Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Johannes 1, 5 – 2, 6 Heilsame Unsicherheit

« Predigten Home

'Path at Wakehurst Place Garden', England, 2004, Paul Friel from Guildford, UK

3. Sonntag nach Trinitatis

Heilsame Unsicherheit 1. Johannes 1, 5 – 2, 6

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2000

Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündige Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.
Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat. 1. Johannes 1, 5 – 2, 6

In der Stadt Chicago wurde ein ungewöhnliches Projekt durchgeführt. Eine Gruppe von Pfarrern, die von dem Bundessaat Mississippi kam, verbrachte ein Wochenende in der Stadt. Diese Pfarrer wurden an einem Freitagnachmittag irgendwo in der Innenstadt ausgesetzt; jeder von ihnen hatte nur zwei Dollar in der Tasche und sie waren alle ärmlich gekleidet. Sie sollten versuchen, bis Sonntagabend jeder für sich allein auf der Straße zurechtzukommen. Sie wollten auf diese Weise am eigenen Leib erfahren, wie es ist, ein Wohnsitzloser in einer großen Stadt zu sein.

Einer von ihnen ging an dem Sonntagabend in eine große Innenstadtkirche, die einen Abendgottesdienst feierte. Nach dem Gottesdienst stellte er sich vor den Eingang und wartete darauf, dass irgend jemand ihn anspricht. Aber niemand wollte mit ihm reden. Dann ging er über die Straße, wo eine Gruppe von Wohnsitzlosen standen. Sofort wurde er von ihnen freundlich begrüßt. Sie nannten ihn „Bruder“. Sie boten ihm einen Schluck aus einer Flasche Wein an. Sie erkundeten sich, ob er eine „Platte“ für die Nacht hätte. Und einer von ihnen bot ihm seine letzten 37 Cents an (damals etwa 70 Pfennig).

Diese Begebenheit veranschaulicht, dass Menschen, die ausgeliefert sind, eine besondere Empfindsamkeit haben können für Leidensgenossen. Wohnsitzlose sind selbstverständlich nicht unbedingt liebevoller als Kirchengänger. Und nicht alle Wohnsitzlosen würden so freundlich reagieren wie diese Gruppe gegenüber der Kirche. Aber Menschen, die ständig in Unsicherheit leben, können auf jeden Fall eine besondere Antenne für Notleidende haben, die andere nicht haben.

Einmal habe ich diese Antenne selber erlebt. Auf einer Reise ging ich in eine Schnellimbiß-Gaststätte, und bestellte etwas, was als Sonderangebot galt. Als ich zahlen sollte, kam mir der Preis höher vor, als ich erwartet hatte, und ich fragte nach, ob der Preis wirklich stimmte. Dann habe ich mühsam mein Kleingeld zusammengezählt, weil es mir lästig war, so viele kleine Münzen in der Tasche zu haben, aber das Kleingeld hat nicht ganz ausgereicht. Jemand hatte mich die ganze Zeit beobachtet und hat angeboten, mir das fehlende Geld zu geben. Offenbar dachte er, anhand meines Verhaltens, dass ich an der Grenze der Armut war. Ich bedankte mich herzlich bei ihm und erklärte, dass ich doch genügend Geld hätte. Später als ich herauskam, sah ich meinen guten Samariter wieder: er saß auf dem Boden und bettelte um Geld – er war offenbar ein Arbeitsloser oder Wohnsitzloser. Auf jeden Fall hatte er eine besondere Antenne für Menschen, die in Not geraten waren.

Diese zwei erwähnten Begebenheiten können uns helfen, den christlichen Glauben zu begreifen. Im Neuen Testament wird Jesus als die Menschwerdung Gottes verkündet. In der Person Jesu ist Gott erschienen und hat unter den Menschen in Palästina gewohnt. Und dieser Jesus von Nazareth war ein Wanderprediger, ohne festen Wohnsitz, wie er ausdrücklich sagte: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“

Und Jesus erlebte etwas Ähnliches wie der Pfarrer in Chicago: Jesus ging regelmäßig in die Synagogen, aber er wurde dort nicht immer freundlich aufgenommen, sondern erlebte von einer Gottesdienstgemeinde sogar heftige Ablehnung. Aber die Menschen, die ausgeliefert waren, wie z.B. die sogenannten Sünder und Zöllner, die Aussätzigen, die Blinden, die Gelähmten, die Prostituierten, die Witwen – solche Menschen hatten für Jesus eine besondere Antenne: sie erkannten in Jesus einen Leidensgenossen und haben in Jesus einen neuen Zugang zu Gott gefunden.

Mit anderen Worten: Menschen, die in Sicherheit leben, haben es schwerer, einen Zugang zu Gott durch Jesus zu finden als Menschen, die der Unsicherheit ausgeliefert sind. Es ist nicht unmöglich, aber es ist schwerer.

