Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Kor. 6, 9 – 14. 18 – 20 Lebensverachtung und Hemmungsglosigkeit

« Predigten Home

'Crash and rescue workers', Rtruo85, 2008

8. Sonntag nach Trinitatis

Lebensverachtung und Hemmungsglosigkeit 1. Kor. 6, 9 – 14. 18 – 20

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2006

Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.
Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen. Die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird das eine wie das andere zunichte machen. Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe. Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.
Flieht die Hurerei! Alle Sünden, die der Mensch tut, bleiben außerhalb des Leibes; wer aber Hurerei treibt, der sündigt am eigenen Leibe. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe. 1. Kor. 6, 9 – 14. 18 – 20

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat neulich untersucht, wie die Bundesbürger zu Fragen der Moral stehen. Als Ergebnis dieser Umfrage wurde eine Liste von moralischen Verfehlungen aufgestellt. Und die moralische Verfehlung, die an erster Stelle stand, d.h. die am meisten verurteilt wird, war Trunkenheit am Steuer. 79% der Befragten verurteilten Trunkenheit während des Fahrens. Als nächstes stand Drogenkonsum, der von 73% abgelehnt wurde. Schmiergelder annehmen und eine Kleinigkeit stehlen fanden 70% nicht in Ordnung. Dann kamen Missbrauch von Sozialleistungen (69%), Müll unerlaubt entsorgen (67%), Schwarzfahren (64%), Ausländer beleidigen (60%), Steuerhinterziehung (55%), über Glauben spotten (42%), für eigenen Vorteil lügen (23%) und Schwarzarbeit (die nur 20% unmoralisch fanden).

Als Kommentar zu diesen Ergebnissen stand in einer Zeitung: „Wie halten es die Deutschen mit Moralfragen? Ziemlich strikt, zumindest verbal“.

Aber „ziemlich strikt“, wie es hier heißt, leuchtet mir nicht ein. Denn warum sind nur 79% der Befragten gegen Trunkenheit am Steuer? Warum nicht 100%? Nach dieser Allensbacher-Untersuchung sind 21% offenbar damit einverstanden, dass ein betrunkener Mensch Auto fährt und sein Leben und das Leben seiner Mitmenschen aufs Spiel setzt. 21% der Bevölkerung wären 18 Millionen Menschen. Man fragt sich: gibt es 18 Millionen Menschen in unserem Land, die Trunkenheit am Steuer für erlaubt halten? Man könnte überspitzt fragen: gibt es 18 Millionen potentielle Totschläger und Selbstmörder, die unter uns wohnen?

Oder wenn 70% sagen, dass Kleindiebstahl nicht in Ordnung ist, dann sind 30% mit Klein-Diebstahl einverstanden. Das heißt: es gibt theoretisch 25 Millionen Menschen, die bereit sind, Hotelhandtücher oder Geschirr aus der Firmencafeteria mitgehen zu lassen. Auch Gesangbücher können Opfer dieser lockeren Moralvorstellung werden. Zum Beispiel: die Frauenkirche in Dresden hat eine Menge Gesangbücher an Souvenirjäger verloren.

Auch ist es auffallend, dass nur 42% meinen, dass es nicht in Ordnung sei, über den Glauben eines Menschen zu spotten. Das heißt: 58% sind mit Glaubensspott einverstanden, obwohl es bekannt sein müsste, dass Glaubensspott tief verletzend und demütigend wirken kann. Und dazu gehört auch, dass 40% Ausländerbeleidigung offenbar für moralisch legitim halten.

Diese Allensbacher-Ergebnisse, wenn sie zutreffend sind, sind erschreckend, denn sie offenbaren eine Haltung, die lebens- und menschenverachtend ist.

