikanischen Regierungsbehörde in Ausübung seiner dienstlichen Pflichten erstellt wurde und deshalb nach Titel 17, Kapitel 1, Sektion 105 des US Code ein Werk der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ist.
Die Photographie 'Pennsylvania Station', 1962, PD-USGOV-INTERIOR-HABS, wurde vom United States Library of Congress's Prints and Photographs Division unter der folgenden Lizenz zur Verfügung gestellt: the digital ID hhh.ny0411.

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