Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 2. Mose 32,7-14 Gebet hält uns zusammen

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'The Adoration of the Golden Calf', Nicolas Poussin, 1633-4

Rogate

Gebet hält uns zusammen 2. Mose 32,7-14

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2002

Der HERR sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben's angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat. Und der HERR sprach zu Mose: Ich sehe, daß es ein halsstarriges Volk ist. Und nun laß mich, daß mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen. Mose aber flehte vor dem HERRN, seinem Gott, und sprach: Ach HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, daß er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und laß dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig.
Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte. 2.Mose 32,7-14

Es gibt eine Geschichte aus Osteuropa von einer Synagoge, die eine Streitfrage nicht klären konnte. Es ist nämlich vorgeschrieben, in jedem Gottesdienst das Urbekenntnis des Judentums aus dem 5. Buch Mose zu sprechen, nämlich: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Und du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzen Herzen“. Als diese Worte zu sprechen waren, stand die Hälfte der Gemeinde auf und die andere Hälfte blieb sitzen. Die Personen, die aufgestanden waren, forderten die Sitzenden energisch dazu auf, aufzustehen. Die Sitzenden redeten auf die Stehenden ein, dass sie sich gefälligst hinsetzen sollten. In jedem Gottesdienst gab es an dieser Stelle ein Wortgefecht, ob man aufstehen oder sitzen bleiben sollte. Auch der Rabbi war hilflos, diese Streitfrage zu klären. Eines Tages kam jemand auf eine Idee, wie die Gemeinde diese Frage klären könnte. Einer der ursprünglichen Gründer der Gemeinde war noch am Leben; er war 98 Jahre alt. Man könnte ihn fragen, was die ursprüngliche Tradition war. Also ging der Rabbi mit Vertretern beider Fraktionen zu diesem alten Mann. Der Vertreter der Aufsteh-Fraktion fragte den alten Mann: „Ist es die Tradition, das Bekenntnis stehend zu sprechen?“ Der 98-jährige erwiderte: „Nein, das ist nicht unsere Tradition.“ Ein Vertreter der anderen Fraktion sagte: „Aha, dann haben wir doch recht; die Gemeinde bleibt sitzen!“ Der alte Mann erwiderte: „Nein, das ist auch nicht unsere Tradition.“ Der Rabbi sagte: „Aber in jedem Gottesdienst entsteht Streit zwischen dem Stehenden und dem Sitzenden: sie schreien sich gegenseitig an, die zwei Fraktionen sind unversöhnlich und dickköpfig... .“ Der Alte Mann unterbrach ihn und rief: „Das ist unsere Tradition!“

Diese Geschichte zeigt exemplarisch eine Erscheinung, die nicht nur im Judentum, sondern besonders im Christentum vorkommt. Es gibt in der Christenheit Streitfragen, die ungeklärt bleiben und die zu Fraktionsbildungen führen. Christen können über alles streiten: über die richtige Form der Taufe, über das Abendmahl, - besonders über das Abendmahl - über die Liturgie, über richtige und falsche Bibelauslegngen, über die Frage, was ein Mensch tun muss, um in den Himmel zu kommen, ob es eine Hölle gibt, ob die Schöpfungsgeschichte mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar ist, ob die Kirche zu politisch ist oder zu wenig politisch, ob Kirchensteuer zumutbar ist, ob es zulässig ist, Gemeinden zusammenzulegen und Kirchen zu verkaufen, und natürlich wird über Geldzuwendungen gestritten, besonders wenn weniger Geld zur Verfügung steht. Christen sind so veranlagt, dass sie nicht nur miteinander streiten, sondern umstrittene Fragen führen zu neuen Gemeinden und zu neuen Kirchen. Die Christenheit ist ein Weltmeister der Zersplitterung. Zum Beispiel: wie viel protestantische Kirchen gibt es? Wenn sie meinen, dass es vielleicht 9 oder 10 gibt, oder 20 oder 100 oder 500, liegen sie völlig daneben. Es gibt auf dieser Welt 9.000 selbständige protestantische Kirchen. Und auch katholische und orthodoxe Kirchen kommen gegen die Zersplitterung der Christenheit nicht an. Denn es gibt weltweit 33.800 selbständige christliche Kirchen (Statistik 2002). Wie der 98-jährige sagte: „Das ist unsere Tradition“. Denn von Anfang an gab es keine Einheit. Von Anfang an, gab es Streitfragen, die nicht zu klären waren und die zu Spaltungen führten.

