Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Johannes 9, 1 – 7 Zwerg-Gott oder Zwerg-Verstand?

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'Blindenheilung', 1979 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Blindenheilung', 1979
Walter Habdank. © Galerie Habdank

8. Sonntag nach Trinitatis

Zwerg-Gott oder Zwerg-Verstand? Johannes 9, 1 – 7

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2007

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. Die Nachbarn nun und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sprachen: Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sprachen: Er ist's; andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich. Er selbst aber sprach: Ich bin's. Johannes 9, 1 – 7

Im Jahre 1912 wurde Woodrow Wilson zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Nach der Wahl besuchte er eine Tante, die er seit langem nicht gesehen hatte. Die Tante fragte ihn: „Was machst Du im Moment, Woodrow?“ Wilson erwiderte: „Ich bin gerade Präsident geworden.“ Die Tante war nicht beeindruckt; sie sagte: „Ach, ja? Und Präsident wovon?“ Wilson antwortete: „Von den Vereinigten Staaten!“. Als die Tante das hörte, wurde sie ungeduldig und erwiderte: „Hör auf mit dem Blödsinn!“ Sie konnte ihm nicht glauben, denn sie kannte ihn als Neffe, sie kannte ihn in seiner Gewöhnlichkeit.

'Woodrow Wilson', 1919, Harris & Ewing

Menschen, die gewöhnlich erscheinen, werden unterschätzt. In Norwegen, in der Stadt Bodoe, ging ein Mann in ein Autoverkaufshaus. Er trug Pullover, Latzhose und Gummistiefel; er roch nach Fisch, denn er gehörte zu einer Fischer-Mannschaft. Er suchte einen Verkäufer auf und sagte: „Ich möchte 16 Autos kaufen, falls Sie etwas haben, was mir gefällt.“ Der Verkäufer schaute ihn an, sah wie er gekleidet war und erwiderte: „Ich habe keine Zeit für blöde Witze. Hau ab!“ Er haute ab und ging über die Straße zu einem anderen Autohaus. Dort wurde er ernst genommen. Er kaufte tatsächlich 16 Autos und bezahlte in Bargeld: 1.038.961 Norwegische Kronen – etwa € 150.000.

Zu den Menschen, die eine gewöhnliche Erscheinungsform hatten und deshalb unterschätzt wurden, zählte Jesus. Als er zum ersten Mal in seiner Heimatstadt predigte – wie Markus berichtet – gab es folgende Reaktion:

Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm.

Die Bewohner von Nazaret kannten ihn als einen gewöhnlichen Dorfbewohner aus einer alltäglichen Familie. Sie konnten deshalb nicht akzeptieren, dass er mit der Vollmacht Gottes aufgetreten ist.

Und so wie Woodrow Wilson von seiner Tante als Blödsinn-Redender abgetan wurde, so wurde Jesus von seiner eigenen Familie als Spinner abgetan. Als sie hörten, dass Jesus als Wanderprediger und als Wunderheiler auftrat, versuchten sie ihn einzufangen. Wie es in dem Markusevangelium heißt:

„Die Seinen... wollten ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen.“

Wenn man diesen Vorgang in zeitgemäßes Deutsch überträgt, dann haben die Mutter, die Brüder und die Schwester von Jesus zu ihm gesagt: „Komm endlich nach Hause und hör auf mit deinen Spinnereien!“

Von diesem Hintergrund aus ist die Heilung des Blinden zu betrachten. Diese Heilung ist – nach menschlichem Ermessen – absolut unmöglich. Und diese Heilung ist nicht nur unmöglich, sie war auch unappetitlich. Jesus spuckte auf die Erde, machte einen Schlammbrei und strich ihn auf die Augen des Blinden.

Warum werden solche Details erzählt? Vielleicht deswegen, weil es damals Christen gab, die nicht sicher waren, ob Jesus ein echter Mensch war, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber dass Jesus ein ganz normaler Mensch war, wird hier deutlich: denn von Jesus hätte man eine Speichelprobe nehmen können. Jesus kann spucken und seine Hände in Schlamm stecken.

