Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Petrus 4, 7 – 11 Ein unberechenbares Buch

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'Bust of William Tyndale', Lonpicman 
, 2005

9. Sonntag nach Trinitatis

Ein unberechenbares Buch1. Petrus 4, 7 – 11

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2002

Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet. Vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe; denn »die Liebe deckt auch der Sünden Menge« (Sprüche 10,12). Seid gastfrei untereinander ohne Murren. Und dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes: wenn jemand predigt (wortwörtlich: redet), dass er's rede als Gottes Wort; wenn jemand dient, dass er's tue aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus. Sein ist die Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. 1. Petrus 4, 7 – 11

Vor einiger Zeit wollte ein Engländer ein Buch übersetzen. Einige Geschäftsleute aus London waren bereit, dieses Vorhaben zu finanzieren. Es gab allerdings eine mächtige internationale Organisation, die total gegen die Übersetzung und Verbreitung dieses Buches war. Es war deshalb lebensgefährlich, dieses Buch öffentlich herauszugeben. Der Engländer zog nach Deutschland um, weil er dort unbekannt war. In Köln konnte er eine vorläufige Fassung des Buches fertig stellen, aber als diese Fassung gedruckt werden sollte, wurde der Engländer beinahe verhaftet. Er zog nach Worms um und dort konnte er einen Teil des Buches drucken lassen. Weil er aber von Geheimagenten verfolgt wurde, musste er fliehen. In der Nähe von Brüssel wurde er von Freunden verraten und schließlich festgenommen. Zuletzt wurde er in Vilvoorde, in der Nähe von Brüssel, erwürgt und seine Leiche wurde verbrannt. Sein Projekt, das Buch vollständig zu übersetzen, konnte er nicht zu Ende bringen.

Um welches Buch ging es? Welches Buch konnte so gefährlich sein, dass ein internationaler Machtapparat Geheimagenten und kaltblütige Henker einsetzte, um die Verbreitung dieses Buches zu verhindern? Das Buch war die Bibel. Der Engländer hieß William Tyndale, der 1536 sein Leben verlor. Die internationale Organisation, die ihn mit Geheimagenten und Henkern verfolgte und zuletzt umbrachte, war die Kirche.

'Eine persönliche Bibel von Mutter Maria Bernarda in der Altstättener Kloster Maria Hilf', Wici, 2009

Es ist heute nicht mehr nachvollziehbar, warum die Bibel einmal ein so Angst erregendes Buch war. Die kirchlichen Autoritäten hatten damals mit aller Gewalt versucht, Bibelübersetzungen zu verhindern, denn sie wollten es nicht zulassen, dass Kirchenmitglieder die Bibel lesen. Denn was wäre eingetreten, wenn normale Menschen die Bibel in ihrer eigenen Sprache gelesen hätten?

Wenn normale Gemeindemitglieder die Bibel lesen, kommt es unweigerlich dazu, dass sie sich ihre eigenen Gedanken über den christlichen Glauben machen. Bibelleser entwickeln eine eigene Vorstellung, wie die Christenheit auszusehen hat. Bibelleser wollen auch mit anderen zusammen über ihre Fragen und Entdeckungen reden. Bibel lesen erweckt Kräfte, die unkalkulierbar sind. Und wenn so etwas eintritt, hat die kirchliche Obrigkeit nicht mehr alles im Griff. Sie hat nicht mehr die absolute Kontrolle über Glaubensinhalte und über die Gläubigen. Für die Machthaber in der mittelalterlichen Kirche war die Bibel wie Nitroglycerin; sie hatte eine unberechenbare, explosive Wirkung und sollte deshalb möglichst hinter Schloss und Riegel gehalten werden.

Auch evangelische Pfarrer waren nicht unbedingt begeistert, als vor etwa 300 Jahren die ersten Bibelkreise gegründet wurden, die sich ohne einen Pfarrer getroffen hatten. In manchen Fällen haben evangelische Pfarrer die Polizei geschickt, um solche Bibelkreise aufzulösen.

