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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Markus 1, 41–45 War Jesus gegen organisierte Religion?

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14. Sonntag nach Trinitatis - Markus 1, 41–45 War Jesus gegen organisierte Religion?

Gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2005:

'Heilung des Aussätzigen', 1978 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Heilung des Aussätzigen', 1978 - Walter Habdank.
© Galerie Habdank

Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will's tun; sei rein! Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekanntzumachen, so dass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.

Markus 1, 41–45

Es gibt eine Störung, die katatonische Schizophrenie heißt. Menschen, die unter dieser Störung leiden, haben Phasen, in denen sie völlig bewegungslos und stumm sind. Katatoniker können manchmal stundenlang oder tagelang bewegungslos bleiben. Sie reagieren nicht, wenn sie direkt angesprochen werden, und auch nicht, wenn ihre Hände und Füße durch die körperliche Starrheit blau werden und anschwellen. Sie starren vor sich hin und sind manchmal in einer eigenen Gedankenwelt gefangen. Ein Katatoniker kann aber auch Phasen haben, in denen er außerordentlich aufgeregt und gefährlich wird – für sich selbst und für andere.

Es gibt in der Stadt New York eine Klinik für katatonische Schizophreniker, in der ein Dr. John Rosen arbeitet. Er hat eine Arbeitsmethode, die einzigartig ist. Ärzte halten normalerweise einen professionellen Abstand von ihren Patienten. Aber dieser Dr. Rosen hält nichts von Abstand. Wenn er mit Katatonikern arbeitet, lebt er Tag und Nacht mit ihnen. Er schläft in dem Saal neben seinen Patienten. Er teilt ihr Leben. Er isst dieselben Mahlzeiten, die sie essen. Wenn sie nicht reden, redet er auch nicht. Durch seine bloße Anwesenheit und Teilnahme vermittelt er etwas, was diese gestörten Menschen seit Jahren nicht mehr erlebt hatten – nämlich, dass jemand da ist, der sie versteht.

Aber er geht noch einen Schritt weiter und überschreitet dabei eine Grenze. Nämlich: er umarmt sie und vermittelt dadurch seine Liebe für sie. Diese gestörten Menschen sind weitgehend unattraktiv, oft krankhaft misstrauisch und manchmal auch inkontinent. Aber dieser Arzt holt sie in das Leben zurück, indem er Liebe vermittelt. Oft kommt es vor, dass diese Patienten, nachdem sie tagelang nichts gesagt hatten, wenn sie wieder reden, als erstes zu ihm sagen: „Danke.“

Was dieser Arzt tut, kann für uns als Gleichnis dienen. Denn Gott hat offenbar eine ähnliche Vorgehensweise wie dieser Arzt. Zwischen Gott und uns gibt es einen Abstand, den nur Gott überbrücken kann. Gott ist deshalb Mensch geworden und wohnte unter uns. Wie dieser Arzt, hat er sein Bett unter uns aufgeschlagen und unsere Mahlzeiten geteilt. Und wie dieser Dr. Rosen hat er Grenzen überschritten, die eigentlich nicht überschritten werden dürfen. Wie der New Yorker Arzt hat er durch körperlichen Kontakt Liebe und heilende Kraft vermittelt – und hat Menschen in das Leben zurückgeholt.

Ein klassisches Beispiel für diese Vorgehensweise haben wir vorhin in dem Markustext gehört. Das Wort, das mit Aussatz übersetzt wird, umfasste verschiedene hässliche Hautkrankheiten – auch Lepra konnte gemeint sein, aber nicht nur Lepra. Ein Aussätziger wurde aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen, er musste Wohnstätten meiden, zerrissene Kleider tragen, barhäuptig gehen, seine Oberlippe bedecken und, wohin er auch ging, die Menschen warnen, indem er rief: „Unrein! Unrein!“ Außerdem galt er – nach der damaligen Denkweise zur Zeit Jesu - als von Gott verstoßen.

