Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 12. Sonntag nach Trinitatis Markus 3, 31 – 35 Christsein ist kein Medienereignis

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'Ignaz Semmelweis', 1860, Jenő Doby

12. Sonntag nach Trinitatis

Christsein ist kein Medienereignis Markus 3, 31 – 35

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2005

Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. Markus 3, 31 – 35 Christsein ist kein Medienereignis

Es gibt eine einfache Wahrheit, die völlig selbstverständlich ist, die aber oft übersehen wird. Diese Wahrheit lautet: eine Mehrheit kann sich irren, und eine Mehrheit hat sich oft geirrt, auch wenn diese Mehrheit akademisch gebildet war.

Zum Beispiel: im Jahre 1844 gab es in Wien einen Arzt mit dem Namen Ignaz Semmelweis. Er war der stellvertretende Leiter eines Krankenhauses. Er war überzeugt, dass Infektionskrankheiten durch Berührung übertragen wurden. Er ordnete deshalb an, dass alle Ärzte – nachdem sie einen Kranken oder einen Verstorbenen berührt hatten – ihre Hände mit Wasser, Seife und Chemikalien reinigen sollten, ehe sie einen neuen Patienten aufsuchten. Außerdem versuchte er es durchzusetzen, dass Ärzte nur gereinigte Kleider tragen sollten und dass Krankenzimmer gründlich zu reinigen waren. Aber die Mehrheit der Ärzte war sicher, dass dieser Dr. Semmelweis im Irrtum war. Und seine Anweisungen wurden bewusst missachtet.

Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es einen Arzt mit dem Namen Joseph Lister, der überzeugt war, dass Semmelweis recht hatte. Deshalb hat er vor Operationen seine chirurgischen Instrumente, den Operationstisch, seine Hände und seine Patienten mit Karbolsäure gereinigt. Die Ergebnisse waren verblüffend. Operationen, die früher hochriskant waren, waren auf einmal routinemäßig erfolgreich. Aber auch hier hat die Mehrheit der Ärzte seine Arbeitsmethoden kritisiert und nicht akzeptiert.

Heute ist es allgemein bekannt geworden, dass Semmelweis und Lister Recht hatten und dass die Mehrheit sich getäuscht hatte.

Es ist also selbstverständlich, dass die Mehrheit sich täuschen kann. Nur weil eine Mehrheit etwas glaubt, dann bedeutet das längst nicht, dass das, was die Mehrheit glaubt, richtig ist. Auch wenn 50 Millionen Menschen etwas glauben, können sie sich trotzdem getäuscht haben.

Großplastik 'Papst-Saurier' für den Weltjugendtag 2005 in Köln. Foto und Großplastik von Jacques Tilly.

Und dies gilt besonders für die Kirche. Die Mehrheit unserer Bevölkerung nimmt die Kirche nur dann zur Kenntnis, wenn es eine Massenveranstaltung gibt. Wir haben z. B. jetzt den Weltjugendtag in Köln. Und man könnte den Eindruck bekommen, dass die Kirche sich auf solche Medienereignisse beschränken sollte. Denn hier ist etwas los. 400.000 junge Menschen kommen aus 197 Ländern zusammen, um ein religiöses Fest zu feiern. Da ist Begeisterung. Da ist lebendige Frömmigkeit. Sogar Erlebnissüchtige kommen auf ihre Kosten, denn es gibt viel zu sehen und zu hören. Es gibt eine fesselnde Stimmung, die auch Menschen mitreißt, die sonst mit der Kirche nichts anfangen können. Auffallend ist auch die hohe Medienaufmerksamkeit. Auffallend ist, wie oft das Wort „Begeisterung“ in den Medienberichten vorkommt. Es gibt Schlagzeilen wie „Deutschland im Papst-Fieber“. Bei solchen Massenveranstaltungen kann ein Einzelner etwas erleben, was er in der Heimatgemeinde nicht ohne Weiteres erleben kann: man kann die Vitalität des christlichen Glaubens erleben, man kann erleben, dass die Christenheit eine große, internationale Weltgemeinschaft ist. So etwas ist sicherlich aufbauend und nicht zu verachten.

