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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Mose 8, 18 – 22 Chaos und Schöpfungsordnung

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20. Sonntag nach Trinitatis: 1. Mose 8, 18 – 22 Chaos und Schöpfungsordnung

Gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 1999

'Noah. Mosaic in Basilica di San Marco, Venice', XII-XIII century, anonimous master, Shakko, 2008

So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, dazu alle wilden Tiere, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

1. Mose 8, 18 – 22

Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts gab es auf den hawaiischen Inseln eine grausame Sitte. Nach dem Tod eines Königs wurden einige Tage lang alle Gesetze aufgehoben. Die Leute rasierten ihr Haar ab, und es gab Selbstverstümmelungen mit Feuer oder Messern. Sie haben auch ihre Häuser gegenseitig zertrümmert oder mit Feuer angezündet. Aber dies waren relativ harmlose Beschäftigungen im Vergleich zu der Brutalität, die sich entfesselte. Jede Art Verbrechen, Betrunkenheit und Abartigkeit wurde erlaubt und ausgeführt; sogar Mord. Es herrschte ein totales Chaos. Aber nach einigen Tagen war alles vorbei. Als christliche Missionare nach Hawaii kamen, trugen sie wesentlich dazu bei, dass diese Sitte abgeschafft wurde.

In dieser Sitte offenbart sich eine Eigenart, die tief in unseren Herzen verborgen liegt. In jedem Land dieser Erde gibt es Beispiele für Neigung, Chaos entstehen zu lassen, das in unseren Herzen lauert. Zum Beispiel: Bei einer mexikanischen Fiesta offenbart sich die selbe Dynamik. Octavio Paz, eine bekannter mexikanischer Schriftsteller, beschreibt eine Fiesta mit den folgenden Worten:

'La fiesta del Señor de Chalma', Fernando Leal

„Bei gewissen Fiestas verschwindet jeder Gedanke der Vernunft. Chaos kehrt wieder zurück und Ausschweifung herrscht. Alles ist erlaubt. Die gewöhnlichen Rangordnungen verschwinden, wie auch alle sozialen, sexuellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unterschiede. Männer verkleiden sich als Frauen, Herren als Sklaven, die Armen als Reiche. Die Armee, die Priester und das Gesetz werden lächerlich gemacht. Gotteslästerung und Entheiligung werden begangen. Regelungen, Gewohnheiten und Sitten werden geschändet...Deswegen ist die Fiesta eine Aufruhr, ein plötzliches Untertauchen in eine Gestaltlosigkeit. In dem Durcheinander, das sie erzeugt, wird die Gesellschaft aufgelöst, wird trunken...Aber sie ertrinkt in sich selbst, in ihrem eigenen, ursprünglichen Chaos. Alles ist vereinigt: Gut und Böse, Tag und Nacht, das Heilige und das Profane. Alles verschmilzt, verliert Gestalt und Individualität und kehrt zu der ursprünglichen Masse zurück.“

Was dieser Mexikaner beschreibt, entspricht der Sintflut, von der das 1. Buch Mose berichtet. Denn was ist eine Sintflut? Eine Sintflut ist die Auflösung der Schöpfung. Kapitel 1 im 1. Mose berichtet wie die Welt am Anfang aussah. Es gab Verschwommenheit und Durcheinander. Und die Schöpfung bestand darin, dass Gott aus diesem ursprünglichen Chaos eine friedliche Ordnung schuf. Es gab Licht und Finsternis, es gab eine Trennung des Wassers, so dass es Wasser oben im Himmel und Wasser unter der Erde gab, dann gab es die Unterscheidung zwischen Land und Wasser, es gab die Unterscheidung zwischen Tag und Nacht, zwischen Mann und Frau, und die Schöpfung wurde durch die Unterscheidung zwischen Arbeitswoche und Ruhetag vollendet. Und die Sintflut bestand darin, dass diese Unterscheidungen aufgehoben wurden; Wasser oben und Wasser unten kamen wieder zusammen, die Land/Wasser-Unterscheidung wurde aufgelöst, Tag und Nacht sind zusammengeschmolzen, Arbeitswoche und Ruhetag gab es nicht mehr. Nur in der Arche Noahs wurde bruchstückhaft die Ordnung der Schöpfung aufbewahrt.

