Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Markus 7,31-37 Gott interessiert sich auch für das Haustier eines Kindes

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12. Sonntag nach Trinitatis

Gott interessiert sich auch für das Haustier eines Kindes Markus 7,31-37

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

'Heilung des Taubstummen', um 830, Meister von Müstair

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heisst: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. Markus 7,31-37

Im Jahre 1950 hat ein Pfarrer die Mitteilung bekommen, dass ein Gemeindeglied aus der Kirche austreten wollte. Es handelte sich um einen Mann, 55 Jahre alt. Der Pfarrer besuchte ihn und fragte ihn nach den Gründen seines Vorhabens. Er antwortete prompt, dass er die meisten Pfarrer für unglaubwürdig hält; er bezeichnete sie als „vollgefressene Pfaffen und Waffen-Segner“. Er meinte, dass die Kirche immer zum Krieg gehetzt und nichts für den Frieden getan hatte. Der Pfarrer versuchte, diese Behauptungen zu widerlegen und berichtete von seinem eigenen Schicksal als Mitglied der Bekennenden Kirche, die im dritten Reich Widerstand gegen das Regime leistete. Der Mann hörte sich das alles an, aber es hat ihn offenbar nicht interessiert, denn er war von seinem Entschluss nicht abzubringen. Er bedankte sich für den Besuch, aber als Letztes sagte er folgendes: „Herr Pfarrer, wenn ich den rauskriege, der Sie zu mir geschickt hat, dem schlage ich eins in die Fresse!“

Diese kleine Begebenheit offenbart etwas typisch Menschliches. Es sieht so aus, als ob es die großen weltpolitischen Fragen sind, die uns Menschen bewegen: Themen wie Krieg und Frieden, Hunger und Armut, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Aber was uns Menschen zuletzt wirklich aufwühlt, was uns tatsächlich unter die Haut geht, das sind die Kleinigkeiten, die das tägliche Leben ausmachen. Vordergründig gesehen, hat sich dieser Austrittskandidat über das Verhalten der Kirche in der Öffentlichkeit aufgeregt, dass es z. B. eine Zeit gab, als die Kirche Waffen segnete. Was ihn aber wirklich zutiefst irritiert hatte, war, dass jemand einen Pfarrer zu ihm geschickt hatte. Er fühlte sich verpetzt. Diese Belanglosigkeit erregte seinen Zorn, während die geistige Auseinandersetzung wenig Eindruck auf ihn machte. Und das ist das typisch Menschliche.

Denn 95% des Alltags besteht aus belanglosen Kleinigkeiten. Es mag sein, dass wir uns über Gentechnologie oder über Rentenreform beunruhigen lassen, aber der Alltag besteht aus Essen und Trinken, Schlafen und Arbeiten, Kochen und Putzen, Rechnungen bezahlen, Einkaufen, Telefonieren, Aufräumen, Fernsehen. Die eigentlichen Weltkatastrophen – emotional gesehen – sind nicht die, die in den Schlagzeilen der Zeitungen erscheinen, sondern bestehen aus Dingen, die sich im Verborgenen abspielen: z. B. das dumme Geschwätz eines Arbeitskollegen, oder Spannungen unter Familienangehörigen, oder stundenlang in einer Schlange warten müssen, oder der Idiot in dem hinteren Auto, der sofort hupt, wenn die Ampel von rot auf gelb schaltet, oder Dinge wie Krankheit, Einsamkeit, Arztbesuche. Ich habe immer noch im Ohr, wie mir vor vielen Jahren eine Person sagte: „Als ich 13 war, war ein Pickel am Kinn eine Weltkatastrophe“. So klein können Weltkatastrophen sein, denn klein sind die Dinge, die einen unsterblich blamieren können.