Diese Ergebnisse erinnern mich an eine Anekdote. Ein Pfarrer musste ins Krankenhaus und wurde operiert. Eine Delegation des Kirchenvorstands besuchte ihn. Der Leiter dieser Gruppe sagte: „Herr Pfarrer, ich habe eine gute Nachricht für Sie: wir haben im Kirchenvorstand abgestimmt und mit 8 Ja-Stimmen, 3 Nein-Stimmen und 4 Enthaltungen haben wir beschlossen, für Ihre Genesung zu beten.“ Diese Anekdote macht deutlich: wenn es um Leben geht, muss es hundertprozentige Zustimmung geben; alles andere ist unannehmbar.

Allerdings, auch wenn eine lebensverachtende Haltung heutzutage verbreitet ist, ist unsere westliche Welt trotz allem von der Christenheit geprägt worden. Denn wenn es vor 2000 Jahren ein Allensbacher-Institut gegeben hätte, würden die Ergebnisse aus der vorchristlichen Zeit uns richtig erschrecken. Es galt damals zum Beispiel als völlig legitim, unerwünschte Säuglinge einfach auszusetzen. Sklaverei und die Misshandlung von Sklaven waren auch völlig legitim.

'Marie-Madeleine baptise à Marseille', Vassil, 2009

Und der Korintherbrieftext, der für heute vorgesehen ist, zeigt, dass auch eine christliche Gemeinde damals es nicht leicht hatte, ihre Mitglieder zu überzeugen, dass es nicht in Ordnung ist, jede Gier und alle Gelüste hemmungslos auszuleben. Wenn Paulus schreibt „alles ist erlaubt“, dann ist diese Aussage ein Zitat seiner Gegner. In der damaligen Zeit war im Bereich der Triebhaftigkeit alles erlaubt.

Aber für Paulus ist es nicht bloß eine Frage der Moral. Was eine Bevölkerung für moralisch legitim hält, ist für die Christenheit nicht ausschlaggebend. Sondern christliche Ethik hat einen eigenen Ausgangspunkt, nämlich die Liebe zum Leben, die gleichzeitig eine Liebe zu Gott ist.

Der Hintergrund zu dem Korintherbrieftext ist eine hellenistische Vorstellung, die lebensverachtend ist, denn es gab die Vorstellung damals, dass der Leib eines Menschen ein bloßes Abfallprodukt war. Ein neutestamentlicher Ausleger schreibt dazu folgendes:

„Die Griechen der spät- und nachhellenistischen Zeit blickten bekanntlich auf den Leib herab, und sprichwörtlich war die Rede vom Leib als von einem Grab. „Epiktet sagte: „Ich bin eine arme, an einen Leichnam gefesselte Seele“. Die Seele oder der Geist des Menschen zählte; auf den Körper kam es dabei nicht an....Man glaubte, da der Körper unwichtig sei, könne man mit ihm tun, was man wolle; da es nur auf die Seele ankomme, sei es einerlei, was der Mensch mit seinem Körper mache.“

Was setzt Paulus dagegen? Es wäre völlig sinnlos gewesen, wenn er versucht hätte, irgendein Moralsystem entgegenzuhalten. Denn Menschen werden nicht verändert durch moralische Appelle; niemand wird sich ändern, wenn ein Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger sagt: „das, was du tust, ist unanständig; das gehört sich nicht.“ Sondern es ist das Evangelium, das mit seiner befreienden Kraft Menschen grundlegend verändert.

In unserem Text gibt es zwei Stellen, bei denen Paulus das Evangelium einsetzt. Er schreibt:

Aber ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.

Diese Aussage bezieht sich auf die Taufe. Allerdings war die Taufe damals anschaulicher als eine Taufe heute. Damals wurde der Taufkandidat total untergetaucht. Denn die Taufe ist ein symbolisches Begräbnis. Als der Getaufte aus dem Wasser kam, zog er ein weißes Gewand an. Der Ausstieg aus dem Wassergrab veranschaulichte, dass er mit Christus auferstanden ist. Das Anziehen des weißen Gewandes zeigte, dass er das ewige Leben angezogen hatte, dass sein Leib für Verklärung und Herrlichkeit vorgesehen ist. Deswegen schreibt Paulus:

Sailko, 2009

Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe. Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.

