Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 18, 9-14 Bei der Gnade hören Vergleiche auf

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'The Pharisee and the Publican', 1922, M. Bihn & J. Bealings

11. Sonntag nach Trinitatis

Bei der Gnade hören Vergleiche auf Lukas 18, 9-14

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Lukas 18, 9-14

Es gibt eine Kirchengemeinde in England, die an jedem Neujahrstag einen Abendmahlsgottesdienst mit drei Nachbargemeinden feiert. Und deshalb kommen Menschen zusammen, die normalerweise einander nicht sehen. Als der Pfarrer bei dem Abendmahl Brot und Kelch verteilte, fiel es ihm auf, dass zwei Männer nebeneinander gekniet hatten, die gegensätzliche Lebensgeschichten hatten. Der eine war ein ehemaliger Einbrecher; neben ihm befand sich ein Richter des obersten Gerichtshofs. Und durch einen erstaunlichen Zufall hatte es sich so ergeben, dass dieser Richter den Mann neben ihm ins Gefängnis geschickt hatte. Nachdem der Einbrecher 7 Jahre im Gefängnis verbrachte und entlassen wurde, hatte er ein Bekehrungserlebnis und wurde ein aktiver christlicher Mitarbeiter.

Nach dem Gottesdienst sprach der Richter den Pfarrer an und fragte: „Haben Sie gemerkt, wer bei der Abendmahlsausteilung neben mir gekniet hat?“ Der Pfarrer erwiderte: „Ja, der Mann und sein Lebensablauf sind mir bekannt.“ Der Richter sagte: „Was für ein Wunder der Gnade!“ Der Pfarrer stimmte zu: „Ja, das war schon ein großartiges Wunder der Gnade.“ Der Richter fragte: „Aber von wem reden Sie?“ Der Geistliche sagte: „Ich rede natürlich von der Bekehrung des ehemaligen Häftlings.“ Der Richter sagte: „Aber ich habe nicht den Häftling gemeint, sondern mich selbst. Denn dieser ehemalige Einbrecher wusste, wie sehr er auf die Gnade Gottes angewiesen war; er hatte eine kriminelle Lebensgeschichte. Es war für ihn naheliegend, anzuerkennen, dass er erlösungsbedürftig ist. Er wusste, dass er Hilfe braucht. Aber schau mich an. Von Kindheit an lernte ich Anständigkeit und Höflichkeit. Ich lernte, mein Wort zu halten, regelmäßig zu beten, in die Kirche zu gehen und das Abendmahl nicht zu vernachlässigen. Ich besuchte Oxford, wurde Anwalt und Richter. Nur ein Wunder der Gnade Gottes konnte mich überzeugen, dass ich genauso erlösungsbedürftig bin wie dieser ehemalige Einbrecher. Ich brauchte viel mehr Gnade als er, um meinen Stolz und meine Selbst-Täuschung zu überwinden und Vergebung anzunehmen. Ich brauchte ein Wunder der Gnade um einzusehen, dass ich in den Augen Gottes nicht besser bin als dieser ehemaliger Häftling, den ich ins Gefängnis schickte.“

'Jews praying in the Synagogue on Yom Kippur', 1878, Maurycy Gottlieb

Diese Begebenheit zeigt auch unsere Situation. Wir wissen, was sich gehört. Wenn wir das Gleichnis von dem Pharisäer und Zöllner hören, wissen wir, dass es theologisch korrekt ist, sich mit dem Zöllner zu identifizieren. Mit dem Zöllner könnten wir beten: „Herr ich danke dir, dass ich nicht so bin, wie dieser Pharisäer: aufgeblasen, arrogant, selbstgefällig. Sondern ich bin bescheiden und demütig. Als evangelischer Christ weiß ich, dass ich auf Gnade angewiesen bin.“ Wer aber so denkt und betet, liegt völlig daneben. Denn man darf keine Vergleiche machen. Das ist der Punkt, um den sich hier alles dreht. Sobald man anfängt, Vergleiche zu machen, wird man unweigerlich irgendjemanden finden, auf den man herabschauen kann – nach dem Motto: Ich mag zwar meine Fehler haben, aber mindestens bin ich nicht so schlimm wie der da. Man braucht nur eine Tageszeitung aufschlagen, da findet man Politiker, Gewerkschaftler, Frankfurter Eintrachtfunktionäre, Kirchenleute oder Verbrecher, die etwas Schlimmes oder Dummes angestellt haben und auf die man genüsslich herabschauen kann.