Und in diesem Schlamm steckt eine weitere Botschaft. Denn die Zuschauer und die Leser des Evangeliums sollten sich durch diesen Schlamm an etwas Bestimmtes erinnern: nämlich an die Erschaffung des ersten Menschen. In dem 1. Buch Mose heißt es:

Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte...Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden...aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase.

'Creation of Adam', 12. Jhd.

Der erste Mensch wurde aus Schlamm geformt und Gott schuf aus diesem Schlammhaufen ein lebendiges Wesen. Dementsprechend hat Jesus mit Matsch einen Menschen neu geschaffen. Was Jesus an diesem Blinden vollbrachte, entspricht der schöpferischen Tätigkeit Gottes am Anfang der Bibel: Jesus hat in der Finsternis Licht geschaffen, Jesus hat ein Stück Erde geformt, so dass neues Leben hervorging. Mit anderen Worten: in diesem spuckenden Jesus ist der Schöpfer der Welt erschienen.

Und das hätten alle Zeugen dieses Wunders wissen müssen: Wenn ein Mensch, der von Geburt an blind war, plötzlich sehen kann, dann ist ein Wunder eingetreten, das nur der Schöpfer des Himmels und der Erde vollbringen kann.

Aber bei den Zeugen dieses Wunders entstand eine Verweigerungshaltung. Die Zuschauer weigerten sich, das Wunder zu akzeptieren. Und es hängt mit der Gewöhnlichkeit des ehemaligen Blinden zusammen: die Nachbarn kannten ihn als einen gewöhnlichen Bettler. Deswegen behaupteten einige Nachbarn: dieser Mann, der jetzt sehend herumläuft, ist nicht identisch mit dem blinden Bettler, den wir kennen; er sieht ihm zwar ähnlich, aber das kann nicht derselbe sein - so lautet die Ausrede.

Und wenn man den Johannesbericht weiter liest, erfährt man, dass die Pharisäer eingeschaltet wurden. Die Pharisäer fragten den ehemaligen Blinden, wie die Heilung abgelaufen ist. Und sie stellten fest, dass Jesus den Sabbat entheiligt hatte – durch unerlaubte Arbeit. Jesus hatte durch seine Heilung zwei Sabbatvorschriften übertreten: indem er aus trockener Erde einen Brei formte, hat er Bautätigkeit unternommen – das ist verboten. Ärztliche Tätigkeit ist auch am Sabbat verboten, wenn keine Lebensgefahr vorhanden ist. Die Pharisäer stellten fest: diese Blindenheilung hat nicht stattgefunden, denn ein Sabbatübertreter kann kein Wunder vollbringen; Gott würde ein Wunder unter diesen Umständen nicht zulassen. Es wurde also amtlich bestätigt: Jesus ist ein gewöhnlicher Sabbatschänder; das Wunder kann nicht stattgefunden haben. Und der Zeuge, der behauptete, dass er von Blindheit geheilt wurde, muss ein Lügner sein.

Die heutigen Nachfolger der Pharisäer sitzen in den theologischen Fakultäten westlicher Universitäten. Seit mehr als Hundert Jahren gibt es sogenannte Experten der biblischen Wissenschaft, die dasselbe behaupten, wie die Pharisäer zur Zeit Jesu. Sie sagen kategorisch: Diese Blindenheilung, die in dem 9. Kapitel des Johannesevangeliums berichtet wird, hat nicht stattgefunden. Denn es ist absolut ausgeschlossen, dass ein Mann, der von Geburt an blind war, jemals wieder sehen könnte.

Diese Bibelexperten reden nicht von Lüge – wie die Pharisäer damals – sondern von Legendenbildung in den Urgemeinden. Für diese Theologen ist Gott nicht der Unermessliche, sondern er ist der Gewöhnliche. Dieser mittelmäßige Gott der Bibelforschung bleibt innerhalb der gewöhnlichen Alltäglichkeit; er hat keine Blinden mit Schlammbrei geheilt, er hat keine Toten erweckt.