'Hamster', Luis Miguel Bugallo Sánchez, 2005

Wenn es stimmt, dass 95% des Lebens aus Kleinkram und aus persönlichen Freuden und Sorgen besteht, dann ergibt sich die Frage: Was hat Gott damit zu tun? Man könnte den Eindruck bekommen, dass Gott sich nur für aktuelle, weltpolitische Themen interessiert oder nur für Randgruppen oder nur für theologische Anliegen. Wie oft hört man Sätze wie z. B.: Gott tritt ein für die Armen und Entrechteten; Gott ergreift Partei für die dritte Welt; und einmal hatte ein Theologe behauptet: „Gott ist für die 35-Stunden-Woche“. Das mag alles richtig sein, aber kann dieser vielbeschäftigte Gott sich auch für mich interessieren? Kann der Gott, der auf einer globalen Ebene nach Frieden und Gerechtigkeit strebt, gleichzeitig ein Gott sein, der sich für meine Allergie interessiert? Kann ein Gott, der gegen Krieg und Hunger ist, auch ein Gott sein, der sich dafür interessiert, ob ich meine Steuererklärung korrekt ausfülle? Kann ein Gott, der in Afrika und Lateinamerika Gerechtigkeit will, gleichzeitig ein Gott sein, der mitfühlen kann, wenn ein Kind sein Haustier verliert? Interessiert sich Gott dafür, was ich lese, was ich denke, was ich fernsehe, wie ich Auto fahre, ob ich rauche, ob ich Übergewicht habe? Ist Gott wirklich aktiv dabei in den Hunderten von Einzelheiten, die das tägliche Leben ausmachen?

Die Bibel gibt auf diese Frage eine beunruhigende Antwort: Die Antwort lautet „Ja“. Sie spricht von einem Gott, der „über allen und durch alle und in allen“ ist.

Dass Gott dabei ist, in jedem Detail des Lebens, ist eine Botschaft, die das Markusevangelium verkündet. In der ersten Hälfte des Markusevangeliums wird die Frage an den Leser gestellt: Wer ist Jesus? Aber Markus beantwortet diese Frage nicht direkt, sondern indirekt. Und sein Antwort lautet: Jesus ist gleichzeitig Mensch und Gott. Und das bedeutet: Gott kennt aus eigener Erfahrung die Kleinigkeiten, die das alltägliche Leben ausmachen. Aber es gab von Anfang an Skepsis, ob so etwas möglich ist. Es gab Jesusanhänger, die nicht akzeptieren konnten, dass Gott und Mensch in einer Person vereinbar sind. Der göttliche Geist und menschliches Fleisch seien absolut unvereinbar, meinten sie. Diese Skeptiker glaubten: Entweder war Jesus nur ein Mensch, ohne Göttlichkeit; oder Jesus war ein Scheinmensch, eine vorübergehende Erscheinungsform Gottes. Diese Skeptiker konnten nicht glauben, dass Gott fähig ist, durch eine Geburt in diese Welt hinein zu kommen. Wie ein Skeptiker fragte: „Hat Gott wirklich Windeln getragen?“ Solche Zweifler haben geglaubt, dass die Kluft zwischen Gott und Mensch unüberbrückbar wäre – auch für Gott unüberbrückbar.

'Heilung des Taubstummen', 1979 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Heilung des Taubstummen', 1979
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Der Markustext, der für heute vorgesehen ist, ist eine Antwort auf solche Skeptiker. Markus schildert einen Jesus, der ein echter Mensch ist und kein Phantommensch. Die echte Menschlichkeit Jesus wird dadurch demonstriert, dass er Speichel produzierte. Bei der Heilung des Taubstummen berührt er die Zunge des Taubstummen mit seinem Speichel, der nach damaliger Auffassung eine heilende Wirkung hatte. Außerdem steckt er seine Finger in seine Ohren. Außerdem seufzt er und er spricht die Sprache des gewöhnlichen Volkes – Aramäisch – wie Markus bezeugt. Was Markus hier schildert ist provozierend für die Skeptiker, die an die Menschwerdung Gottes in Jesus nicht glauben wollten, weil sie meinten, dass es unter der Würde Gottes sei, so etwas zu tun. Ein Gott, der Speichel produziert, der seufzt, der eine gewöhnliche Volkssprache spricht, und der seine Finger in die Ohren eines anderen Menschen steckt – das ist starker Tobak! Aber diese Intimität zwischen Jesus und dem Geheilten ist eine Demonstration, wie nahe uns Gott uns, wie sehr er unseren Alltag teilt. Denn die Menschwerdung Gottes war nur deswegen möglich, weil Gott mitfühlt, was wir fühlen und weil er jede Kleinigkeit miterlebt, die wir erleben.