'By the site of Dunkeswell Abbey', the path leads to the church of the Holy Trinity, 2006, Martin Bodman

Es wird von einem Mann berichtet, der eine tödliche Krankheit hatte und der deshalb bettlägerig wurde. Er hatte eine kleine Tochter, die zu jung war, um zu verstehen, warum ihr Vater so hilflos im Bett lag. Aber sie leistete ihm stundenlang Beistand. Eines Tages kamen die Kollegen von seiner Arbeitsstelle und das Mädchen merkte, dass diese Kollegen sich von ihrem Vater verabschiedet hatten – so, als ob sie damit rechneten, ihn nie wieder zu sehen. Die Tochter hatte immer noch nicht verstanden, was wirklich los war und fragte ihren Vater, ob er weggehen würde. Der Vater erwiderte: „Ja, meine Liebe, ich gehe weg und ich fürchte, du wirst mich nicht wieder sehen.“ Das Mädchen fragte: „Wirst du dort, wo du hingehst, ein schönes Haus und viele Freunde haben?“ Diese Frage traf den Vater ins Herz. In diesem Moment merkte er, dass er nur für seinen Wohlstand und seine Sicherheit gelebt hatte, aber dass er es versäumt hatte, sein Verhältnis zu Gott und sein ewiges Schicksal zu klären.

Dieser Moment offenbart, wie unsere Herzen veranlagt sind. In erster Linie strebt das menschliche Herz nach Wohlstand und Sicherheit. Und diese Neigung des Herzens ist selbstverständlich nicht etwas Schlechtes, sondern etwas Natürliches, aber sie kann verhängnisvoll sein, wenn es um die Beziehung zu Gott geht.

Denn die menschliche Seele sucht - bildlich gesprochen - nach einem Haus, in dem sie Ruhe und Sicherheit hat. Deswegen sind auch manche Sekten und neue religiöse Bewegungen erfolgreich, weil sie – so zu sagen – ein Haus für die Seele anbieten – eine Wohnung, die schon fertig eingerichtet ist, oder die man nach individuellem Geschmack einrichten kann. Die Sekten bieten ein geschlossenes System der Wahrheit an, die völlige Selbstsicherheit bedeutet. Für jede Frage gibt es eine verordnete Antwort.

'The south face of Corno Grande', Stemonitis, 2006

Die Christenheit ist aber kein fertig eingerichtetes Haus, sondern ein Weg. Die älteste Bezeichnung für die Gemeinde Jesu Christi im Neuen Testament lautet: „Anhänger des neuen Weges“. Der christliche Glaube ist nicht wie ein Haus, sondern wie ein Zelt. Das biblische Symbol für die Anwesenheit Gottes ist ein Zelt. Gott wohnte in einem Zelt, als er mit Israel durch die Wüste wanderte und er wäre am liebsten in einem Zelt geblieben – nach Aussage des Propheten Samuels – aber fast gegen seinen Willen wurde ein Tempel gebaut. Und dann kam Jesus als Erscheinung Gottes. Und Johannes beschrieb seine Anwesenheit mit den Worten: „Das Wort ward Fleisch und zeltete unter uns.“ Und in dem letzten Buch der Bibel wird das himmlische Jerusalem beschrieben, aber auch hier – inmitten der Herrlichkeit dieser himmlischen Stadt - wird Gott in einem Zelt wohnen: „Siehe da, das Zelt Gottes unter den Menschen.“ Ein Zelt versinnbildlicht die Beweglichkeit Gottes. Gott bleibt nicht stehen und deshalb bleibt auch sein Volk nicht stehen.

Aber diese Vorstellung von Glauben als einen Weg durch die Geschichte ist nicht unbedingt attraktiv. Die menschliche Seele sucht ein Haus, wo sie geborgen ist und zur Ruhe kommen kann. Die Bibel verkündet zwar, dass es dieses Haus geben wird – am Ende des Weges, jenseits des Todes, aber viele Menschen möchten sich auf diese jenseitige Hoffnung nicht einlassen; sie wollen hier und jetzt ein Haus der seelischen Sicherheit haben.

Die Christenheit aber ist wie ein Zelt auf einem Weg. Und in diesem Zelt sind wir jedem Luftzug der Geschichte ausgesetzt. Wenn man zurückschaut, erinnert man sich an die Themen, die zu kontroversen Auseinandersetzungen unter Christen geführt haben: z. B. Apartheid in Südafrika, Flughafenerweiterung, Nachrüstung durch Pershingraketen, Golfkrieg, Abtreibung, Asylanten, Homosexualität, Verhältnis zu Islam, Gentechnologie. Die Auseinandersetzungen bei solchen Themen führen unweigerlich dazu, dass Menschen aus der Kirche austreten, denn sie wollen ein Haus haben, in dem die Seele hier und jetzt zur Ruhe kommen kann, aber Christen sind wie Wohnsitzlose: sie haben in dieser Welt keine bleibende Stätte, sondern sind unterwegs zu einer künftigen Herrlichkeit.