Wir wissen, dass wir demütig sein sollen, wie der Zöllner in dem Lukasgleichnis. Aber sobald man sich bewusst ist: jetzt bin ich aber demütig, ist man von der Gnade Gottes kilometerweit entfernt.

Vielleicht haben sie schon einmal die Geschichte gehört von dem Rabbi, der am Yom Kippur, dem hohen Versöhnungstag des Judentums, in der Synagoge aufstand, sich an die Brust schlug und rief: „Ich bin Staub und Asche! Ich bin Staub und Asche!“ Der Kantor war beeindruckt von dieser Demonstration der tiefen Demut und auch er stand auf, schlug sich an die Brust und rief: „Ich bin Staub und Asche! Ich bin Staub und Asche!“ Der Hausmeister der Synagoge war anwesend und war so beeindruckt von dem Rabbi und dem Kantor, dass auch er aufstand, sich an die Brust schlug und rief: „Ich bin Staub und Asche! Ich bin Staub und Asche!“ Als der Rabbi diese Demutsdemonstration sah, flüsterte er zu dem Kantor: „Schauen Sie das an, wer sich da einbildet, Staub und Asche zu sein!“ Diese Anekdote veranschaulicht, wie schnell wir Menschen stolz werden, wenn es uns gelingt, demütig zu sein. Vor Gott sind wir Staub und Asche – wie es in der biblischen Sprache heißt. Aber sobald wir diese Erkenntnis bekommen, ist es sehr leicht auf alle Menschen herabzuschauen, die diese hochgeistige Erkenntnis noch nicht bekommen haben oder zu einfältig sind, um überhaupt zu ahnen, was damit gemeint ist – wie der Rabbi in der Anekdote, der auf den vermeintlich einfältigen Hausmeister herabschaut.

'Staffordshire Moorlands with snow north of Grindon', 2008, R J Higginson

Alles hängt davon ab, mit wem wir uns vergleichen. Der schottische Theologe William Barclay hat in seiner Auslegung des Gleichnisses von dem Pharisäer und Zöllner ein persönliches Erlebnis geschildert, das ihm half, dieses Gleichnis zu verstehen. Er schrieb folgendes: „Als ich einst von Schottland im Zuge über die Heide von Yorkshire nach England fuhr, sah ich ein kleines weißes Bauernhaus, das mir in seiner Weiße geradezu strahlend erschien. Als ich ein paar Tage später wieder nach Schottland zurückfuhr, hatte es inzwischen geschneit. Die Landschaft lag tiefverschneit da. Wieder kamen wir an dem kleinen weißen Bauernhaus vorüber, doch jetzt kam mir sein Weiß schmutzig und besudelt vor und wirkte im Vergleich zu dem jungfräulichen Weiß des frischgefallenen Schnees fast grau. Es hängt alles davon ab, mit wem wir uns vergleichen. Wenn wir unser Leben an dem Wunder des Lebens Jesu Christi und an der Heiligkeit Gottes messen, dann können wir nur noch sagen: „Gott sei mir Sünder gnädig.“

Es gibt einen einfachen Test, mit dem man feststellen kann, ob man die Gnade Gottes wahrgenommen hat oder nicht. Wer die Gnade Gottes erfahren hat, macht keine Vergleiche mit anderen, sondern betrachtet sich selbst als den einzigen Sünder auf der Welt, bzw. als der Geringste unter allen Menschen. Diese Dynamik des Glaubens bezeugten Paulus und Luther. Zum Beispiel in dem ersten Timotheusbrief schreibt Paulus:

Das ist gewisslich wahr und ein Wort des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.