Ein Aussätziger musste von einem gesunden Menschen so viel Abstand halten, dass ein Gespräch normalerweise nicht zustande kommen konnte. Aber der Aussätzige, von dem Markus berichtet, hatte offenbar die Nähe Jesu aufgesucht. Auch Jesus tat etwas, was man normalerweise nicht tun durfte: er hat den Aussätzigen angefasst – und nach der damaligen Denkweise war er durch die Berührung unrein geworden, d.h. er musste Abstand halten von dem Tempel und war von allen kultischen Handlungen ausgeschlossen.

Aber bei Jesus war es anders. Nicht er wurde unrein, sondern der Aussätzige wurde rein. Dieser Vorgang kam bei Jesus öfters vor. Er wurde z. B. von einer Frau berührt, die seit 12 Jahren Blutungen hatte, und nicht er wurde durch diese Berührung unrein, sondern die Frau wurde geheilt. Jesus berührte dreimal tote Menschen – was normalerweise Unreinheit verursacht – aber nicht er wurde unrein, sondern die Toten wurden zum Leben auferweckt. Normalerweise ist Unreinheit ansteckend, aber Jesus verbreitete eine ansteckende Reinheit. Krankheit ist normalerweise ansteckend, aber Jesus verbreitete eine ansteckende Gesundheit.

Was Jesus hier tat, ist im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder widergespiegelt worden. Zum Beispiel:. Vor einigen Jahrzehnten in Südchina bekam ein 8-jähriges Mädchen Lepra. Es wurde von den Dorfbewohnern mit Stöcken und Steinen vertrieben. Ein christlicher Missionar entdeckte das Kind, nahm es auf seine Arme und trug es fort zu seiner Station. Die Dorfbewohner wichen zurück und schrieen: „Aussatz! Aussatz!“ Das Mädchen fragte seinen Retter: „Warum kümmerst du dich um mich?“ Er antwortete: „Weil Gott uns beide erschaffen hat. Deshalb bis du meine Schwester und ich bin dein Bruder. Du wirst nie wieder hungrig und heimatlos sein.“ Für dieses Mädchen war es so, als ob sie im Himmel war. Und sie fragte: „Aber wie kann ich dir das wiedergutmachen?“ Der Missionar antwortete: „Schenk möglichst vielen die gleiche Liebe!“ Das Mädchen lebte noch drei Jahren in der Missionsstation, pflegte die anderen Aussätzigen: es verband ihre Wunden, fütterte sie und versuchte, die Art Liebe weiterzugeben, die es empfangen hatte. Als das inzwischen 11-jährige Kind starb, sagten die Aussätzigen: „Unser kleiner Himmel ist in den Himmel zurückgekehrt“.

Das Himmlische hier ist die selbstlose Liebe, die Gott in Jesus offenbart hat und die in uns Menschen Gestalt annehmen kann. Diese Liebe wird in unserem Markustext angesprochen, denn was hat Jesus motiviert, diesen Aussätzigen anzufassen und zu heilen? Es kommt selten vor in den Evangelien, dass die Gefühle Jesu ausdrücklich erwähnt werden. Aber hier heißt es von Jesus: „es jammerte ihn“. Das Wort im Urtext, das dahinter steckt, deutet auf ein körperliches Mitleiden. Man könnte übersetzen: „Es schlug ihm auf den Magen“ „Es ging ihm an die Nieren“. Diese Sprache bedeutet, dass der Abstand zwischen Gott und Mensch hier völlig überbrückt worden ist: Gott ist Mensch geworden und berührte Menschen handgreiflich und litt körperlich mit. Hier hat Gott Grenzen überschritten, um seine Liebe zu offenbaren.

Warum hat Jesus nicht alle Aussätzigen geheilt? Er hat nur einige geheilt, denn es geht um eine Signalwirkung. Gott hat vor, zuletzt alle Menschen von allen Krankheiten und Störungen zu heilen – am Ende der Zeit, wenn er sich offenbart und seine Schöpfung vollendet. In diesem einen Aussätzigen wird exemplarisch vorgeführt, wie Gott zu allen Menschen steht und was Gott mit allen Menschen vorhat.

