Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Tim. 1, 12 – 17 Maßlose Selbstüberschätzung

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'Blindenheilung, Neufassung', 1979 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Blindenheilung, Neufassung', 1979
Walter Habdank. © Galerie Habdank

3. Sonntag nach Trinitatis

Maßlose Selbstüberschätzung 1. Tim. 1, 12 – 17

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2004

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist. Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen. 1. Tim. 1, 12 – 17

Unsere Konfirmanden hatten die Aufgabe, anhand eines Fragebogens ihre Eindrücke von einem Gottesdienst aufzuschreiben. Letzte Woche wurden die Beobachtungen der Konfirmanden im Unterricht vorgetragen und besprochen. Etwas, was mir dabei jedes Jahr auffällt, ist, dass es Konfirmanden schwer fällt, Gleichnisse zu verstehen. Glaubensinhalte lassen sich nur durch Bilder und Gleichnisse vermitteln, denn kein Mensch kann abstrakt denken. Dass keiner von uns abstrakt denken kann, wird deutlich, wenn wir träumen. Wenn wir träumen kommt alles, was uns unterschwellig beschäftigt, durch Bilder und Gleichnisse zum Vorschein.

Auch Jesus hat gewusst, dass kein Mensch abstrakt denken kann, deswegen hat er mit Bildern und Gleichnissen seine Botschaft verkündigt. Aber es gibt dabei ein Problem. Obwohl die Gleichnisse Jesu von alltäglichen Begebenheiten erzählten, konnten die Jünger oft nicht begreifen, welche Botschaft in den Gleichnissen versteckt war. Für die Jünger wurden diese Gleichnisse erst dann verständlich, als sie die gesamte Botschaft Jesu kannten.

Für Konfirmanden sind Gleichnisse zunächst rätselhaft, weil sie zu wenig von Jesus und von der Bibel kennen. Außerdem gehören junge Menschen zu einer Videogeneration. Unsere Videowelt ist eine eindimensionale Welt, in der Gott nicht vorkommt. Wer Gleichnisse verstehen will, muss aber lernen zweidimensional zu denken. Und das sind wir nicht gewohnt, denn im Fernsehen, in Kinofilmen und in Tageszeitungen besteht die Wirklichkeit aus dem, was das Auge sieht und das Ohr hört. Es gibt keine Hinweise auf eine verborgene Wirklichkeit. Gleichnisse aber sind Hinweise auf eine versteckte Realität.

Nach dieser Einleitung möchte ich ihnen eine Begebenheit erzählen, die als Gleichnis dienen kann. Es handelt sich hier um eine wahre Geschichte. Im 19. Jahrhundert in dem Mittelwesten der USA gab es vier Schwestern, die unbedingt Schauspielerinnen werden wollten. Im Jahre 1893 sind sie in einem Theaterstück aufgetreten. Sie hatten das Theaterstück selber geschrieben und waren in einer kleinen Stadt mit dem Namen Cedar Rapids zum ersten Mal vor Publikum erschienen. Diese vier Schwestern hatten eine enorme Anziehungskraft. Drei Jahre lang spielten sie auf verschiedenen Bühnen und ihre Theaterauftritte waren immer ausverkauft. Die Theaterbesucher waren allerdings nicht gekommen, weil diese Schwestern so gut waren, sondern weil sie so schlecht waren. Die Besucher waren gekommen, um zu sehen, ob diese vermeintlichen Schauspielerinnen so außerordentlich unfähig waren, wie von ihnen berichtet wurde. Und tatsächlich haben die Schwestern überall, wo sie auftraten, ein Eisengitter aufstellen lassen müssen, damit die Zuschauer keine Gegenstände nach ihnen werfen konnten. Aber erstaunlicherweise bekamen sie im Jahre 1895 das Angebot, auf dem Broadway in New York aufzutreten. Und auch in New York waren sie als Schauspielerinnen so absolut unfähig, dass sie erfolgreich waren. Sie waren so total unbeholfen, dass sie Kultfiguren wurden, die jeder unbedingt erleben wollte. Nach 7 Jahren in New York hatten sie $200.000 Dollar verdient – was in der heutigen Zeit etwa vergleichbar wäre mit $20 Millionen – und haben damit aufgehört. Sie kehrten zurück zu ihrem Bauernhof im Mittelwesten und haben ihren Ruhestand genossen. Aber erstaunlicherweise waren sie bis zuletzt überzeugt, dass sie große Schauspielerinnen waren. Sie hatten nie wahrgenommen, wie unbeholfen sie waren. Bis zu ihrem Lebensenden waren sie fest davon überzeugt, dass sie große Künstlerinnen waren. Und niemand konnte sie von dieser Einschätzung abbringen.

'Die Parabel von den Blinden', 1568 - Pieter Bruegel d. Ä.

Diese wahre Begebenheit kann als Gleichnis dienen. Denn jeder Mensch ist vergleichbar mit diesen vier Schwestern. Diese Schwestern waren total unfähig, sich so zu sehen, wie sie wirklich waren. Jeder von uns hat eine vergleichbare Blindheit, die uns davon abhält, uns so zu sehen, wie wir wirklich sind.

