Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Jeremia 1, 4 – 10 Jeremia als Christus-Vorlage

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'Jeremiah Lamenting the Destruction of Jerusalem', Rembrandt van Rijn, 2009, Чръный человек

9. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia als Christus-Vorlage Jeremia 1, 4 – 10

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2006

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. Jeremia 1, 4 – 10

In früheren Zeiten durften Väter bei der Geburt eines Kindes nicht unmittelbar dabei sein, sondern mussten in einem Warteraum bleiben. Es wird von einem wartenden Vater berichtet, der die Wartezeit auf die Geburt seines Kindes nicht gut verkraftet hatte: er konnte nicht sitzen, sondern ist hektisch hin und her gelaufen. Er hat buchstäblich Händeringend gewartet. Schließlich kam eine Krankenschwester mit der guten Nachricht: „Sie haben ein kleines Mädchen bekommen!“ Er atmete erleichtert auf und sagte: „Gott sei Dank, dass es ein Mädchen ist: Sie wird nie das Leiden durchmachen müssen, das ich heute Abend erlitten habe.“

Auf den ersten Blick klingt diese Aussage naiv. Aber ein hilfloses Mitleiden kann manchmal das Schlimmste sein, was es gibt. Wenn man zusehen muss, wie eine geliebte Person leidet – und man ist hilflos, irgendetwas dagegen zu tun – das kann schlimmer sein als alles andere.

Und genau dieses Leiden musste der Prophet Jeremia durchmachen. Er bekam eine undankbare Aufgabe: er musste das Volk warnen, dass eine Katastrophe bevorstand. Seine Botschaft lautete: Die Babylonier werden als Instrument Gottes Juda mit rücksichtsloser Brutalität überfallen und Jerusalem mit seinem Tempel zerstören; wer diese Katastrophe überlebt, wird in die Gefangenschaft verschleppt. Jeremia musste außerdem verkünden, dass das Volk diese Katastrophe über sich selbst gebracht hatte, denn es hatte Gott verraten, hatte seine Identität als Volk Gottes durch Nachlässigkeit und durch Bosheit verloren. Und anstatt eines vertrauenden Glaubens gab es Aberglaube. Es herrschte damals die Vorstellung, dass der Tempel als Wohnort Gottes einen magischen Schutz bot. Die Bewohner Jerusalems dachten: uns kann nichts passieren, denn Gott würde es nie zulassen, dass sein Haus angetastet wird.

Jeremia wusste, dass dieser Aberglaube eine verhängnisvolle Täuschung war. Er musste den Untergang Jerusalems verkündigen. Denn diese Warnung könnte vielleicht das Volk zur Umkehr bringen, und es bestand die kleine Chance, dass das schlimmste Unheil abgewendet werden könnte. Aber gleichzeitig wusste Jeremia, dass die Katastrophe doch unabwendbar war, denn das Volk war unbelehrbar.

Das Leiden Jeremias aber bestand nicht nur darin, dass er hilflos zusehen musste, wie sein Volk sich ins Unheil stürzt, sondern durch seine Warnungen machte er sich unbeliebt; er wurde gehasst, er wurde verspottet, er wurde verfolgt und verhaftet.

'The proffet Jeremiah', Deror avi
, 2008

Das Buch des Propheten Jeremia ist in der ganzen Bibel etwas Einzigartiges. Es gibt kein Buch der Bibel, bei dem der Leser so viel von dem emotionalen Innenleben eines Menschen erfährt. Jeremia beschreibt schonungslos, wie er an seinem Amt als Sprecher Gottes leidet. Und Gott gegenüber nimmt er kein Blatt vor den Mund. Typisch ist die folgende Stelle:

HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: (sie sagen) »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«

Jeremia klagte Gott auch an, indem er an einer anderen Stelle fragte: Warum sollen auch Unschuldige wegen der Gottlosen leiden? Die Antwort Gottes auf diesen Einwand ist scheinbar kaltblütig; sie lautet: das gegenwärtige Leid ist eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was noch bevorsteht. Das heißt: Jeremia wird ermahnt, einfach auszuharren – auch wenn die Situation noch schlimmer wird. Er soll Gott vertrauen, auch wenn es nicht einleuchtend oder erklärbar ist, warum er Gott vertrauen sollte. Das ist sein Auftrag.