'World Youth Day 2005 Cologne, Welcome-Poster', 2005, Superbass

Aber es ergibt sich die Frage, ob hier nicht die Mehrheit unserer Bevölkerung im Irrtum ist. Ein Weltjugendtag – wie ein evangelischer Kirchentag – wird von der Mehrheit als etwas anerkannt, was sie bejahen kann. Bei einem Weltjugendtag oder bei einem Kirchentag zeigt sich die Kirche weltoffen, jugendlich-dynamisch, medienwirksam, erfolgreich, mitreißend. Und die Mehrheit denkt: ja, so kann ich Kirche akzeptieren, so sollte die Kirche immer sein.

Denn die Kirche im Alltag sieht ganz anders aus. Bei einem Ev. Kirchentag versammeln sich Tausende in einer großen Halle, um eine Bibelauslegung zu hören und klatschen Beifall nach jedem zweiten Satz. In der Gemeinde dagegen kommen vielleicht 8 oder 10 ältere Menschen zusammen, wenn ein Bibelgespräch angeboten wird, und es geht ruhig zu: kein Beifall, kein Klatschen, keine jugendliche Dynamik.

Bei einem Weltjugendtag feiern Hunderttausende zusammen Gottesdienst – und die Stimmung ist fast wie bei einem Rockkonzert oder Fußballspiel. In der Gemeinde dagegen gibt es bei den sonntäglichen Gottesdiensten eine besinnliche Stimmung, und ein Außenseiter könnte vielleicht etwas böswillig behaupten, dass die Stimmung eines Gottesdienstes vergleichbar ist mit der Stimmung bei einer Beerdigung.

Die Mehrheit unserer Bevölkerung glaubt deshalb, dass das, was sich in einer Gemeinde abspielt, belanglos ist. Die Mehrheit sagt: da ist nichts los. Die Mehrheit glaubt, dass der normale Alltag der Gemeinde so gut wie tot ist. Außerdem scheint eine Mehrheit davon überzeugt zu sein, dass die Wenigen, die der Gemeinde treu bleiben, entweder scheinheilig sind oder nicht alle Tassen im Schrank haben. Es gibt eine Mehrheit, die davon spricht, dass treue, aktive Gemeindemitglieder „andauernd in die Kirche rennen“ wie es heißt. Dieses „andauernd in die Kirche rennen“ ist ein Hinweis, dass etwas mit diesen Leuten nicht stimmen kann. Denn die Mehrheit weiß, dass Sonntage dazu da sind, um sich auszuschlafen.

In diesem Zusammenhang können wir etwas von dem Neuen Testament lernen. Es gab in dem Leben Jesu nur eine Massenveranstaltung: die Speisung der 5000. Diese Speisung war offenbar erfolgreich, denn hinterher wollte diese Menschenmasse Jesus zu ihrem König machen, und es gab neue Anhänger. Wenn es damals die heutigen Medien gegeben hätte, dann wären garantiert Fernsehkamerateams dabei gewesen und Journalisten hätten von der politischen Relevanz dieser Veranstaltung berichtet. Sie hätten die soziale Gerechtigkeit gelobt, die hier verwirklicht wurde. Wer allerdings von dieser Massenveranstaltung nicht beeindruckt war, war Jesus selber. Er weigerte sich, sich als Super-Kanzlerkandidat aufstellen zu lassen und es heißt ausdrücklich, dass er sich Menschen nicht anvertraut hatte, die nur wegen seiner Wunderzeichen Anhänger geworden sind.

Der genaue Gegensatz zu einer erfolgreichen Massenveranstaltung war die kleine Begebenheit, von der Markus berichtet, die wir vorhin gehört hatten. Jesus war in einem Haus, und um ihn herum waren Menschen. Seine Familienangehörigen – seine Mutter, Brüder und Schwester – standen draußen und wollten offenbar, dass er herauskommt zu ihnen. Und daraufhin sagte Jesus: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!“

Diese Aussage ist erstaunlich. Nach der Speisung der 5000 hat Jesus zwar Begeisterung ausgelöst, aber er hat die 5000 nicht als Brüder und Schwestern anerkannt. Im Gegenteil: er distanzierte sich von ihnen; er verschwand so schnell wie möglich.

