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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Römerbrief 13, 8 – 12 Visionen sind lebensnotwendig

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1. Sonnntag im Advent

Visionen sind lebensnotwendig Römerbrief 13, 8 – 12

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2009

'Johannes Cassianus, portret.
', 2008, Mladifilozof

Seid niemandem etwas schuldig, außer, dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Römerbrief 13, 8 – 12

Im 5. Jahrhundert gab es einen Priester mit dem Namen Johannes Cassianus; er war auch Mönch, Abt und Theologe. Er ist im Jahre 360 in der Nähe des Schwarzen Meeres geboren. Er ist viel in der Welt herumgekommen: er war in Bethlehem, in der Wüste Ägyptens, in Konstantinopel, in Rom und in Südfrankreich, wo er zwei Klöster gründete.

Es wird erzählt, dass dieser Cassianus - als er alt und lebensmüde war - eine Vision hatte. Er war entmutigt, weil es keinen erkennbaren Fortschritt für die Christenheit gab: die Bösartigkeit der Menschen breitete sich scheinbar hemmungslos aus. Also zog er sich in seine Kirche zurück und betete darum, sterben zu dürfen, damit er in eine bessere Welt käme. Während seines Gebetes wurde er in eine Ekstase versetzt und bekam eine Vision. Er schaute das Kruzifix an und sah, wie die fünf Wunden Christi anfingen, wie Diamanten zu leuchten. Dann kamen Tropfen aus den Wunden heraus, aber nicht Blut, sondern Wasser, und zwar kristallklares Wasser, das beleuchtet war. Die Tropfen fielen immer schneller, bis ein Strom entstand, der den Altar herunterfloss – über die Altartreppen - durch den Mitteilgang der Kirche und durch den Haupteingang heraus. Die dunkle Kirche wurde durch das strahlende Wasser beleuchtet. Dann hörte er eine Stimme, die von der Seite kam und sagte: „Das lebendige Wasser der Gnade, das ich durch meinen Tod am Kreuz für die Menschen erworben habe“. Der Mönch drehte sich um und sah Christus, der in seiner Nähe stand.

Christus führte Cassianus durch eine Tür und plötzlich standen beide oben auf dem Kirchturm. Der Priester konnte die ganze Stadt sehen, alle Straßen und Häuser und die Bewohner. Er sah, wie der Wasserstrom durch die Straßen floss, wie er in die Häuser ging und die Bewohner aufsuchte. Cassianus konnte sehen, wie Menschen niederknieten und von dem Wasser tranken; danach strahlten ihre Seelen – genau wie das Wasser strahlte. Er rief den Menschen zu, die nicht tranken, dass sie auch trinken sollten – aber sie konnten ihn nicht hören. Cassianus fragte Christus: „Wer sind diese Glücklichen, die so strahlen?“ Die Antwort lautete: „Das sind die Seelen, in denen Gott durch seine Gnade regiert.“

Danach war Cassianus mit Christus im Himmel. Er konnte die ganze Welt überschauen und er konnte sehen, dass der Wasserstrom der Gnade überall vorkam: er konnte sehen, dass manche Menschen wie Sterne funkelten – manchmal entstanden neue Sterngruppen, manchmal verschwanden Sterne. Christus sagte: „Du siehst das Reich Gottes auf Erden. Und nun darfst du entscheiden. Du darfst, wenn du willst, hier bleiben. Oder du kannst zu der Erde für sieben weitere Jahre zurückkehren und für das Ausbreiten des Reiches Gottes beten und arbeiten. Der Mönch fiel auf seine Knie und bat darum, zurückkehren zu dürfen. Auf einmal befand er sich wieder in der Kirche, wo die Vision angefangen hatte. Danach war er nicht mehr lebensmüde, sondern lebte dafür, möglichst viele Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen. Sein Lieblingsgebet wurde das Vater Unser. Bei den Worten „dein Reich komme“, hielt er immer an und betete diese Worte stundenlang. Nach sieben Jahren starb er mit diesen Worten auf seinen Lippen.

Diese Erzählung veranschaulicht, wie lebensnotwendig Visionen sind. Ohne Visionen gibt es keinen Lebenssinn und keine Kraft. Dieser Johannes Cassanius wollte sein Leben aufgeben, weil er nur die scheinbare Wirkungslosigkeit der Christenheit sehen konnte. Er sah eine Welt, die anscheinend nur von Rücksichtslosigkeit beherrscht war. Er sah keine Perspektive und war deshalb kraftlos und mutlos geworden.

Aber durch seine Vision sah er eine verborgene Wirklichkeit. Er sah, dass die Gnade Gottes dabei war, sich auszubreiten und konnte sehen, dass Gott dabei war, sein Reich in dieser Welt aufzurichten. Er erkannte, dass nicht der Egoismus zuletzt ausschlaggebend sein wird, sondern dass die Gnade Gottes dabei war, sich durchzusetzen. Und als er das alles sah, wollte er unbedingt an der Ausbreitung der Gnade mitwirken. Sein Leben hatte wieder einen Sinn.