An einer Stelle wagt Jeremia Worte auszusprechen, die an Gotteslästerung grenzen: Er schreibt:

Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin; der Tag soll ungesegnet sein, an dem mich meine Mutter geboren hat! ....Der Tag soll sein wie die Städte, die der HERR vernichtet hat ohne Erbarmen. Am Morgen soll er Wehklage hören und am Mittag Kriegsgeschrei, weil er mich nicht getötet hat im Mutterleibe! ...Warum bin ich doch aus dem Mutterleib hervorgekommen, wenn ich nur Jammer und Herzeleid sehen muss und meine Tage in Schmach zubringe!

Und warum stehen diese Worte in der Bibel? Zuletzt findet Jeremia keine Antwort auf seine Fragen. Das Leiden des Propheten bleibt ein ungelöstes Rätsel. Deshalb noch einmal die Frage: Warum wird das qualvolle Innenleben dieses Propheten so offen dargestellt, wie das sonst in keinem Buch der Bibel vorkommt?

'Ideal view of Jerusalem and of Salomon's temple', 1493, Hartmann Schedel

Die Antwort ist verblüffend. Und sie ist auch eine Kernbotschaft der Bibel. Sie lautet: Im Leiden des Propheten spiegelt sich das Leiden Gottes an seinem Volk. Gott leidet – menschlich gesprochen – an der Untreue seines auserwählten Volkes, das durch seine Abtrünnigkeit dem Untergang entgegengeht. Das Leiden Jeremias veranschaulicht das Leiden Gottes.
So wie Jeremia hilflos zusehen muss, wie Juda auf einen Untergang zusteuert, der zuletzt nicht zu verhindern ist, so muss auch Gott hilflos zusehen. Denn Gott weigert sich, das Volk gegen seinen Willen auf eine magische Weise zu retten. Denn das würde das Volk in seinem kindischen Aberglauben bestärken. Gott weigert sich, eine Erlösung durchzuführen, die eine menschliche Willensentscheidung außer Kraft setzt. Notfalls muss fast alles vernichtet werden, damit ein neuer Anfang möglich wird.

Jeremia ist eine Christus-Vorlage. Denn Gott sagte zu Jeremia, wie wir vorhin gehört haben: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Diese Worte treffen aber auch auf Jesus zu. Diese Stelle zeigt, wie sehr sich Gott mit Jeremia indentifiziert.

'Vertreibung der Juden aus Jerusalem unter Nebukadnezar', 1493, Michel Wolgemut, Wilhelm Pleydenwurff

Jesus hat wie Jeremia die Zerstörung Jerusalems vorausgesehen und darunter gelitten, dass er diese Katastrophe nicht abwenden konnte. Jesus hat wie Jeremia Spott, Gelächter, Verfolgung und Verhaftung erlitten, weil er seinem Auftrag treu blieb. Jesus hat wie Jeremia die innere Zerrissenheit der Entfremdung von Gott erlebt, als er am Kreuz hing und betete: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Aber das Leiden Jesu war gleichzeitig das Leiden Gottes.