Denn die Bibel sagt zu jedem Menschen: es geht dir nicht gut, denn du bist von Gott entfremdet. Der blinde Mensch sagt: Unsinn: es geht mir gut – auch ohne Gott. Die Bibel sagt: du bist in einem Zustand des Todes, weil du von der Quelle deines Lebens abgeschnitten bist. Und der Blinde sagt: Unsinn, ich lebe. Die Bibel sagt zu jedem: du bist blind, denn du merkst nicht, dass Gott für dich da ist und wie viel Gott für dich tut. Und der Blinde sagt: Quatsch! Ich bin für mich selbst da und muss für mich selbst sorgen. Die Bibel sagt: du bist in einem Zustand der Ungerechtigkeit. Und der Mensch erwidert: Wieso? Ich bin anständig und hilfsbereit und tue mein Bestes. Die Bibel sagt: Gott ist dein Lebensinhalt. Und der Blinde sagt: Blödsinn, ich bestimme was für mich Lebensinhalt ist. Die Bibel sagt: Dein ewiges Schicksal liegt in der Hand Gottes, du bist total auf die Gnade Gottes angewiesen. Und der Mensch sagt: Unsinn, es wird einem nichts geschenkt, nur Leistung zählt. Die Bibel sagt: Gott bestimmt einen Weg, wie er Zugang zu dir findet. Der Mensch sagt: Unsinn, ich bestimme, wie ich meinen Weg zu Gott finde; Gott hat gefälligst zu respektieren, wie ich meinen Glaubensweg definiere.

Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Es geht hier um einen Gegensatz zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt. In der sichtbaren Welt, zu der wir alle gehören, spielt Gott keine Rolle. In der sichtbaren Welt ist alles vergänglich, im Verborgenen aber entscheidet Gott, was zuletzt vergänglich und unvergänglich ist. In der sichtbaren Welt sind Menschen die Bestimmenden. Im Verborgenen aber ist es allein Gott, der seinen Willen zuletzt verwirklichen wird. Die sichtbare Welt ist gnadenlos, aber in Wirklichkeit ist die Gnade Gottes ausschlaggebend. Die sichtbare Welt ist, wie gesagt, eine eindimensionale Videowirklichkeit. Um einen Zugang zu der unsichtbaren Welt zu finden, sind wir deshalb auf Gleichnisse angewiesen. Denn wir sind wie die vier Schwestern, die vorhin erwähnt wurden: wir sind blind für die wahre Wirklichkeit.

In diesem Zusammenhang ist der Text zu verstehen, der für heute vorgesehen ist. Paulus sagt in diesem Text, dass er früher „ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war“. Denn Paulus hat zuerst die Jesusanhänger verfolgt; er hatte versucht, die Christenheit zu vernichten, denn er war überzeugt, dass die Christen Feinde Gottes waren, die viele Menschen in die Gottlosigkeit verführen würden, wenn man nicht hart durchgreift. Paulus glaubte ursprünglich, dass es nur einen legitimen Weg zu Gott gab, nämlich der Weg, den die hebräische Bibel und die Auslegungstradition des Judentums vorschreibt. Die Christen waren deshalb gefährlich, weil sie Juden waren, die sich nach der hebräischen Bibel richteten, die aber einen Mann Namens Jesus anbeteten, was für Paulus eine Gotteslästerung war. Paulus wollte die Ehre Gottes verteidigen und die Verführung eines Irrweges abschaffen.

Das Verhalten des Paulus vor 2000 Jahren erinnert an das, was vor einigen Jahren vorgekommen ist, als der islamische Schriftsteller Ahmed Salman Rushdie seine „Satanische Verse“ schrieb. In diesem Buch beschreibt Rushdie mit poetischer Sprache die Geburt einer Religion, die eine Ähnlichkeit mit dem Islam hat. Im Jahre 1989 verkündete Ayatollah Khomeini in Iran, dass dieses Buch eine Gotteslästerung sei und bot $2,5 Millionen an für die Hinrichtung des Autors. Auch hier ging es darum, die Ehre Gottes zu verteidigen und etwas zu vernichten, was Gläubige angeblich in die Gottlosigkeit verführen könnte.

Paulus hatte eine ähnliche Mentalität wie der iranische Ayatollah, aber dann hatte er eine Begegnung mit dem auferstandenen Christus, und sein Leben wurde auf den Kopf gestellt. Wie er schreibt:

„Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.“

'Christ Healing the Blind', 1682 - Nicolas Colombel

Paulus merkte auf einmal, dass er total blind gewesen war. Er hatte gedacht, dass er etwas Gutes für Gott tut, wenn er Christen verfolgt, aber dann merkte er, dass sein Verhalten bösartig war. Er hatte ein Bild von Gott, das völlig verkehrt war. Als ihm die Augen aufgingen, entdeckte Paulus, dass Gott unermesslich barmherzig ist, dass Gott gnädiger ist, als er sich das hätte vorstellen können.

Die Blindheit des Paulus ist auch unsere Blindheit. Wir können nicht ermessen, wie barmherzig Gott ist. Die Gnade Gottes übersteigt unsere Vorstellungskraft. Und deswegen werden wir immer wieder auf Irrwege geraten. Es gibt viel Streit und Unheil in unserer Welt. Dieser Streit und dieses Unheil würden mit einem Schlag wegfallen, wenn die Menschen sehen könnten, wie gnädig Gott ist. Weil wir aber blind sind, werden wir immer wieder unterschätzen, wie sehr unser Leben von der Gnade Gottes abhängt. Wie die vier Schwestern, die am Anfang erwähnt wurden, werden wir immer wieder maßlos überschätzen, wie gut wir sind.

Möge Gott uns seine Gnade schenken, damit wir immer wieder entdecken, wie unsere Situation wirklich aussieht, damit wir erkennen, wie gütig und barmherzig Gott ist, damit wir mit Paulus sagen können:

„Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.“

Das Kunstwerk 'Die Parabel von den Blinden', 1568 - Pieter Bruegel d. Ä., und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Das Gemälde 'Christ Healing the Blind', 1682 - Nicolas Colombel, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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