Oder in dem Epheserbrief heißt es:

Mir, dem allergeringsten unter allen Heiligen, ist die Gnade gegeben worden.

Und Luther war noch deutlicher als er in seinem Kommentar zu dem Buch Jona folgendes schrieb:

„So tut’s die Reue, wenn sie kommt und beißt und schreckt das Gewissen (eines Menschen). Dann ist alle Welt so fromm, nur er allein ist ein Sünder. Aller Welt ist Gott gnädig, außer alleine ihm. Da trifft Gottes Zorn niemand als ihn allein. Er meint auch, es gäbe sonst keinen Zorn, außer dem, den er fühlt, und so findet er sich vor als der allerelendeste Mensch.“

Wer die Gnade Gottes erfahren hat, für den hören alle Vergleiche auf, außer dem Vergleich mit der Heiligkeit Gottes.

In der heutigen Zeit fällt es uns schwer, das Wort Sünde zu akzeptieren. Sünde ist irgendwie ein peinliches Wort. Sündenbekenntnisgebete wirken entwürdigend und übertrieben. Ein traditionelles Gebet z. B. beginnt mit den Worten: „Ich armer, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünden und Missetaten, die ich begangen mit Gedanken, Worte und Werken...“ Es fällt uns schwer, uns mit solchen Worten zu identifizieren, denn sie drücken nicht aus, wie wir uns wirklich fühlen. Wir fühlen uns nicht wie arme, sündige Menschen. Arme, sündige Menschen – das sind die korrupten Beamten, die Bestechungsgelder annehmen, das sind die Perversen, die Kinderpornographie aus dem Internet herunterladen, das sind die Skinheads, die Mord und Totschlag begehen. Aber nicht wir, die wir anständig und höflich sind.

'Inishmore Kreuz aus Stein auf den Aran-Inseln, County Galway, Irland', 2005, Jim from Lexington, KY, USA

Aber – wie gesagt – es kommt darauf an, mit wem man sich vergleicht. Was kann man tun, um den wahren, inneren Zustand zu erkennen?

Es gibt einen Ort, zu dem Christen seit Jahrhunderten hingehen, um ihren wahren Zustand zu erkennen. Der Ort heißt Golgatha. Wer Jesus betrachtet, wie er als unschuldiges Opfer misshandelt und entwürdigt wurde, der kann durch diese Betrachtung entdecken, was wirklich in uns Menschen steckt. Wer die Passionsgeschichte betrachtet und wahrnimmt, wie der Gott, der in Jesus erschien, sich erniedrigen ließ und die sinnlose, aggressive Zerstörungswut der Menschen auf sich nahm – ohne zurückzuschlagen – der kann die Gnade Gottes entdecken, die unsere Sündhaftigkeit aufdeckt. Ausgerechnet die Erniedrigung der Kreuzigung offenbart die Heiligkeit Gottes, die uns zeigt, dass wir alle total auf Gnade angewiesen sind. Golgatha ist der Ort, an dem wir die Befähigung bekommen, zuzugeben, wie wir wirklich sind. Und Golgatha ist der Ort, an dem wir die Fähigkeit bekommen, so zu beten wie der Zöllner: „Gott, sei mir Sünder gnädig“.

Es ist ein Wunder der Gnade, wenn man so beten kann. Möge Gott uns dieses Wunder der Gnade schenken. Amen.

Das Bild 'The Pharisee and the Publican', 1922, M. Bihn & J. Bealings, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Gemälde 'Jews praying in the Synagogue on Yom Kippur', 1878, Maurycy Gottlieb, ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
Die Photographie 'Staffordshire Moorlands with snow north of Grindon', 2008, R J Higginson, ist lizenziert unter der Creative Commons–Lizenz „Attribution 3.0 Unported.
Das Bild 'Inishmore Kreuz aus Stein auf den Aran-Inseln, County Galway, Irland', 2005, Jim from Lexington, KY, USA, ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0.

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