Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 19,41-48 Gerechtigkeit besteht nicht aus Vergeltung

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'Jesus weint über Jerusalem', 1983 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Jesus weint über Jerusalem', 1983 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

10. Sonntag nach Trinitatis

Gerechtigkeit besteht nicht aus Vergeltung Lukas 19,41-48

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist. Lukas 19,41-48

Der erste König von Saudi Arabien hieß Ibn Saud. Es gab eine Frau, die diesen König aufsuchte, um Gerechtigkeit zu fordern. Es ging dabei um einen Mann, der auf einen Dattelpalmbaum gestiegen war; als er die Datteln erntete, rutschte er ab und landete auf einem Mann, der zufällig unten stand. Der Mann starb und es war seine Frau, die den König Saud aufgesucht hatte, um die Hinrichtung des Schuldigen zu fordern.

Der König sagte zu der Frau: „Du hast das Recht, eine Wiedergutmachung zu fordern, aber du hast auch das Recht, das Leben dieses Mannes zu fordern. Es ist allerdings mein Recht, zu bestimmen, wie dieser Mann sterben sollte. Und ich bestimme folgendes: Du sollst diesen Mann mit dir nehmen und ihn an den Fuß einer Dattelpalme fesseln. Dann sollst du auf den Baum steigen und von der Spitze abspringen, damit du so auf dem Mann landest, dass du sein Leben nimmst, so wie er das Leben deines Mannes genommen hatte.“ Als die Frau das hörte, sagte sie kein Wort. Nach einer Schweigepause sagte der König: „Aber vielleicht wäre dir doch eine finanzielle Entschädigung lieber?“ Die Witwe nahm das Geld.

Diese Geschichte enthält eine Botschaft. Die Botschaft lautet: Vergeltung ist nicht die beste Form der Gerechtigkeit, denn wer auf sein Recht auf Vergeltung besteht, wird die Gefahr auf sich nehmen, Selbstmord zu begehen. Und Selbstmord kann verschiedene Formen annehmen.

Als Jesus auf die Stadt Jerusalem schaute und eine Vision von der künftigen Zerstörung dieser Stadt hatte, sah er eine Art Massenselbstmord. Jerusalem ist zerstört worden, weil die Bewohner auf ihr Recht bestanden hatten, eine heilige, selbständige Stadt zu sein – frei von einer heidnischen Besatzungsmacht. Die Bewohner Jerusalems hatten das Recht auf ihrer Seite, als sie sich im Jahre 66 gegen Rom auflehnten, aber weil sie ihr Recht um jeden Preis durchsetzen wollten, haben sie ihre eigene Zerstörung eingeleitet, die im Jahre 70 vollzogen wurde.

'The Siege and Destruction of Jerusalem', 1850, David Roberts

Nach dieser Katastrophe im Jahre 70 musste das Judentum sich neu definieren, denn es gab keinen Tempel mehr. Und der erste Schritt bestand darin, die selbstkritische Frage zu stellen: warum wurde Jerusalem zerstört? Die Gelehrten, die sich diese Frage stellten, gingen davon aus, dass Gott gerecht ist. Und weil Gott gerecht ist, muss die Zerstörung Jerusalems die Antwort Gottes auf Ungerechtigkeit sein. Aber was war diese Ungerechtigkeit?

Im Talmud kann man die Erklärung eines Rabbi Jochanan lesen, der behauptete: Jerusalem sei nur deshalb zerstört worden, weil die Richter nach dem Recht der Gesetzgebung richteten ...“ Sie sprachen Recht genau nach den Forderungen der Legalität...anstatt innerhalb der Rechtslinie zu verbleiben.“ Nach einem jüdischen Religionswissenschaftler ist damit folgendes gemeint: die Bewohner von Jerusalem hatten es versäumt, eine Gerechtigkeit zu suchen, die mehr ist als eine legale Rechtsprechung; denn was legal ist, ist noch lange nicht legitim. Manchmal ist es angemessen, freiwillig auf das eigene Recht zu verzichten, damit ein Konflikt entschärft wird. Manchmal sollte man in einer Streitfrage nachgeben, auch wenn man im Recht ist, um der Versöhnung willen. Dieser jüdische Gelehrte wies in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Bergpredigt hin, in der Jesus von einer sogenannten „besseren Gerechtigkeit“ sprach. Diese bessere Gerechtigkeit der Bergpredigt ist das, was in Jerusalem gefehlt hat und zu dessen Untergang geführt hatte – nach Aussage dieses Talmudauslegers.

Das klingt wie eine kühne Behauptung, aber sie ist nachvollziehbar. Denn Jesus beschrieb seine bessere Gerechtigkeit mit den folgenden Worten: Mt 5,38-44

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.

Jerusalem wäre nicht das Opfer einer römischen Zerstörungswut geworden, wenn die Bewohner Jerusalems sich nach diesen Worten gerichtet hätten. Das sah Jesus voraus, als er Jerusalem so anredete:

Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen ...

