Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Matt. 21, 14 – 22 So zu tun als ob

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'Laudate Dominum zu Ps. 150', 1972 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Laudate Dominum zu Ps. 150', 1972 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

Cantate

So zu tun als ob Matt. 21, 14 – 22

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 1999

Und es gingen zu ihm Blinde und Lahme im Tempel, und er heilte sie. Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich und sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen (Psalm 8,3): »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«? Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht. Als er aber am Morgen wieder in die Stadt ging, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum an dem Wege, ging hin und fand nichts daran als Blätter und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir niemals mehr Frucht! Und der Feigenbaum verdorrte sogleich. Und als das die Jünger sahen, verwunderten sie sich und fragten: Wie ist der Feigenbaum so rasch verdorrt? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein Taten wie die mit dem Feigenbaum tun, sondern, wenn ihr zu diesem Berge sagt: Heb dich und wirf dich ins Meer!, so wird's geschehen. Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr's empfangen. Matt. 21, 14 – 22

Es gab einen Anwalt, der am Anfang seiner Karriere stand. Es war der erste Tag in seinem neuen Büro, und das Telefon war noch nicht angeschlossen. Als er am Schreibtisch saß, kam seine Sekretärin herein und sagte: da ist jemand draußen, der Sie sprechen möchte. Der Anwalt dachte: das ist mein erster Klient! Er wollte diesem ersten Klienten imponieren und nahm den Telefonhörer in die Hand und tat so, als ob er ein wichtiges Gespräch führte. Als der Klient durch die Tür kam, sah er, daß der Anwalt mitten im Telefongespräch war. Der Anwalt sagte folgendes zu seinem erfundenen Telefongesprächspartner: „Also hören Sie jetzt gut zu:
$ 2.000.000 ist zu wenig; verlangen Sie mindestens $ 3.000.000! Ich werde nächste Woche in New York sein und werde den Geizhals persönlich aufsuchen und ihn hart anpacken, bis er die $ 3.000.000 herausgibt. Das verspreche ich Ihnen. So, jetzt muss ich Schluss machen, denn ein Klient ist gerade gekommen.“ Der Anwalt legte den Hörer hin und fragte den Mann, der vor ihm stand: „Also, was kann ich für Sie tun?“ Der Mann erwiderte: „Ich bin von der Telefongesellschaft; ich bin gekommen, um Ihr Telefon anzuschließen.“

Dieser Anwalt wurde also ertappt, als er versucht hatte, so zu tun als ob – so zu tun, als ob sein Telefon schon angeschlossen wäre - so zu tun, als ob er schon ein wichtiger, erfahrener Anwalt wäre. Und so merkwürdig es klingt: sein Verhalten kann als Gleichnis dienen für das Christsein. Denn Christsein bedeutet, so zu tun, als ob etwas schon eingetreten wäre, was eines Tages eintreten wird. Wenn wir zum Beispiel Abendmahl feiern, dann feiern wir eine künftige Zeit der Vollendung, so als ob sie schon eingetreten wäre. Denn in der Abendmahlsliturgie singen wir z. B. die Worte: „Alle Lande sind seiner Ehre voll.“ Gemeint ist: eines Tages wird die Herrlichkeit Gottes die ganze Welt erfüllen und alle Menschen werden Gott anerkennen und anbeten. Allerdings ist dieser Zustand noch nicht eingetreten. Aber in der Abendmahlsliturgie feiern wir diese künftige Herrlichkeit, als ob sie schon voll und ganz da wäre. Und in einem Sinne ist sie schon da: denn da, wo Christus anwesend ist, - anwesend in Wort und Sakrament - ist diese künftige Herrlichkeit schon jetzt vorhanden.