'Pilgrimage path of Croagh Patrick ', code poet, 2005

Ein katholischer Theologe mit dem Namen Wolfgang Beinert, schrieb folgendes:

Der Glaube kann und darf nicht das bieten, was Lebensgrund der Anhänger neureligiöser Gruppierungen ist – nämlich Sicherheit. Glaube gibt keine Sicherheit. Sondern die Kirche und ihre Mitglieder sind auf dem Weg durch die Zeit. Sie sind damit allen Fährnissen, allem Staub, jeder Hitze- und Kältewelle ausgesetzt. Es gibt manchmal dichte Nebelwände, die den Fortgang des Weges verbergen; es gibt Weggabelungen, die nochmals zur Entscheidung zwingen. Den Verlauf des Weges kann man sich nicht aussuchen, weil er Gottes Straße ist. Sie führt nicht nur durch liebliche Landschaft, sondern gleicherweise durch trockene Wüste, vorbei an schauerlichen Abgründen; sie zwingt den Wanderer über Gipfel und durch Schluchten. Wer den Weg Jesu geht, ist in nichts und durch nichts gesichert.

Und von diesem Hintergrund aus ist der Text aus dem 1. Johannesbrief zu verstehen, der für heute vorgesehen sind. Dieser Text ist an Menschen gerichtet, die den christlichen Glauben gefälscht hatten. Es gab damals sogenannte Gnostiker, die zwar zu christlichen Gemeinden gehört hatten, die aber den christlichen Glauben nach eigenem Geschmack definierten. Sie haben den Zugang zu Gott durch Geheimwissen und durch individuelle mystische Erlebnisse gesucht – so wie Esoteriker heute. Für sie spielte die Menschwerdung Gottes in Jesus überhaupt keine Rolle. Und dementsprechend waren sie an historischen Entwicklungen nicht interessiert. Sie sind aus der Geschichte dieser Erde ausgestiegen und haben ein zeitloses Haus für die Seele gebaut, in dem sie einen eigenen Frieden gefunden hatten. Aber Johannes greift diese Haltung an. Diese Leute bilden sich ein, dass sie ohne Sünde sind, schreibt er, d.h. sie bilden sich ein, dass es keine Kluft gibt zwischen Gott und ihnen. Sie bilden sich ein, dass Gott automatisch für sie da ist, dass der Mensch von sich aus Gott aufsuchen kann, vorausgesetzt er hat das richtige Geheimwissen oder die richtige Meditationsform oder die richtige Beschwörungsformel gefunden hat. Diese Gnostiker bildeten sich ein, dass sie Jesus Christus nicht brauchten. Sie brauchten, wie sie meinen, keinen Erlöser, denn sie hatten die Selbsterlösung entdeckt. Und deswegen hatten sie eine individuelle Beziehung zu Gott, in der die Beziehung zu anderen Christen keine Rolle spielt. Die Sakramente und die biblischen Gebote sind auch für diese Leute überflüssig geworden.

Alles, was es damals gab, gibt es heute. Die große Mehrheit der Kirchenmitglieder denkt ähnlich wie die Gnostiker damals. Für 90% der evangelischen Christenheit gibt es die Vorstellung, dass Gott automatisch und jede Zeit zur Verfügung steht, deswegen sind Jesus Christus und seine Gebote überflüssig, deswegen ist eine Beziehung zu anderen Christen überflüssig, das Abendmahl ist deshalb auch überflüssig; Sündenvergebung kann man sich notfalls selber zusprechen. Es handelt sich um ein selbstdefiniertes Christentum, das aus der Geschichte dieser Erde ausgestiegen ist und eine Selbstsicherheit in einer privaten Seelenwohnung sucht.

Der Text aus dem 1. Johannesbrief schildert eine trügerische Selbstsicherheit, die wir alle zu bekämpfen haben. Und jeder Kampf soll mit Gebet beginnen. In unserem Gesangbuch steht ein Liedvers, der lautet:

Komm in unser festes Haus, der du nackt und ungeborgen. Mach ein leichtes Zelt daraus, das uns deckt kaum bis zum Morgen; denn wer sicher wohnt, vergisst, dass er auf dem Weg noch ist.“

Möge Gott uns helfen, den wahren Charakter unseres christlichen Glaubens zu verstehen und dementsprechend zu leben.

Die Photographien 'Path at Wakehurst Place Garden' (England, 2004, Paul Friel from Guildford, UK), 'Pilgrimage path of Croagh Patrick' (code poet, 2005) sowie 'By the site of Dunkeswell Abbey' (2006, Martin Bodman) sind lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 2.0 Lizenz.
Die Photographie 'The south face of Corno Grande', Stemonitis, 2006, ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.5.

^ Zum Seitenanfang

PSch