Von Jeremia können wir einiges lernen. Zum Beispiel: man darf von Gott keine magische Rettung erwarten, - das wäre Aberglaube – Aberglaube meint, dass Gott manipulierbar oder berechenbar ist. Aberglaube macht Menschen kindisch und egozentrisch. Zwar tut Gott Wunder, aber man darf diese Wunder nicht einkalkulieren. Es ist nicht unsere Bestimmung als Menschen, uns durch Aberglaube rückwärts zu entwickeln, sondern wir sind für Vollendung und Herrlichkeit vorgesehen. Es gibt einen anglikanischen Geistlichen mit dem Namen Leonard Wilson, der Bischof von Birmingham wurde. Während des zweiten Weltkriegs wurde er von japanischen Soldaten festgenommen und misshandelt. Die Japaner fragten ihn damals: Du glaubst an Gott, warum rettet dich dein Gott nicht? Und er antwortete: „Gott rettet Menschen nicht, indem er Qual oder Schmerz verhindert. Seine Erlösung besteht darin, dass er Menschen Kraft und Geist gibt, auszuharren.“ Diese Antwort klingt schwach. Aber in dieser scheinbaren Schwachheit steckt die ganze Kraft Gottes. Denn einer von den Japanern, der Wilson misshandelt hatte, suchte ihn später nach dem Krieg auf und er ließ sich von ihm taufen. Denn das Glaubenszeugnis des Geistlichen machte einen unvergesslichen Eindruck auf ihn und hat ihn zuletzt verwandelt.

Von Jeremia können wir auch lernen, dass unser Leiden etwas ist, was Gott mitfühlt und einbezieht. Eine Frau, die als medizinische Missionarin in Afrika viel erlitten hatte, spürte mittendrin die Gegenwart Gottes. Und es war, als ob die Stimme Gottes zu ihr gesagt hätte: „Sie schlagen nicht dich, sondern mich; diese sind nicht deine Schmerzen, sondern meine Schmerzen; dein Leib ist eine Leihgabe an mich“ Wenn ein gläubiger Mensch in einer aussichtslosen Situation einfach im Namen Gottes ausharrt, dann trägt dieses Ausharren dazu bei, dass Gott seinen Willen verwirklicht. Geduldiges Ausharren ist nicht umsonst, sondern trägt zu der Vollendung bei, die Gott mit uns Menschen vorhat.

Und von Jeremia können wir lernen, dass es manchmal notwendig ist, dass etwas vergeht, was nicht mehr dem Willen Gottes entspricht, damit etwas Neues entstehen kann. Juda hat sich im 6. Jahrhundert vor Christus darauf verlassen, dass Gott seine heilige Stadt und seinen heiligen Tempel um jeden Preis schützen würde. Das war Selbstbetrug. Heute können wir uns auch nicht darauf verlassen, dass jede Gestalt der Christenheit zwangsläufig unter dem Schutz Gottes steht. Vielleicht ist unsere evangelische Christenheit nicht so, wie Gott sie haben will. Vielleicht muss einiges untergehen oder zusammenbrechen, damit ein Neuanfang möglich ist, damit Gott an uns seinen Willen verwirklichen kann. Mit dieser Möglichkeit muss man rechnen.

Jeremia ist also ein unbequemer Prophet, der uns auch heute aufwühlen kann. Möge Gott uns helfen, dass wir von ihm lernen, dass der lebendige Gott nicht unseren Wunschvorstellungen entspricht, sondern der ganz Andere ist. Und das ist gut so, denn wenn Gott so wäre, wie wir ihn haben möchten, wäre das für uns nicht heilsam. Uns bleibt nichts anderes übrig, als diesem lebendigen Gott zu vertrauen, auch wenn es nicht einleuchtend oder erklärbar ist, warum wir ihm vertrauen sollten. Aber wie Gott durch Jeremia spricht:

Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.

Das Bild 'Jeremiah Lamenting the Destruction of Jerusalem', Rembrandt van Rijn, 2009, Чръный человек, der Holzschnitt 'Ideal view of Jerusalem and of Salomon's temple', 1493, Hartmann Schedel, sowie die Illustration 'Vertreibung der Juden aus Jerusalem unter Nebukadnezar', 1493, Michel Wolgemut, Wilhelm Pleydenwurff (Illustration aus der Schedel'schen Weltchronik, Blatt 63r), sind im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.
Die Figur 'The proffet Jeremiah', Deror avi, 2008 (The Knesset Menorah, Jerusalem), wurde unter den Bedingungen der Creative Commons "Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported"-Lizenz veröffentlicht.

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