Wir Christen sind also vergleichbar mit dem vorher erwähnten Anwalt, denn wir tun so, als ob etwas schon eingetreten wäre, was noch nicht da ist. Und der ganze Gottesdienst steht unter dieser Spannung, dass wir so tun, als ob. Wenn wir zum Beispiel Kirchenlieder singen, loben wir Gott; wir tun so, als ob Gott das Allerwichtigste im Leben wäre und als ob unsere Herzen voller Dankbarkeit und Anbetung wären. Und eines Tages, wenn wir jenseits des Todes vor Gott in seiner ewigen Herrlichkeit stehen, werden wir Gott von ganzem Herzen loben und anbeten. Aber im Moment ist das Singen in unserer evangelischen Kirche halbherzig und schwerfällig. Unsere Herzen hinken weit hinter den Worten der Lieder hinterher. Der ganze Gottesdienst ist deshalb fast wie eine Aufforderung zur Scheinheiligkeit. Denn in dem Glaubensbekenntnis sprechen wir Worte, die wir vielleicht noch nicht glauben. Wir beten jeden Sonntag: Herr, erbarme dich, ...dein Wille geschehe...dein Reich komme... , obwohl wir vielleicht noch nicht nachvollziehen können, was wir eigentlich beten. Wir tun so, als ob. Und diese Spannung, mit der wir leben, - so tun zu müssen, als ob, - gehört unbedingt zum Christsein. Der jetzige Konflikt in Kosovo veranschaulicht eine weitere Dimension dieser Spannung. Denn auf der einen Seite gibt es Christen, die konsequente Pazifisten sind und jede Gewaltanwendung ablehnen, und auf der anderen Seite gibt es Christen, die es für unerträglich halten, wenn mörderische Brutalität passiv hingenommen wird. Der Text, der für heute vorgesehen ist, veranschaulicht, warum das Christsein solche entgegengesetzten Haltungen aushalten muß.

Westlicher Teil der Klagemauer in Jerusalem  2006, Plamen Matanski,Flikr

Um diesen Matthäustext zu verstehen, muss man wissen, dass eine jüdische Auslegungstradition hier den Hintergrund bildet. Nach dieser Tradition gibt es drei Zeitalter der Menschheit. Das erste Zeitalter ist das Zeitalter des Chaos. In diesem Zeitalter besteht Gerechtigkeit aus Rache. Das zweite Zeitalter wurde durch Mose eingeleitet, das Zeitalter des Gesetzes: Gerechtigkeit besteht aus Vergeltung, die durch Gesetze genau geregelt wird. Das dritte Zeitalter wird der Messias einleiten. In dieser Endzeit wird Gott seine Gerechtigkeit durchsetzen, die mehr ist als bloße Vergeltung. Wir Christen glauben, dass dieses dritte Zeitalter schon angefangen hat, aber noch nicht vollendet worden ist. Und deswegen leben wir Christen mit der Spannung, die vorhin erwähnt wurde: diese Spannung lautet – schon jetzt, aber noch nicht. Die christlichen Pazifisten nehmen die Zeit vorweg, in der es keinen Krieg mehr geben wird; andere Christen betonen, dass die Zeit der Vollendung noch nicht da ist und dass Vergeltung und Gewaltanwendung deshalb noch unvermeidbar sind. Jesus hat beide Verhaltensweisen bezeugt. In dem Matthäustext für heute sehen wir diese Spannung angezeigt, die von Jesus selbst ausgeht. Es gibt hier drei Ereignisse, die prophetischen Charakter haben:
1. Blinde und Lahme werden im „Tempel“ geheilt, 2. Kinder preisen Jesus als den Messias, und 3. Jesus verflucht einen Feigenbaum, der noch nicht Frucht gebracht hat – weil es die falsche Jahreszeit dafür ist – und der Feigenbaum verdorrt.

Diese drei Zeichen bezeugen, dass das letzte Zeitalter, das Zeitalter des Messias, angefangen hat.

Erstens: Nach dem biblischen Gesetz waren Blinde und Lahme ausdrücklich von dem Tempelgottesdienst ausgeschlossen. „Denn keiner, an dem ein Fehler ist, soll herzutreten, er sei blind, lahm, mit einem entstellten Gesicht, mit irgendeiner Mißbildung“ (3.Mose 21,18) Aber in der Endzeit sollen die Blinden und Lahmen im gelobten Land versammelt und geheilt werden, damit sie die unmittelbare Gemeinschaft mit Gott genießen. Wenn Blinde und Lahme sich um Jesu willen im Tempel versammeln und von ihm geheilt werden, dann hat die messianische Endzeit angefangen. Aber sie ist noch nicht vollendet, denn Jesus hat nicht alle Blinden und Lahmen geheilt.