'Leo Baeck', 2008, Andrzej Matras, Ryszard Zawadzki

Es gibt unzählige Beispiele für diese höhere Gerechtigkeit, die uns Menschen vor unseren eigenen selbstmörderischen Tendenzen bewahren kann. Ein Beispiel aus dem Judentum ist der Rabbi Leo Beck, der in der Zeit des dritten Reiches fünf mal verhaftet wurde und zuletzt in einem Konzentrationslager war. An dem selben Tag, an dem er erschossen werden sollte, wurde das Lager von russischen Soldaten umringt. Leo Beck wurde befreit und hätte sofort nach Hause gehen können. Aber er blieb zurück, um die russischen Soldaten zu überzeugen, dass sie die Wächter des Konzentrationslagers nicht hinrichten sollten. Nach einer längeren Diskussion wurde entschieden, dass die Insassen bestimmen sollten, was mit den Wächtern passierte. Danach redete Beck auf die Insassen ein, damit sie sich nicht an den Wächtern rächen würden. Er hat zuletzt das Leben der Wächter gerettet.

'Konzentrationslager Auschwitz', 2006, Pimke

Indem er Menschen davon abgehalten hatte, Vergeltung und Rache auszuführen, hat er sie vor den Folgen des Hasses bewahrt. Was sind diese Folgen? Diese Folgen lassen sich in einem kurzen Gespräch veranschaulichen. Ein Überlebender eines Konzentrationslagers besuchte einen Freund, der mit ihm diese Qual der Inhaftierung geteilt hatte. Er fragte seinen Freund: „Hast du den Nazis inzwischen vergeben?“ Er erwiderte: „Ja“. Der Fragesteller sagte daraufhin: „Also ich habe ihnen nicht vergeben. Ich bin immer noch voller Hass.“ Sein Freund erwiderte: „Wenn das so ist, dann haben sie dich immer noch im Gefängnis.“ Hier sehen wir die selbstmörderischen Folgen, die eintreten, wenn jemand auf Recht und Vergeltung pocht und nicht vergeben kann; man wird dadurch versklavt und verkrüppelt.

Ein anschauliches Beispiel für die Art Gerechtigkeit, die Jesus verkündete, geschah im Jahre 1958 in der nordamerikanischen Stadt Philadelphia. Ein koreanischer Student ging zu einem Briefkasten, um einen Brief an seine Eltern einzuwerfen; er wurde von einer Bande von elf Jugendlichen überfallen. Er wurde mit einer unglaublichen Brutalität zusammengeschlagen, so dass er auf der Stelle starb. Die ganze Stadt war entsetzt und wollte eine harte Strafe sehen. Die Jugendlichen wurden verhaftet. Der Staatsanwalt versuchte, die legalen Voraussetzungen zu schaffen, damit diese Jugendlichen vor Gericht als Erwachsene gelten würden, damit er die Todesstrafe fordern könnte.

Aber dann kam aus Korea ein Brief, der von den Eltern und 20 weiteren Familienangehörigen unterschrieben worden war. In diesem Brief hieß es: „Unsere Familie bittet darum, dass die Personen, die diese kriminelle Handlung begangen haben, so großzügig wie möglich innerhalb der Gesetzgebung behandelt werden. Wir werden Geld sammeln und bitten darum, dieses Geld für die Jugendlichen einzusetzen, wenn sie entlassen werden, damit sie eine religiöse, pädagogische, berufliche und soziale Betreuung bekommen. Wir sprechen unsere Hoffnung aus im dem Geist des Evangeliums Jesu Christi, der für unsere Sünden gestorben ist.“

Diese versöhnliche Geste ist etwas, was dazu beitragen kann, dass unsere Welt von selbstmörderischen Tendenzen erlöst wird. Gerade unter Christen besteht die Gefahr, dass man rechthaberisch wird, denn Christen kennen die Gebote der Bibel und kirchliche Traditionen. Ein unbarmherziges Urteil geht sehr schnell über die Lippen. Und in Zeiten zunehmender Geldknappheit kommt es immer wieder zu Konfliktsituationen, wo Recht gegen Recht steht.

Das alltägliche Leben wird schnell unerträglich, wenn jeder auf sein Recht pocht. Besonders gefährlich wird es, wenn z. B. zwei Autofahrer sich begegnen und jeder ist überzeugt, die rechtmäßige Vorfahrt zu haben. Oder wie schnell kann ein Streit entstehen, wenn es in einem Postamt eine lange Schlange gibt, und zwei Personen überzeugt sind, dass der andere sich vorgedrängt hat.

Die Dynamik, die zu dem Untergang Jerusalems geführt hat, spielt sich jeden Tag ab. Wir Christen sind dazu berufen, etwas Höheres darzustellen als ein bloßes Rechtsbewusstsein. Wir Christen sind dazu beauftragt, die göttliche Gerechtigkeit vorwegzunehmen, die zuletzt diese Welt bestimmen wird. Denn Gott wird seine Gerechtigkeit zuletzt überall und endgültig verwirklichen, und seine Gerechtigkeit besteht nicht aus Rache und Vergeltung, sondern aus Gnade, Vergebung und Barmherzigkeit. Unsere Aufgabe ist es, diese Gerechtigkeit schon jetzt in kleinen, alltäglichen Situationen zu verwirklichen.

Möge Gott uns die Kraft und Weisheit geben, seine Gerechtigkeit zu vollziehen, die aus Gnade und Vergebung besteht. Amen.

Das Gemälde 'The Siege and Destruction of Jerusalem by the Romans Under the Command of Titus, A.D. 70', 1850, David Roberts, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Zeichnung 'Leo Baeck ', 2008, Andrzej Matras, Ryszard Zawadzki, wurde von seinem Urheber, example, als gemeinfrei veröffentlicht. Dies gilt weltweit.
Die Photographie 'Konzentrationslager Auschwitz', 2006, Pimke, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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