Jesus selber hat Spaltungen verursacht, denn es kam öfters vor, dass Jesus etwas erläuterte und dann heißt es anschließend:

„Und es entstand eine Spaltung unter ihnen“.

Oder in der Apostelgeschichte, Kapitel 19, heißt es:

Es erhob sich aber um diese Zeit eine nicht geringe Unruhe über den neuen Weg (eine Bezeichnung für die Christenheit)....

“Eine nicht geringe Unruhe“ verursachte der christliche Glaube. Und in dem selben Kapitel wird eine Versammlung beschrieben, die wegen der christlichen Unruhe zustande kam. Diese Gemeindeversammlung wird folgendermaßen beschrieben:

„Dort schrien die einen dies, die andern das, und die Versammlung war in Verwirrung, und die meisten wußten nicht, warum sie zusammengekommen waren.“

Holzschnitt aus der Schedel'schen Weltchronik, Blatt 30 verso, 1493, Michel Wolgemut, Wilhelm Pleydenwurff

Das könnte die Beschreibung einer Gemeindeversammlung heute sein.

Der Grund, weshalb es in der Christenheit so viele unlösbare Fragen und so viele Fraktionen gibt, ist, dass wir an einen Gott glauben, der unverfügbar ist. Der Gott, an den wir glauben, ist unsichtbar und nicht direkt erlebbar. Wenn umstrittene Fragen entstehen, wird unser Gott nicht erscheinen und die sogenannte richtige Antwort bekannt geben, sondern er wird uns zunächst allein lassen mit unseren Fragen, auch wenn dadurch Spaltungen entstehen. Denn nur so können wir wachsen und reifen und unsere Würde als Menschen bewahren. Gott wird nicht aus uns Roboter machen.

Dieser Vorgang wurde am Berg Sinai vorgeführt. Das Volk Israel hatte am Sinai die zehn Gebote vernommen und freiwillig angenommen. Dazu gehörte das Gebot, kein Bildnis von Gott zu machen. Aber als Mose auf den Berg stieg, um Zeit mit Gott allein zu verbringen, musste das Volk mit der Unsichtbarkeit Gottes allein zurechtkommen. Und das Volk hielt es nicht aus. Es heißt im Kapitel 32:

Als aber das Volk sah, daß Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berge zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mach uns einen Gott, der vor uns hergehe! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist, der uns aus Ägyptenland geführt hat. ...Aaron machte aus Gold ein gegossenes Kalb und das Volk sagte dazu: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.

Und durch das goldene Kalb entstand die erste Spaltung innerhalb des Gottesvolkes: es gab eine Aarongemeinde und eine Mosegemeinde. Und diese Spaltung entstand, weil die Menschen es nicht lange aushalten, wenn Gott unsichtbar und unverfügbar bleibt.

Und weil viele Menschen es nicht aushalten, dass Gott unverfügbar ist, entstehen Sekten. Alle Sekten haben gemeinsam, dass sie ein geschlossenes System der Wahrheit bieten. D.h.: es gibt auf jede Frage eine eindeutige Antwort, oder eine unanfechtbare Autorität. Innerhalb einer Sekte kann es keine Spaltungen geben, denn die Antworten stehen fest. Entweder der Sektenführer oder das Sektendogma ist so gut wie göttlich, denn der Führer oder das Dogma können nicht in Frage gestellt werden.

Aber wie ist es für uns Christen? Wir haben keinen göttlichen Führer und kein absolutes Dogma. Wir werden nie eine Antwort auf alle Fragen haben wie die Sekten; wie halten wir die Unsichtbarkeit Gottes aus? Die Antwort auf diese Frage führte Mose vor. Diese Antwort lautet: Fürbittengebet. Wenn wir mit Fragen oder Problemen nicht zurechtkommen, gibt es nur eine Möglichkeit, damit umzugehen: alles, was wir nicht klären können, sollte Gott anvertraut werden.

