Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Joh. 9, 35 – 41 Menschensohn

« Predigten Home

'Blindenheilung, Neufassung', 1979 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Blindenheilung, Neufassung', 1979
Walter Habdank. © Galerie Habdank

17. Sonntag nach Trinitatis

Menschensohn Joh. 9, 35 – 41

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2001

Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn? Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's? dass ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's. Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an. Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden. Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde. Joh. 9, 35 – 41

Es ist erschreckend leicht, Menschen zu manipulieren. Diese Wahrheit demonstrierte ein Schüler mit einem Schulprojekt. Er sammelte Unterschriften für einen Antrag an die Regierung. Es ging um eine Flüssigkeit mit dem Namen „Dihydrogen Monoxyd“. Nach diesem Antrag sollte diese gefährliche Chemikalie total abgeschafft werden oder mindestens einer strengeren Kontrolle unterworfen werden. Denn Dihydrogen Monoxyd kann – nach Information dieses Antrags - 1. heftige Schweißausbrüche oder Übelkeit verursachen, 2. es ist ein wesentlicher Bestandteil von saurem Regen 3. als Gas kann es Verbrennung verursachen 4. man kann an dieser Substanz ersticken, wenn man sie einatmet 5. zerstörerische Erosion wird durch diese Chemikalie gefördert 6. es vermindert die Wirksamkeit von Autobremsen 7. es kommt in bösartigen Tumoren vor. 50 Personen wurden angesprochen, und 43 gaben ihre Unterschrift; 6 Personen waren unentschieden und nur eine wusste, was Dihydrogen Monoxyd wirklich ist - nämlich Wasser. Dieser Schüler wollte mit diesem Projekt demonstrieren, wie leicht es ist, Menschen zu manipulieren, indem man Wahrheiten auf eine einseitige Weise darstellt. Und Menschen sind besonders anfällig für Manipulation, wenn ihre Ängste angesprochen werden.

Wie leicht es ist, Menschen zu manipulieren, zeigte eine Studie zum Thema Zuckertabletten. Es ist erwiesen, dass Tabletten, die nur aus Zucker bestehen, manche Krankheiten heilen können – einfach deswegen, weil der Patient glaubt, dass er ein Medikament einnimmt, das für seine Symptome vorgesehen ist. Und noch erstaunlicher ist es, dass 33% der Befragten sagten, dass Zuckertabletten auf jeden Fall hilfreich sind, selbst wenn man weiß, dass es sich nur um harmlose Tabletten handelt und nicht um ein Medikament.

Dieses Beispiel zeigt, warum Menschen so anfällig sind für esoterische Heilsmethoden. Wenn ein Mensch an etwas glauben will– auch wenn er weiß, dass es sich nicht um objektive Wahrheit handelt – kann es eine positive Heilungswirkung haben. Menschen sind also anfällig für Manipulation, wenn ihre Wunschvorstellungen angesprochen werden.

Auch wir Christen sind für Manipulation anfällig. Die größte Manipulation geschieht in der Kindheit. Glaubensinhalte werden von Generation zu Generation vermittelt, egal ob sie sachlich richtig sind oder nicht. Die Kinder, die ich im Religionsunterricht habe, sind Opfer einer Überlieferung, die bedenkenlos von Generation zu Generation weitergegeben wird. Was Schüler glauben, lässt sich ziemlich genau beschreiben; denn sie glauben folgendes: alle Menschen, die an Gott glauben, sind Christen, Christsein muss nicht näher definiert werden. Außerdem haben die Kinder zu Hause gelernt: die Bibel ist nicht wichtig; Gottesdienst und Abendmahl sind nicht wichtig. Die Beziehung zu Gott muss nicht gepflegt werden, denn Gott ist nicht relevant. Der Inhalt des Osterfestes ist der Osterhase. Himmelfahrt ist Vatertag. Pfingsten ist ein viertägiges Wochenende. Epiphanias, Gründonnerstag, und Reformation existieren nicht. Advent und Weihnachten sind identisch. Die Hölle ist eine unterirdische Folterkammer mit ewigem Feuer, die vielleicht existiert. Falls der Himmel existiert, kommen alle Menschen automatisch dorthin oder nur Menschen, die gut waren. Aber eigentlich gibt es kein Leben nach dem Tod. So lauten die Glaubensinhalte von Schülern. Erstaunlicherweise finde ich ähnliche Glaubensinhalte im Altersheim. Ein bestimmtes Bild des Christseins wird von Generation zu Generation weitergegeben. Diese Manipulation ist so prägend, dass es so gut wie unmöglich ist, irgendetwas zu korrigieren, was in der Kindheit gelernt wurde. Kinder, wenn sie 10 oder 11 Jahre sind, haben Glaubensinhalte verinnerlicht, die inzwischen felsenfest sind. Durch die Überlieferung der Generationen werden wir Christen manchmal falsch programmiert.