Aber seine Vision konnte nur deswegen kraftbringend sein, weil sie der biblischen Botschaft entspricht. Wenn seine Vision nicht in der Bibel verankert gewesen wäre, wäre sie wirkungslos geblieben. Aber was Cassanius sah, entspricht der biblischen Verheißung, dass Gott tatsächlich dabei ist, sein Reich aufzurichten – allerdings auf eine Weise, die für menschliche Augen verborgen ist. Die Verheißung lautet, dass ein Tag kommen wird, an dem Gott sein Werk vollenden wird.

In dem Text aus dem Römerbrief, der für den 1. Advent vorgesehen ist, heißt es:

Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.

Hinter dieser Aussage steht eine Vision, wie die Welt eines Tages aussehen wird. Sie wird eine Welt sein, die von Liebe beherrscht ist. In dieser Welt der Liebe wird dem Nächsten nichts Böses angetan: es wird keine Demütigungen und keine Gewalttaten mehr geben. Diese Welt wird zwar eine Neuschöpfung Gottes sein, aber wir Menschen können schon jetzt zu dieser neuen Welt beitragen, indem wir Liebe praktizieren und dem Nächsten nichts Böses antun. Was wir jetzt tun wird zu dem beitragen, was Gott vorhat.

Und seit Jahrtausenden arbeitet Gott daran, diese neue Schöpfung entstehen zu lassen. Die Finsternis der alten Welt ist noch mit uns, aber der Anbruch eines neuen Tages steht bevor und ist sogar näher herangerückt.

Die Adventszeit ist dazu da, diese Vision von einem immer näher heranrückenden Tag der Vollendung wach zu halten. Es gibt eine Reihe von Bildern, die zu der Adventszeit gehören, die uns helfen können, die Vision einer kommenden Welt zu pflegen.

Wir haben zum Beispiel vorhin das Lied gesungen: "O komm, o komm, du Morgenstern." Der Morgenstern ist der Planet Venus, der hellste Stern am Himmel, der in der Dunkelheit erscheint, wenn die Nacht weit vorangeschritten ist. Wenn der Morgenstern in der Morgendämmerung erscheint, dann kann man wissen, dass der neue Tag nahe ist. Christus ist für uns der Morgenstern, der erschienen ist, als diese Welt noch finster war, der aber das Licht einer aufgehenden Sonne anzeigt.

Das Evangelium zum 1. Advent erzählt von dem Einzug Jesu in Jerusalem. Als Jesus einzog wurde er öffentlich als Messias Israels gefeiert. Und genauso wird er eines Tages als Messias der ganzen Welt öffentlich erscheinen und von allen gefeiert werden. Wie es in dem Philipperbrief heißt:

In dem Namen Jesu sollen sich beugen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Letzte Woche bekam ich eine Werbung von Telekom mit dem folgenden Angebot:

„Grenzen gab’s gestern. Sehen Sie, was Sie wollen, wann Sie wollen“ Und dann hieß es: „Zeitversetztes Fernsehen: Laufende Sendungen einfach anhalten und später fortsetzen oder Lieblingsszenen zurückspulen und beliebig oft wiederholen. Videoload: Jederzeit über 5.000 Filme und Serien einfach per Knopfdruck abrufen. TV-Archiv: Rund 3.000 verpasste Sendungen oder Lieblingsfilme einfach kostenlos abrufen und anschauen –unabhängig von festen Sendezeiten.“

'Ernesto Cardenal a la Chascona', 2009, Roman Bonnefoy

In der Adventszeit versuchen wir in der Kirche etwas Ähnliches abzurufen, was Telekom hier anbieten will. Die Visionen, die veranschaulichen, was Gott mit dieser Welt vorhat, wollen wir als Christenheit auch immer wieder anschauen. Der Slogan: „Grenzen gab’s gestern. Sehen Sie, was Sie wollen, wann Sie wollen“ gilt auch für uns. In der Bibel und in unseren Kirchenliedern können wir sehen, was wir wollen, wann wir wollen. Wir können sehen, was die restliche Welt noch nicht erblicken kann, nämlich, dass eine Welt der Liebe entstehen wird, dass Gott dabei ist, hinter der Oberfläche eine neue Welt zu schaffen. Anhand der Bibel und anhand der Adventslieder können wir sehen, das die Nacht vorgerückt ist und dass der Tag bevorsteht.

Ernesto Cardenal, ein katholischer Priester aus Nicaragua, Befreiungstheologe und einmal Kultusminister der Regierung seines Landes, schrieb ein Gedicht mit dem Titel „Apokalypse“, eine Vision, wie die Welt durch atomarische und biologische Waffen untergeht und danach neu entsteht. Diese Vision der Zukunft endet mit dem Satz: „Und die Erde war fröhlich und da war ein Neuer Gesang und all die andern bewohnten Planeten hörten die Erde singen und es war ein Lied der Liebe.“ Die Liebe hört niemals auf; die Liebe wird siegen. Möge Gott uns helfen, die biblischen Visionen am Leben zu erhalten, die für uns lebensnotwendig sind.

Die Abbildung 'Johannes Cassianus, portret.', 2008, Mladifilozof, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Ernesto Cardenal a la Chascona', 2009, Roman Bonnefoy, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Wir danken Stefan Binnewies (www.capella-observatory.com) für die freundliche Genehmigung, das Bild 'Venus near Moon', 2004, kostenlos zeigen zu dürfen.

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