'Mose, betend', 1987. Psalm 77, 2-3 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Mose, betend', 1987. Psalm 77, 2-3
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Das Gespräch zwischen Mose und Gott, so wie unser heutiger Text dieses Gespräch berichtet, darf nicht allzu wortwörtlich verstanden werden, denn dieses Gespräch ist kein echtes Gespräch, sondern ein Gleichnis. Und dieses Gleichnis veranschaulicht eine Alternative. Nämlich: Es ist gerade eine Spaltung entstanden zwischen denen, die das goldene Kalb anbeten und denen, die das nicht tun. Es bietet sich eine Möglichkeit an, diese Spaltung zu beenden: nämlich, indem die Anbeter des goldenen Kalbes vernichtet werden. In einem übertragenen Sinne gibt es diese Möglichkeit auch heute. Andersdenkende können in einem übertragenen Sinne ausgelöscht werden, indem sie mit vernichtender Kritik völlig disqualifiziert werden.

Gerade neulich habe ich ein aktuelles Beispiel für diesen Vorgang erlebt. Wie Sie wahrscheinlich gehört haben, soll die Matthäuskirche verkauft werden. Es gab im Vorfeld einen heftigen Streit, ob dieser Schritt zu verantworten ist oder nicht. Dass diese Frage energisch und heftig diskutiert wird, ist in Ordnung. Aber es gab Versuche, die Andersdenkenden zu vernichten, indem man sie z. B. als Götzenanbeter oder als Verräter des Glaubens bezeichnete. Die Andersdenkenden wurden als „verlogen“ und „böswillig“ bezeichnet und es wurde ihnen vorgehalten, dass sie um das goldene Kalb tanzen.

Diese Versuchung, die Gegner zu vernichten, musste auch Mose aushalten. Und er überstand diese Versuchung, indem er für seine Gegner betete. Er betete für das Existenzrecht seiner Gegner, obwohl sie momentan Verräter des Glaubens waren. Mose wusste, dass das Gottesvolk nicht bestehen kann, wenn die Abtrünnigen ausgelöscht werden. Mose hätte zwar ein viel leichteres Leben gehabt, wenn er die Vernichtung der Aaronfraktion einfach zugelassen hätte. Aber die Ausschaltung aller Andersdenkenden dient nicht der Ehre Gottes, wie Mose ausdrücklich feststellte.

Es wird von einem Jungen berichtet, der unanständig war und deshalb Streit mit seiner Mutter bekam. Er wurde in sein seinem Zimmer geschickt, damit er zur Besinnung kommt. Später kam er heraus und sagte zu seiner Mutter: „Ich habe über mein Verhalten nachgedacht und habe gebetet.“ Die Mutter war erfreut und sagte: „Das finde ich gut. Wenn du Gott darum bittest, dir zu helfen, dass du dich änderst, dann wird er dir helfen.“ Der Sohn erwiderte: „Aber ich habe Gott nicht darum gebeten, dass er mich ändert; ich habe ihn gebeten, dir zu helfen, dass du mich besser erträgst.“ Vielleicht war dieses Gebet des Jungen etwas egozentrisch, aber sein Anliegen ist gar nicht so schlecht. Wenn wir für andere beten, soll es auch darum gehen, dass wir einander besser ertragen, damit nicht neue Zersplitterungen entstehen.

Die Bibel bezeugt, dass Gott auf Gebet reagiert. In unserem Text heißt es:

„Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte“.

30 Mal im Alten Testament wird davon berichtet, dass Gott etwas ändert, was er ursprünglich vorhatte. Denn unser Gott ist kein starres Prinzip, sondern er ist der Inbegriff des Lebens. Gott wartet auf unser Gebet. Unsere Tradition ist nicht nur eine Tradition der Zersplitterung, sondern auch eine Tradition des Gebetes, die uns zusammenhält ..

Der Holzschnitt aus der Schedel'schen Weltchronik, Blatt 30 verso, 1493, Michel Wolgemut, Wilhelm Pleydenwurff, sowie das Gemälde 'The Adoration of the Golden Calf', Nicolas Poussin, 1633-4, sind im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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