'Bibel 2000', Edgeurged

In dem vorigen Jahrhundert war es der Kirche endlich gelungen, Gemeindeglieder vom Bibel lesen abzuhalten – ironisch gesprochen. Die wissenschaftliche Erforschung der Bibel führte dazu, dass Bibelauslegung scheinbar eine Frage der Fachkompetenz wurde. Offenbar musste man eine akademische Ausbildung haben, um die Bibel auszulegen. Viele Gemeindeglieder trauten sich nicht, die Bibel zu lesen und auszulegen und mit anderen darüber zu reden, weil sie angeblich nicht kompetent waren. Diese Botschaft hatte die Kirche „erfolgreich“ vermittelt. Deswegen war es eine Zeit lang sehr schwer geworden, Bibelgesprächskreise in Gemeinden aufrecht zu erhalten und deswegen bleiben viele Bibeln in Regalen liegen. Denn angeblich ist die Bibel zu anstrengend und zu kompliziert für sogenannte Laien. Die mittelalterliche Kirche konnte nicht verhindern, dass normale Gemeindemitglieder die Bibel eigenständig lesen und auslegen. Aber die Kirche des 20. Jahrhunderts hatte es geschafft, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Bibelauslegung war wieder eine Frage der Fachkompetenz geworden und lag offenbar fest in den Händen der Theologen. Erfreulicherweise kommt es heutzutage immer mehr vor, dass "normale" Gemeindemitglieder bereit sind, die Bibel in Gruppengesprächen eigenständig auszulegen.

Es war ein Anliegen Luthers, dass jeder Christ das Recht und die Pflicht hat, die Bibel zu lesen und auszulegen – obwohl die Menschen damals völlig ungebildet waren im Vergleich zu heute. Die Bibel sollte nicht den Theologen überlassen werden, sondern jeder gläubige Mensch sollte selber nachschlagen und für sich selbst das Wort Gottes entdecken. Es war ein Anliegen der Reformation, die künstliche Unterscheidung zwischen Geistlichen und Laien aufzuheben. Die Vorstellung Luthers lautete: Jeder getaufte Christ ist ein Geistlicher, der die Verantwortung hat, die Bibel auszulegen, für andere zu beten, für andere die Gnade Gottes in Jesus Christus zu vermitteln.

'Lucas Cranach the Younger: Title woodcut for the 1541 of Martin Luther's German Bible', 1541, Lucas Cranach der Jüngere

Luther sprach in diesem Zusammenhang von einem Priestertum aller Gläubigen. Diese Sprache hat er nicht erfunden, sondern sie ist von der Sprache des Neuen Testaments abgeleitet. Denn in dem 1. Petrusbrief heißt es:

Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.

Nach dieser Vorstellung hat das ganze Kirchenvolk die Aufgabe, das Evangelium zu verkündigen. Und in dem Text aus dem 1. Petrusbrief, der für heute vorgesehen ist, wird verkündet, dass jeder Christ und jede Christin dementsprechend eine Gnadengabe hat, die er oder sie für die Allgemeinheit einsetzen kann. Wie es heißt:

Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes: wenn jemand redet, dass er's rede als Gottes Wort; wenn jemand dient, dass er's tue aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus.

Niemand kann also behaupten, so unbeholfen zu sein, dass er oder sie keinen Beitrag leisten kann. Jeder Christ und jede Christin ist mit Gaben ausgestattet, die er oder sie einsetzten kann – auch beim Bibel lesen.

Aber wir müssen unsere übliche Vorstellung von Kirche ändern. Ein Christ kann nicht allein davon leben, was der Prediger am Sonntag von der Kanzel verkündet. Jeder Christ muss selber die Bibel lesen und auslegen, und für sich selbst die Kraft und die Orientierung suchen, die gebraucht wird. Davon hängt es ab, ob wir eine Betreuungskirche bleiben, in der die normalen Gemeindemitglieder mehr oder weniger unmündige Kunden der Kirche sind, oder eine Volkskirche werden, in der jedes Mitglied Aufgaben übernimmt, die den eigenen Gnadengaben entsprechen.

Es gibt eine Begebenheit, die in diesem Zusammenhang als Gleichnis dienen kann. Es gibt einen Wirtschaftsberater, der hinter seinem Haus einen gepflegten Garten haben wollte. Er beauftragte eine Frau, die im Gartenbau einen Doktortitel hatte. Als er mit dieser Frau über seine Vorstellungen sprach, betonte er immer wieder, dass er wegen seines Berufes kaum Freizeit hätte und viel unterwegs war. Er brauchte also einen Garten, der kaum Pflege brauchte und der ein Bewässerungssystem hätte, das sich automatisch ein- und ausschaltet. Die Frau erwiderte: „Ehe Sie weiter von Ihren Vorstellungen reden, müssen Sie sich etwas klar machen: wenn es keinen Gärtner gibt, gibt es keinen Garten.“