'The Deluge', 1834, John Martin

Die Sintflut war aber in erster Linie nicht ein Naturereignis, sondern eine Offenbarung. Hier wurde offenbart, was tief in menschlichen Herzen verborgen liegt. Die Sintflut entstand, wie es heißt, weil „der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar.“ Die Sintflut ist eine Veranschaulichung, wie dieser Satz gemeint ist. Tief in Menschenherzen verborgen ist eine Maßlosigkeit, die sich gegen Gott und gegen seine Schöpfungsordnung auflehnt. Und diese Verdorbenheit im Herzen sehnt sich nach einem totalen Chaos. Die Gesetze und Sitten, die eine friedliche Ordnung bedeuten, sollen einfach ausgelöscht werden; die Unterscheidungen zwischen gut und böse, zwischen heilig und unheilig, zwischen anständig und abartig sollen einfach verschwinden.

Zum Beispiel: warum ist es nicht möglich, Krieg abzuschaffen? Es gilt inzwischen als historische Tatsache, dass niemand einen Krieg gewinnen kann. Es ist bekannt, dass Krieg das Schlimmste ist, was es gibt. Es ist bekannt, dass Krieg sinnlose Zerstörung bedeutet. Und trotzdem entsteht er immer wieder. Meistens werden Kriege dadurch erklärt, dass machthungrige Regierende sie auslösen, gegen den Willen der Bevölkerung. Aber die Regierenden könnten keinen Krieg anfangen, wenn es nicht in Menschenherzen diese Verdorbenheit gäbe, die sich an Chaos freute.

Ein schottischer Schriftsteller schrieb in diesem Zusammenhang folgendes:

„Historiker behaupten, dass Kriege aus wirtschaftlichen Gründen entstehen. Sie irren sich. Wirtschaft ist nur die Ausrede; der Grund, weshalb Krieg entsteht, ist, dass er das zerstört, was wir alle zerstört haben wollen: den Status Quo, mit dem wir unsere eigenen Hemmungen identifizieren. Krieg allein entfesselt uns. Er ist nicht ein notwendiges Übel, sondern ein notwendiges Vergnügen.“

Ein anderes Beispiel für die Auflehnung gegen die Schöpfungsordnung ist der gegenwärtige Drang, die Geschäfte sonntags zu öffnen. Die Unterscheidung zwischen Arbeitswoche und Ruhetag gehört zu der Schöpfungsordnung und wird immer wieder angegriffen. Zum Beispiel: während der französischen Revolution gab es einen massiven Versuch, den christlichen Sonntag abzuschaffen. Damals sagte Voltaire: Wenn wir das Christentum zerstören wollen, müssen wir den christlichen Sabbath zerstören.“ Und es wurde ein neuer Wochenrhythmus eingeführt: 9 Tage Arbeit und 1 Ruhetag in einer 10-tägigen Woche. Aber dieses Experiment scheiterte, denn Mensch und Tier hielten diesen Rhythmus nicht aus. Zum Beispiel: Pferde sind auf der Straße zusammengebrochen, weil sie nicht genügend Ruhe hatten. Und zuletzt musste der biblische Wochenrhythmus wiederhergestellt werden.

Tief in Menschenherzen verborgen gibt es also eine Auflehnung gegen Gott und seine Ordnungen. Und der Text, der für heute vorgesehen ist, schildert die Situation nach der Sintflut:

Und der HERR sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Gott will also trotz des Chaos in menschlichen Herzen eine friedliche Schöpfungsordnung wiederherstellen. Und Noah und seine Nachkommen sind der Anfang einer neuen Menschheit, die diese friedliche Ordnung bezeugen sollen. Und zu den Nachkommen Noahs gehören auch wir als Christenheit. Denn auch wir können einen Beitrag leisten für die Schöpfungsordnung und gegen den menschlichen Drang nach Chaos.

'Zwiesprache', 1977 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Zwiesprache', 1977
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Wegweisend hier ist die Geschichte von Sodom und Gomorra, die auch in diesem 1. Buch Mose vorkommt. Sodom und Gomorra waren zwei Städte, die dem Untergang geweiht waren, weil die Bewohner hoffnungslos verdorben waren. Abraham ist Gott gegenüber für diese Städte eingetreten: seine Verhandlung mit Gott ist das erste Fürbittengebet in der Bibel. Abraham fragte Gott, was wäre, wenn 50 Gerechte in Sodom vorkämen; würden diese 50 auch mit der Stadt untergehen? Gott antwortete: Nein, wenn es 50 gerechte Menschen in Sodom gäbe, dann würde ich ihretwegen die Stadt schonen. Abraham verhandelte weiter: vielleicht gibt es nur 45 Gerechte! Vielleicht nur 40! Zuletzt ging Abraham bis zu der Zahl 10. Wenn 10 Gerechte in Sodom anwesend wären, bliebe die Stadt erhalten.

Wegen dieser Geschichte entstand im Judentum die Sitte, dass ein Gottesdienst nur dann stattfinden kann, wenn mindestens 10 Männer anwesend sind. Denn 10 Menschen, die zu Gott beten, können eine Stadt vor dem Verderben bewahren.