Der Text, der für heute vorgesehen ist, zeigt, wie sehr viele von uns durch Überlieferung falsch programmiert worden sind. Denn Jesus stellt hier eine Frage, die viele Christen überhaupt nicht einordnen können. Jesus fragte den Menschen, den er von Blindheit heilte: „Glaubst du an den Menschensohn?“ Wie viele von uns wissen, was Jesus hier fragt? Diese Frage ist scheinbar trivial, denn warum soll es wichtig sein, ob Jesus der sogenannte Menschensohn ist?

Wenn ich zurückdenke an meine eigene christliche Erziehung , muss ich feststellen, dass der Begriff „Menschensohn“ keine Rolle gespielt hatte. Ich bekam eine gute christliche Erziehung; ich war seit der frühesten Kindheit jeden Sonntag im Kindergottesdienst und im Gottesdienst; ich war sogar in einer lutherischen Schule während der ersten 9. Schuljahre. Aber trotz all dieser Vorteile hatte ich nie gelernt, was der Begriff Menschensohn bedeutet, denn dieser Begriff wurde im Laufe der Jahrhunderte aus der christlichen Tradition herausgefiltert. Man könnte 1000 aktive Christen fragen, was Menschensohn bedeutet und es würde mich wundern, wenn ein Einziger zu diesem Begriff etwas sagen könnte.

Aber dieser Begriff sollte uns deswegen interessieren, weil er für Jesus selbst offenbar der wichtigste war. Es gibt im Neuen Testament nachweislich 40 Bezeichnungen für Jesus. Aber es gibt einen Begriff, den Jesus eindeutig bevorzugte, um sich selbst zu bezeichnen; nämlich der Begriff Menschensohn. Nur Jesus verwendete diesen Titel, um sich selbst zu bezeichnen. In den Evangelien kommt die Bezeichnung „Menschensohn“ 82 mal vor. Und nur Jesus verwendet diesen Begriff, um seine Person und sein Werk zu umschreiben. Dieser Begriff ist also ganz offensichtlich ein Schlüsselbegriff.

'l'Arbre de Jessé' Vitrail du 13ème siècle, 2008, Vassil

Was bedeutet also „der Menschensohn“. Dieser Begriff hat zwei Dimensionen. Auf der einen Seite, bedeutet dieser Ausdruck in der Sprachwelt Jesu einfach „Mensch“. Die menschliche Verwundbarkeit Jesu und seine Sterblichkeit sind Bestandteile des Wortes „Menschensohn“. Auf der anderen Seite ist der Menschensohn ein Ausdruck für die göttliche Vollmacht Jesu, die zuletzt diese Welt bestimmen wird – überall und endgültig bestimmen wird. Wie der Begriff Menschensohn zu verstehen ist, zeigt eine Stelle aus dem Buch Daniel; hier kommt dieser Begriff zum ersten Mal vor. Der Prophet hatte eine Vision von den verschiedenen Reichen dieser Erde, die wie Monster und wie Raubtiere auftreten. Aber zuletzt sieht er ein neues Zeitalter, in dem die alten Gewaltherrschaften erledigt sind. In seiner Vision heißt es:

„Siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war (nämlich zu Gott), und wurde vor ihn gebracht. Der gab ihm Macht, Ehre und Reich, daß ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.“ (Dan. 7, 13. 14)

Der Menschensohn ist also derjenige, der diese Erde mit der Vollmacht und Herrlichkeit Gottes regieren wird.