'Hungrige sättigen', 1991 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

Gemeinschaft mit Jesus

Aber in der Intimität einer Privatwohnung, wo nur eine kleine Gruppe versammelt ist, wo „nichts los ist“ – wie man heute sagen würde, in dieser Situation, die für Fernsehkamerateams völlig uninteressant wäre, sagte er: „Hier sind meine Mutter und meine Brüder.“ Was hatten die Versammelten getan, um diese Auszeichnung zu verdienen? Es gibt nur eine mögliche Antwort auf diese Frage: Sie hatten seine Nähe aufgesucht. Das war alles. Es wird nicht berichtet, dass sie irgendetwas getan hatten. Es wird nicht berichtet, dass sie hilfsbereit, sozial oder tolerant waren. Es wird nicht berichtet, dass sie irgendetwas geglaubt hätten. Es gab nur einen gemeinsamen Nenner: sie hatten seine Nähe aufgesucht: sie wollten bei ihm sein. Der Gegensatz dazu sind die leiblichen Angehörigen, die nicht in das Haus hereinkommen wollten. Sie distanzierten sich dadurch von Jesus. Und nur so ist das Abschlusswort des Markustextes zu verstehen. Jesus sagt: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Gottes Willen tun – in diesem Zusammenhang – kann nur bedeuten: die Nähe Jesu aufsuchen.

Das heißt also: wenn Menschen die Nähe Jesu suchen, indem sie z.B. ein Bibelgespräch besuchen oder indem sie an einem Abendmahlsgottesdienst teilnehmen oder indem sie im Namen Jesu einen Liebesdienst tun, dann sind sie Jesu Brüder und Schwestern, d.h. sie haben eine intime Nähe zu Jesus, sie gehören zu einer familiären Gemeinschaft mit Gott selber. Wo die Mehrheit unserer Bevölkerung nur Scheinheilige oder Weltfremde vermutet, sieht Jesus seine Mutter, seine Brüder und seine Schwestern.

Die wichtigsten Ereignisse in dem Leben Jesu - die Menschwerdung und die Auferstehung - waren keine Massenveranstaltungen und sie waren nicht medienwirksam. Bei der Geburt haben nur Maria, Josef, ein paar Hirten und ein paar Sterndeuter mitbekommen, dass etwas Besonderes eingetreten war. Bei der Auferstehung waren es ein paar Frauen und einige Anhänger, die mitbekommen hatten, dass das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte eingetreten war.

Ein Theologe schrieb in diesem Zusammenhang Folgendes: „Die Menschen, die zusammenkommen (um die Geburt und Auferstehung zu bezeugen) sind nicht Journalisten und Könige, sondern Frauen und Hirten. Das Geheimnis (des Glaubens) ist nur ihnen bekannt, und sie bilden die Kirche ab. Das Geheimnis ist nicht für den Marktplatz, sondern für eine geradezu familiäre Intimsphäre. Die Öffentlichkeit einer Staatskirche ist dem Christentum nicht angemessen...Von seinen allerersten Anfängen her ist das Christentum (für Intimität) gebaut. Es ist nicht dazu geeignet, Staatsschauspiel zu werden.“

Wir sollen uns also nicht irritieren lassen, wenn die Öffentlichkeit die Kirche in ihrem Alltag falsch einschätzt, weil der christliche Alltag kein Medienereignis ist, sondern etwas Kleines und Unauffälliges und Intimes. Das Bild, das unser Text mit seiner Sprache malt – das Bild von einer Gruppe um Jesus herum in einem Zimmer– ist ein zutreffendes Bild der Christenheit. Für uns kommt es nicht darauf an, was die Mehrheit von uns behauptet, sondern dass Jesus zu uns sagt: „Hier sind meine Brüder und Schwestern.“ Allein darauf kommt es an.

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Die Photographie 'World Youth Day 2005 Cologne, Welcome-Poster', 2005, Superbass, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
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Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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