Und es gibt in diesem Zusammenhang eine verstecke Botschaft in dem Markustext. Jesus sagte zu dem geheilten Aussätzigen: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. Jesus spricht eine Stelle in dem 3. Buch Mose an: da stehen kultische Gesetze, die genau vorschreiben, wie ein Aussätziger sich zu verhalten hatte, wenn er meinte, geheilt zu sein. Er musste den Tempel aufsuchen und vorgeschriebene Kulthandlungen über sich ergehen lassen. Wenn alles gut ging, galt er offiziell als rein. Diese vorgeschriebenen Kulthandlungen waren allerdings mehr Theorie als Praxis, denn es gab eigentlich keine Heilung für Aussatz. Aussatz konnte nur durch göttliche Macht geheilt werden. Und deswegen entstand im Judentum die Vorstellung, dass der Messias, wenn er kommt, seine göttliche Vollmacht dokumentieren wird, indem er Aussatz heilt.

Und deswegen sollte der Geheilte den Tempel aufsuchen. Er sollte den Priestern in Jerusalem vorweisen, dass er geheilt worden ist, - und damit amtlich bezeugen lassen, dass Jesus der Messias ist. Und wenn Jesus wirklich der Messias ist, wird er zuletzt alle Aussätzigen heilen, wenn er in Macht und Herrlichkeit wieder erscheint.

Jesus hat sich damit den biblischen Geboten untergeordnet. In den 70er/80er Jahren war es modisch, zu behaupten, dass Jesus sich gegen die religiöse Obrigkeit aufgelehnt hatte, dass Jesus gegen organisierte Religion war, dass er gegen Autorität einen Aufstand machte. Und die Schlussfolgerung, die man ziehen sollte, lautete: Jesus wäre auch gegen die Institution Kirche, und Christusanhänger sollten deshalb ihr Glaubensleben ohne Rücksicht auf verbindliche Traditionen der Christenheit nach eigenem Ermessen gestalten.

Aber Jesus ist kein Vorbild für ein Leben ohne die Verbindlichkeiten einer organisierten Religion. Denn das Verhalten Jesu in der Begegnung mit dem Aussätzigen ist bezeichnend: er hat sich nicht gegen sogenannte organisierte Religion aufgelehnt. Er hat sich biblischen Geboten untergeordnet. Er hat sich sogar biblisch verordneten Autoritäten untergeordnet. Auch seine Streitgespräche mit Pharisäern und Schriftgelehrten waren im Rahmen der biblischen Gesetzlichkeit – wie sogar ein jüdischer Religionswissenschaftler festgestellt hat. Denn Streit um die richtige Auslegung der Bibel ist nicht Auflehnung gegen Institutionen und Autoritäten, sondern gehört zu einem biblischen Glauben. Und außerdem: Im Lukasevangelium wird ausdrücklich erwähnt, dass es die Gewohnheit Jesu war, am Sabbat in die Synagoge zu gehen.

Jesus hat also vorgeführt, wie wir Menschen uns Gott unterordnen, nämlich, indem wir uns biblischer Offenbarung unterordnen. Man darf über alles streiten, man darf alles in Frage stellen, wenn es darum geht, Wahrheit zu suchen - vorausgesetzt, dass man festen Boden unter den Füßen hat. Und unser Boden ist die Bibel, das Evangelium, die Sakramente, unsere Bekenntnisse, unsere liturgische Tradition, unser Gesangbuch und sogar die kirchlichen Strukturen, die uns als Gemeinschaft zusammenhalten.

Möge Gott uns helfen, dass wir erkennen, was uns trägt, und mit festem Boden unter den Füßen in Liebe auf andere Menschen zugehen, so wie Jesus es vorgemacht hat. Denn nur wer festen Boden hat, kann man auch eine grenzüberschreitende Liebe praktizieren.



Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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