Von dem Menschensohn wurde erwartet, dass er die Gerechtigkeit verwirklichen wird und in einem Text heißt es: „kein Lügenwort wird vor ihm ausgesprochen.“ Mit Lügen werden Menschen manipuliert. Zum Beispiel: vor drei Wochen wurden in den CNN-Nachrichten Palästinenser gezeigt, die nach den Anschlägen des 11. Septembers jubelten. Es gab weltweite Empörung. Einige Tage später wurde im Internet eine Email verbreitet, in der mitgeteilt wurde, dass diese CNN-Bilder 10 Jahre alt seien; es wurde ein Lehrer in Brasilien erwähnt, der mit Videoaufzeichnungen angeblich nachweisen konnte, dass genau dieselben Bilder von Palästinensern schon vor 10 Jahren im Fernsehen zu sehen waren. Diese Email löste auch Empörung aus, die weltweit war. Es ergibt sich die Frage: wie soll man wissen, was hier objektive Wahrheit ist? Ich weiß nicht, was falsch war, die Nachrichtenbilder oder diese Email. Dieses Beispiel zeigt, wie leicht es ist, Menschen zu beeinflussen, indem man etwas erfindet. Durch Fernsehbilder oder durch Internetnachrichten ist es sehr leicht, Menschen emotional und gedanklich zu lenken. Aber es gehört zu dem Begriff Menschensohn, dass eines Tages solche Manipulationen vorbei sein werden. Der Menschensohn ist derjenige, der die Augen der Menschen eines Tages auftun wird, dass sie mit durchdringender Klarheit zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können. Wie Jesus sagte: „An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen.“

Die Heilung des Blinden soll diese Macht des Menschensohns veranschaulichen. Wie Jesus in unserem Johannestext für heute sagt: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden. Mit anderen Worten: alle Manipulation wird aufhören, wenn der Menschensohn regieren wird; er ist das Licht der Welt, das alle Finsternis dieser Welt vertreiben wird.

Deswegen ist es passend, dass Jesus nach der Blindenheilung die Frage an den Geheilten stellt , ob er an den Menschensohn glaubt. Und der ehemalige Blinde fragt. „Herr, wer ist's? dass ich an ihn glaube.“ Jesus sprach zu ihm: „Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's“. Er aber sprach: „Herr, ich glaube, und betete ihn an.“ Wenn es heißt, „er betete ihn an“, dann wird damit bezeugt, dass Gott selber anwesend ist. Denn unmittelbar nach der Heilung sagte der Blinde, dass „der Mensch, der Jesus heißt“, ihn geheilt hatte. Jetzt betete er diesen Menschen an. Hier sehen wir wie der Begriff Menschensohn die Menschlichkeit und die Göttlichkeit Jesu zusammenfasst.

'Adventus Domini' - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Adventus Domini'
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Aber wenn Jesus vom Menschensohn redet, redet er von einer Wahrheit, die zunächst verborgen ist und erst in einer künftigen Zeit völlig zum Vorschein kommen wird. Was hat diese künftige Offenbarung mit uns heute zu tun?

Unsere Situation in dieser Welt ist vergleichbar mit der Situation einer Stadt, die von einer feindlichen Armee belagert wird. Die Bewohner der belagerten Stadt sind eingekesselt und leben in ständiger Angst. Einige von den Feinden sind schon in die Stadt eingeschlichen und bearbeiten die Bevölkerung mit Propaganda, sie verbreiten Falschmeldungen, die die Ängste und Schuldgefühle der Menschen manipulieren, damit sie gelähmt werden. Aber eines Tages kommt ein Bote heimlich in die Stadt; er bringt eine gute Nachricht. Er berichtet: an einem fernen Ort ist der Feind besiegt worden; die Machthaber des Feindes haben sich ergeben. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Belagerer die Nachricht hören, dass sie verloren haben und ihre Waffen niederlegen. Die Bewohner der Stadt können also schon jetzt anfangen, angstfrei zu leben; sie können ihre alltägliche Arbeit mit neuem Mut aufnehmen; sie können mit einer menschenfreundlichen Zukunft rechnen und dementsprechend mit Geduld und Besonnenheit leben.

Jesus als Menschensohn hat vor 2000 Jahren in Jerusalem an dem ersten Ostermorgen einen Sieg vollzogen; es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser Sieg überall und endgültig bekannt gemacht wird und zur Geltung kommt. Wir können schon jetzt liebevoll und besonnen leben, denn wir wissen, wer der Menschensohn ist, der diese Welt mit der Vollmacht und Herrlichkeit Gottes bestimmen wird.

Der Ausschnitt aus dem Glasfenster 'l'Arbre de Jessé' (Vitrail de la cathédrale Saint-Pierre-et-Saint-Paul de Troyes), Vitrail du 13ème siècle, 2008, Vassil, wurde von seinem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

^ Zum Seitenanfang

PSch