In der Christenheit gibt es etwas Vergleichbares. Christus sagte zu seinen Anhängern: „Ihr seid das Salz der Erde.“ Salz wurde zur Zeit Jesu eingesetzt, um Fleisch vor dem Verderben zu bewahren. Die Anhänger Christi sind also wie Salz – äußerlich gesehen, sind sie klein und scheinbar bedeutungslos – aber sie können eine Wirkung auf ihre Umwelt haben, die in keinem Verhältnis zu ihrer Größe steht; sie können dazu beitragen, dass Verderben abgewendet wird.

Zum Beispiel durch Fürbittengebet. Im Jahre 1995 gab es in San Francisco ein Experiment, um festzustellen, ob Fürbittengebet eine medizinische Wirkung hat. 400 Patienten waren beteiligt. 200 Patienten, die einen Herzinfarkt erlitten hatten, wurden einer Gruppe von Christen zugeteilt, die für ihre Genesung gebetet haben. 200 weitere Patienten dienten als Kontrollgruppe. Sie bekamen genau dieselbe medizinische Betreuung, aber niemand hat für sie gebetet. Es wurde im Laufe der Zeit festgestellt, dass die Patienten, für die gebetet wurde, in einem deutlich besseren Zustand waren als die Patienten ohne Fürbittengebet. Die Patienten, die Gebet bekamen, sind häufiger am Leben geblieben, und es kam weniger oft vor, dass sich ihr Zustand durch einen Schlaganfall oder durch einen weiteren Herzinfarkt verschlechterte. Der Arzt, der dieses Experiment durchführte, stellte in seinem Abschlussbericht fest: „Fürbittengebet hat eine heilsame, therapeutische Wirksamkeit.“ Und man könnte ergänzend dazu sagen: Fürbittengebet hatte eine bewahrende Wirkung.

Und dieses Experiment kann auch als Gleichnis dienen für die Wirkung des christlichen Gottesdienstes. Der liturgische Gottesdienst ist wie die Arche Noahs: da wird inmitten einer chaotischen Welt ein Stück Schöpfungsordnung bewahrt. Im Abendmahlsgottesdienst feiern wir eine Weltordnung, die Gott für diese Welt vorgesehen hat und die eines Tages eintreten wird. Wenn wir zum Beispiel singen: „Alle Lande sind seiner Ehre voll“, so nehmen wir den Tag vorweg, an dem die ganze Welt mit der Herrlichkeit Gottes gefüllt wird. Und in jedem Gottesdienst beten wir für eine friedliche Ordnung.

'Gottesdienst im Kirchsaal Süd'

Skeptiker werden sagen: die Christenheit betet seit 2000 Jahren für den Frieden in der Welt; was hat es gebracht? Auf diese Frage gibt es keine Antwort, denn um diese Frage zu beantworten, müsste man wissen, wie die Welt heute aussehen würde, wenn es keine seit 2000 Jahren betende Christenheit gegeben hätte. Aber im Glauben müssen wir davon ausgehen, dass der christliche Gottesdienst eine Wirkung hat, die nicht zu ermessen ist, auch nicht durch empirische Experimente.

Wenn wir Christen also sonntags zusammenkommen, um Gottesdienst zu feiern, tun wir das nicht nur um unsertwillen – es geht nicht nur um unsere eigene Erbauung - sondern wir tun es stellvertretend für unsere Umwelt, die nicht glauben und nicht beten kann. Wir sind die Nachkommen Noahs: in uns soll eine neue Weltordnung sichtbar werden; und die liturgische Ordnung, die wir verwenden, die für manche eine langweilige Belastung ist, ist eine große Hilfe, denn sie symbolisiert die Ordnung, die Gott für diese Welt vorgesehen hat, die wir uns nicht selber ausdenken müssen.

Möge Gott uns helfen, mit Treue und Ausdauer den Gottesdienst aufrechtzuerhalten. Amen.

Das Mosaik 'Noah. Mosaic in Basilica di San Marco, Venice', XII-XIII century, anonimous master, Shakko, 2008, ist im public domain, weil sein copyright abglaufen ist.
Die Abbildung 'La fiesta del Señor de Chalma', Fernando Leal, (Mural with name of "La fiesta del Señor de Chalma" by Fernando Leal on one of the walls of the San Ildefonso College located in the historic center of Mexico City. This work falls under Freedom of Panorama under Mexican law.), wurde unter den Bedingungen der Creative Commons "Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported"-Lizenz veröffentlicht.
Das Bild 'The Deluge', 1834, John Martin, ist im public domain, weil sein copyright abglaufen ist.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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