Aber ist dieser Jesus wirklich Gott? Die Göttlichkeit Jesu ist ein Thema, das Markus verkündigen will, aber er ist auch voller Ehrfurcht vor Gott und vor dem Geheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus. Wegen dieser Ehrfurcht kann er nicht einfach sagen: Jesus ist Gott; eine solche direkte Aussage ist zu banal, um das Geheimnis der Person Jesu zu erfassen.

Große Wahrheiten lassen sich nur indirekt ausdrücken. Und Markus bezeugt die Gottheit Jesu, indem er berichtet, was die Bevölkerung als Reaktion auf das Wunder der Heilung sagt. Die Reaktion lautet: Er hat alles wohl gemacht, oder wie es in der Einheitsübersetzung heißt: Er hat alles gut gemacht. Wer sich in der Bibel auskennt, wird bei diesen Worten an die Schöpfungsgeschichte denken, wo es heißt: Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Nur Gott ist derjenige, von dem man sagen kann: Er hat alles gut gemacht. Wie Jesus feststellte: Nur Gott ist gut. Und diese Wahrheit wird in dem Markustext auf Jesus übertragen, und damit werden Jesus und Gott gleichgesetzt.

'Postkarte, datiert 4.7.1914: Mädchen mit Puppe', 2008, Anonymous

Warum diese Wahrheit so wichtig ist, brachte der Theologe Helmut Thielicke mit den folgenden Worten zum Ausdruck: „Gott kann mein Herr werden, nur wenn er mit mir ist in den Hunderten von Kleinigkeiten, die mein Leben ausmachen....Wenn Gott keine Bedeutung hat für die winzigen Mosaik-Steine meines kleinen Lebens, für die Dinge, die mich angehen, dann geht er mich überhaupt nichts an. Er kann mich nicht aufwühlen oder mir gefährlich werden." Diese Worte eines Theologen kann jedes Kind verstehen. Es gab eine Mutter, die mit ihrem kleinen Sohn Schwierigkeit hatte, weil er nicht ins Bett gehen wollte, da er Angst hatte, allein zu sein. Die Mutter sagte tröstend: „Du brauchst keine Angst zu haben; der liebe Gott ist bei dir!“ Darauf antwortete der Sohn: „Das ist ja gerade das Unheimliche!“

Diese unheimliche Erkenntnis, dass wir nie allein sind, sondern dass Gott mit uns ist, mit uns fühlt, mit uns freut, mit uns schämt und mit uns leidet in allem, was wir erleben, wurde in der Person Jesu offenbart. Jede Kleinigkeit des Lebens ist deshalb wichtig. Jesus offenbarte einen Gott, der Kenntnis davon nimmt, wenn ein Spatz zu Boden fällt.

Es wird von einer Mutter berichtet, die ihre Tochter in ein Lebensmittelgeschäft schickte, um Milch zu holen. Zwei Stunden später war das Mädchen immer noch nicht zu Hause. Die Mutter war außer sich vor Sorge. Als die Tochter endlich nach Hause kam, fragte die Mutter voller Zorn, wo sie sich so lange aufgehalten hatte. Das Mädchen sagte: „Es tut mir Leid. Ich weiß, das ich spät bin, aber ich traf zufällig meine Freundin. Ihre Puppe ist kaputt gegangen und ich musste ihr helfen.“ Die Mutter fragte: „Aber wie konntest du ihr helfen? Konntest du die Puppe reparieren?“ Die Tochter sagte: „Nein, eigentlich nicht, aber ich saß neben ihr und half ihr beim Weinen.“

Diese Begebenheit veranschaulicht, wie Gott ist. Er ist neben uns und weint mit uns, wenn wir traurig sind, und freut sich mit uns, wenn etwas gelingt. Möge Gott uns helfen, diese unheimliche Botschaft täglich wahrzunehmen und dementsprechend zu leben.

Die Wandmalerei Freskenzylus der Johanneskirche in Müstair, Szene: 'Heilung des Taubstummen', um 830, Meister von Müstair, und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Die Photographie 'Hamster', Luis Miguel Bugallo Sánchez, 2005, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Die Postkarte 'Mädchen mit Puppe', datiert 4.7.1914, 2008, Anonymous, ist gemeinfrei in den Vereinigten Staaten, weil es vor dem 1. Januar 1923 veröffentlicht wurde.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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