Wenn der Blinde, den Jesus heilte, einen Theologieprofessor in Göttingen, Tübingen oder Marburg aufsuchen würde, und würde davon erzählen, was Jesus für ihn getan hatte als er auf die Erde spuckte, würde er genau das zu hören bekommen, was Woodrow Wilson von seiner Tante hörte: „Hör auf mit dem Blödsinn!“

Es gab einmal einen Vortrag über die Schöpfungsgeschichte, der von einem Theologieprofessor gehalten wurde. In seinem Vortrag sagte er spöttisch: „Stellen Sie sich vor: Gott nimmt ein Stück Schlamm, er bläst drauf und siehe da, aus diesem Schlamm ist ein Mensch geworden.“ Er wollte damit deutlich machen, wie lächerlich es ist, die Bibel an dieser Stelle wortwörtlich zu verstehen. Auf einer sachlichen Ebene hatte er recht: es wäre tatsächlich nicht angemessen, diese Schöpfungsgeschichte aus dem 8. Jahrhundert vor Christus so zu verstehen, als ob sie eine biologische Aussage machen wollte. Aber dieser Vortragende überschritt eine Grenze, als sein Ton spöttisch wurde. Es war ihm anzumerken, dass er keine Ehrfurcht vor Gott hatte und dementsprechend keinen Respekt für Menschen, die ihre Bibel wortwörtlich nehmen. Einer seiner Zuhörer stand auf und sagte Folgendes: „Ich werde mit Ihnen über die Schöpfung des Menschen nicht diskutieren. Aber ich will Ihnen Folgendes sagen: Gott bückte sich und hob ein Stück Schlamm auf; er hob den dreckigsten Matsch auf, den es in dieser Stadt gab. Er hauchte seinen Geist auf diesen Matsch und machte daraus eine neue Schöpfung. Der Schlamm wurde verwandelt: vorher war er ein Wrack; jetzt liebt er den Gott, der ihn verwandelt hatte. Ich war das Stück Schlamm.“

Der Bericht von der Heilung eines Blinden im Kapitel 9 des Johannesevangeliums hat einen anderen Charakter als die Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose. Dieser Johannesbericht hat den Charakter eines Augenzeugenberichtes: Er verliert seine Aussagekraft, wenn man ihn voreilig als Legende abtut. Wer nicht bereit ist, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass diese Blindenheilung eine Tatsache ist, macht sich ein falsches Bild von Gott. Wer sich weigert, sich auf die Möglichkeit einzulassen, dass Gott in Jesus ein Wunder vollzogen hat, das absolut unmöglich erschien, macht aus dem unermesslichen Gott einen Zwerg-Gott.

Der Sinn dieser Blindenheilung ist es, unsere Augen für die Herrlichkeit Gottes zu öffnen. Die Botschaft, die durch die Blindenheilung verkündet wird, lautet: Gott kann alles. Wer Gott auf das reduziert, was der Mensch mit seinem Zwergverstand akzeptieren kann, macht sich selbst armselig und kraftlos. Wer ein Auge hat für die Unermesslichkeit Gottes, macht sein eigenes Leben dadurch unbeschreiblich reich. Der Bericht von der Blindenheilung will unsere Augen öffnen, dass wir die Herrlichkeit Gottes sehen und ausstrahlen.

Die Photographie 'Woodrow Wilson', 1919, Harris & Ewing, ist gemeinfrei in den Vereinigten Staaten. Dies gilt für US-amerikanische Werke, deren Urheberrecht erloschen ist, üblicherweise, weil ihre Erstveröffentlichung vor dem 1. Januar 1923 liegt.
Die Ikone 'Creation of Adam', 12. Jhd. (from book Monreale, die Kathedrale und der Kreuzgang“, Sizilia, 1976), ist im public domain, weil ihr copyright abgelaufen ist.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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