Damit wollte Paulus sagen, dass der Leib kein Abfallprodukt ist – wie einige damals meinten. Die Hellenisten damals glaubten an Seelenbefreiung. Aber Auferstehung ist nicht bloß Seelenbefreiung, sondern der Mensch in seiner Ganzheit ist für Auferstehung vorgesehen. Zwar ist menschliches Fleisch vergänglich. Paulus sagt ausdrücklich und mit krassem Realismus, dass der Bauch zunichte gemacht wird. Aber die Identität eines Menschen besteht aus einer Einheit von Leib, Geist und Seele. Auch der Leib ist Gott geweiht, d.h. heilig. Deswegen sagt Paulus:

Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.

Hier ist also die Begründung für christliche Ethik. Der Christ sollte nicht hemmungslos seine Gier ausleben, - nicht weil so etwas eventuell als unmoralisch gilt – sondern weil er durch die Taufe dazu beauftragt ist, die Herrlichkeit Gottes zu bezeugen, für die er bestimmt ist – auch durch die Art und Weise wie er mit seinem Körper umgeht.

Wer also in einem betrunkenen Zustand Auto fährt, tut so, als ob sein Körper bloß Abfall und als ob Leben wertlos wäre, als ob das eigene Leben und fremdes Leben etwas zum Wegwerfen wäre. Wer aber weiß, dass alle Menschen für Auferstehung und ewige Herrlichkeit vorgesehen sind, geht automatisch behutsamer mit Leben um.

Es ist auch völlig ausgeschlossen, dass ein Christ als Tempel des heiligen Geistes durch spöttische, zynische Bemerkungen andere Menschen verletzt und demütigt. Denn zwei Geiste können nicht gleichzeitig in demselben Körper wohnen. Entweder wohnt der heilige Geist in mir oder ein lebensverachtender Geist. Der Leib eines Christenmenschen ist Tempel des heiligen Geistes – was auch bei jeder Taufe und jeder Konfirmation bezeugt wird durch die Handauflegung als Symbol für die Übertragung des heiligen Geistes.

Es gibt eine Klischeevorstellung, die lautet: man muss sich anständig benehmen, wenn man einen Platz im Himmel bekommen will. Aber die Reihenfolge ist umgekehrt: Anständigkeit ist nicht die Voraussetzung für himmlische Herrlichkeit, sondern zuerst wird der Platz im Himmel als Geschenk angenommen – z. B. durch Taufe und Abendmahl - und die Folge ist, dass ein Mensch verwandelt wird. Wenn eine Person gelernt hat, dass sie für Auferstehung und ewige Herrlichkeit vorgesehen ist, kann diese Person nicht mehr lebensverachtend reden und handeln.

Der christliche Schriftsteller C. S. Lewis schrieb: „Ich entdecke in mir selbst ein Verlangen, das kein Erlebnis dieser Welt erfüllen kann: die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist, dass ich für eine andere Welt geschaffen bin.“ Wer nur für diese Welt lebt, hat ein Verlangen nach Leben, das durch Erlebnissucht einen Ausdruck findet. Und Erlebnissucht kann hemmungslos werden. Wer aber gelernt hat, dass er für Auferstehung vorgesehen ist, wird anders leben: auf jeden Fall lebensbejahender und menschenfreundlicher. Möge Gott uns dazu die Kraft geben.
Amen.

Die Photographie 'Crash and rescue workers', Rtruo85, 2008, sowie Das Glasfenster 'Marie-Madeleine baptise à Marseille', Vassil, 2009 (Basilique-cathédrale Notre-Dame de l'Annonciation de Moulins) wurden von ihren Urhebern zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Das Bild aus La Cappella Brancacci a Santa Maria del Carminevon, Sailko, 2009, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

^ Zum Seitenanfang

PSch