'Flower garden', Love Krittaya

Und dasselbe gilt für das Christsein. Christsein ist vergleichbar mit einem Garten, der Pflege braucht. Und auch hier gilt das Prinzip: ohne Gärtner gibt es keinen Garten. Ohne Gärtner entsteht eine chaotische Wildnis. Aber viele Kirchenmitglieder sind wie jener Wirtschaftsberater: sie wollen irgendwie ein Glaubensleben haben, aber meinen, dass sie nicht die Zeit haben, um das zu tun, was notwendig ist, um ein Glaubensleben zu pflegen: wie z. B. die Bibel zu lesen und auszulegen, sich Zeit für Gebet und Fürbitten zu nehmen, sich Zeit zu nehmen für kleine Dienste der Liebe in der Gemeinde. Der Wirtschaftsberater wollte einen Garten haben, der nur von ihm forderte, dass er einmal Kunde eines professionellen Gärtners würde und danach alles Weitere automatisch abliefe: so wie es Eltern gibt, die ihr Kind taufen lassen und erwarten, dass sich danach alles Weitere automatisch von selbst ergibt. Aber so geht das nicht. Es genügt auch nicht, am Sonntag Kunde eines Gottesdienstes zu sein und zu erwarten, dass damit alle geistigen Aufgaben für die darauffolgende Woche erledigt wären.

Es gibt eine kleine Geschichte, die in diesem Zusammenhang als Gleichnis dienen kann. Im 3. Jahrhundert entstand in Ägypten die Sitte, dass Christen in die Wüste zogen, um Gott mit voller Hingabe in der Abgeschiedenheit der Wüste zu suchen und zu dienen. Es gab Christen, die versuchten, sich als Mitläufer dieser Bewegung anzuschließen, aber viele gaben auf und kehrten zu den Städten zurück. Es wird von einem jungen Mönch erzählt, der einen alten Eremiten fragte, warum so viele Christen es nicht ausgehalten hatten, die Suche nach Gott in der Wüste konsequent durchzuhalten. Der Mönch erwiderte: „Ich habe einen Hund und gestern Abend sah er, wie ein Hase in den Büschen lief. Er fing an zu bellen und lief dem Hasen hinterher. Nach einer Weile kamen andere Hunde dazu, denn sie hatten das Bellen gehört. Sie bellten mit und beteiligten sich an der Verfolgungsjagd. Der Hase wurde während der Nacht gesucht und nicht gefunden. Aber nach und nach gaben alle Hunde auf – außer meinem Hund. Er allein hörte nicht auf, den Hasen zu suchen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“ Der junge Mönch sagte: „Nein. Bitte sagen Sie es mir, Vater.“ Der alte Mönch erwiderte: „Es ist ganz einfach: nur mein Hund gab nicht auf, weil er allein den Hasen gesehen hatte.“ Es wird nicht berichtet, ob der junge Fragesteller jetzt verstand, worum es ging.

Aber es geht darum, dass Menschen, die Gott suchen, nur bei der Suche beharrlich bleiben, wenn sie eigene Erfahrungen gemacht haben. Wer das Wort Gottes aus zweiter Hand hört, wird nicht unbedingt mit Ausdauer dabei bleiben. Wer aber durch eigenständiges Bibel lesen das Wort Gottes entdeckt hat, - wer sozusagen, Gott mit seinen eigenen Augen im Geist gesehen hat - der wird die Suche nach Gott nie aufgeben können. Deswegen ist die eigenständige Auseinandersetzung mit der Bibel so unentbehrlich. Davon hängt alles ab in einer Kirchengemeinde.

Und das Ziel ist zuletzt, dass Gott verherrlicht wird. Wie es in dem Petrusbrieftext heißt:

„Wenn jemand redet, dass er's rede als Gottes Wort; wenn jemand dient, dass er's tue aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus. Sein ist die Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“

Das Ziel ist die Ehre Gottes. Dieses Ziel ist der Sinn unserer Existenz. Der Ausgangspunkt ist, dass jeder von uns wahrnimmt, dass wir durch die Taufe dazu beauftragt sind, geistliche Aufgaben zu übernehmen: Bibelauslegung, Fürbitte und Vermittlung der Gnade und Liebe Gottes. Möge Gott uns dabei helfen.

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Das Bild 'Eine persönliche Bibel von Mutter Maria Bernarda in der Altstättener Kloster Maria Hilf', Wici, 2009, ist lizenziert unter der Creative Commons–Lizenz „Attribution 3.0 Unported“.
Die Photographie 'Bibel 2000', Edgeurged, wurde unter den Bedingungen der Creative Commons "Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported"-Lizenz veröffentlicht.
Die Photographie 'Flower garden', Love Krittaya, wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Die Abbildung 'Lucas Cranach the Younger: Title woodcut for the 1541 of Martin Luther's German Bible', 1541, Lucas Cranach der Jüngere, ist im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.

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