Und Zweitens: wenn unmündige Kinder Jesus als Messias anerkennen, dann erinnert das an die Verheißung, die der Prophet Jeremia für die Endzeit verkündete, dass Kinder eine unmittelbare Erkenntnis des Herrn haben werden, ohne dass jemand sie belehren muss. Aber auch hier geht es nur um ein begrenztes Zeichen, denn nachfolgende Generationen haben diese Erkenntnis noch nicht. Es wird von einem Kindergottesdienst erzählt, in dem der Mitarbeiter den Kindern von Christen in Afrika erzählte. Er erklärte, dass es Gebiete in Afrika gibt, wo die Christen so arm sind, dass sie sich einen Raum für Kindergottesdienst nicht leisten können; deshalb würde der Kindergottesdienst in der Regenzeit ausfallen.
Dann fragte er die Kinder: „Wofür sollen wir deshalb heute Geld sammeln?“ Ein Kind, das nur widerwillig im Kindergottesdienst war, antwortete: „Damit wir nach Afrika auswandern.“ Die Kinder, die heute lustlos und widerwillig am Kindergottesdienst oder am Religionsunterricht teilnehmen, sind noch nicht so weit, wie die Kinder, die damals am Tempelplatz Jesus mit Begeisterung als Messias bezeugten.

Und auch der verdorrte Feigenbaum gehört zu derselben Symbolik, wie die Blinden und Lahmen und die schreienden Kinder. Denn nach den prophetischen Erwartungen sollte die ganze Schöpfung blühen und vollendet werden, wenn der Messias erscheint. Der Feigenbaum, der keine Frucht zu bieten hatte, als Jesus erschien, wurde deshalb verflucht, weil er nicht erkannt hatte, dass der Messias vor ihm stand. Alle drei Zeichen, von denen Matthäus berichtet gehören zu demselben Muster: die Endzeit ist schon jetzt da, aber noch nicht in ihrer vollendeten Form.

Und deswegen singen wir schon jetzt Loblieder im Gottesdienst, obwohl wir im Herzen eigentlich noch nicht so weit sind. Deswegen danken wir Gott mit der Abendmahlsfeier, obwohl wir noch nicht voll und ganz einsehen, warum wir Gott danken sollen. Deswegen verzichten Christen auf Rechtsansprüche und auf Vergeltung und schenken Vergebung vorbedingungslos, auch wenn Vergebung noch nicht angemessen erscheint. Und auch heute kann es vorkommen, dass Kinder endzeitliche Erscheinungen vorwegnehmen.

Glasfenster der Kirche von Gründarfjörður, 2003, Christian Bickel

Zum Beispiel: vor einigen Jahren versteckte ein Terrorist eine Bombe in einem Flugzeug der United Airlines.
Flug Nummer 629 explodierte und 300 Passagiere kamen um. Unter den Opfern waren Eltern von drei Kindern. Ein katholischer Priester hatte die Aufgabe, die Beerdigung mit den drei Kindern abzusprechen. Eines der Kinder fragte den Priester: „Könnten wir bei der Beerdigung ein Gebet sprechen für den Mann, der meinen Vater und meine Mutter tötete?“ In solchen Momenten wird die zukünftige Welt Gottes vorweggenommen, die zwar im Keim schon da ist, die aber noch nicht in ihrer vollendeten Form erschienen ist.

Unsere Aufgabe als Christen ist es, diese zukünftige Welt Gottes zu bezeugen, auch wenn wir gegen das eigene Herz kämpfen müssen. Denn Christsein funktioniert nicht nach dem Lustprinzip.

Noch einmal möchte ich von einer Begebenheit aus einem Kindergottesdienst erzählen. Zwei Geschwister saßen nebeneinander, als der Pfarrer eine biblische Geschichte erzählte. Der Junge sagte zu seiner Schwester: „Was der da Vorne erzählt, ist langweilig; ich habe keine Lust, ich will nach Hause.“ Die Schwester stieß ihn mit ihren Ellenbogen in die Rippen und erwiderte: „Halt’s Maul und bleib‘ sitzen: Es soll langweilig sein.“ Christsein soll nicht unbedingt langweilig sein, aber Christsein ist manchmal wie eine Wüstenwanderung. Es gibt manchmal Zeiten, in denen man aufgeben möchte, denn Herz und Seele werden scheinbar nicht angesprochen. In solchen Momenten ist es eine Frage des Gehorsams, weiterzumachen. Denn die Zeit der Vollendung ist noch nicht da, in der Herz und Seele mit Reichtum und Herrlichkeit erfüllt werden. Manchmal müssen wir so tun, als ob, einfach aus Treue zu der Sache Christi. So zu tun, als ob, ist in diesem Zusammenhang nicht Heuchelei, sondern Gehorsam Gott gegenüber. Wie es in einem Lied heißt: „Gott loben, das ist unser Amt.“ Zuerst kommt Lob als Willensentscheidung, zuletzt wird Lob aus dem Herzen kommen.

Die Photographie des Feigenbaums wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Die Photographie des Glasfensters der Kirche von Gründarfjörður, 2003, Christian Bickel, ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Deutschland.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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