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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Johannes 15, 1 – 8 Was uns lebensfähig macht

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Westlicher Teil der Klagemauer in Jerusalem  2006, Plamen Matanski,Flikr

Jubilate

Was uns lebensfähig macht Johannes 15, 1 – 8

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. Johannes 15, 1 – 8

Es gibt eine Journalistin, die beauftragt wurde, in Jerusalem zu arbeiten. Sie bekam eine Wohnung, von der sie auf die Klagemauer schauen konnte. Jeden Tag schaut sie aus ihrem Fenster auf diese Mauer. Und dabei war ihr ein alter Mann aufgefallen, der jeden Tag erschien; seine Körpersprache signalisierte, dass er energisch betete. Eines Tages suchte sie ihn auf und stellte sich vor. Dann sagte sie: „Es ist mir aufgefallen, dass Sie jeden Tag diese Mauer aufsuchen. Seit wann machen Sie das und wofür beten Sie?“ Der alte Mann erwiderte: „Seit 25 Jahren komme ich täglich hierher. Morgens bete ich für den Weltfrieden und für Brüderlichkeit unter Menschen. Dann gehe ich nach Hause für eine Tasse Tee. Danach komme ich wieder und bete für die Abschaffung aller Krankheiten und Seuchen.“

Die Klagemauer in Jerusalem, 1904, Gustav Bauernfeind

Die Journalistin war beeindruckt und fragte: „Und was empfinden Sie, nachdem sie täglich seit 25 Jahren für solche Anliegen beten.“ Der alte Mann schaute sie traurig an und sagte: „Es kommt mir so vor, als ob ich mit einer Wand rede.“

Diese kleine Begebenheit zeigt, dass die Bilder, die unsere Beziehung zu Gott prägen, nicht beliebig sind. Die Klagemauer ist das, was übriggeblieben ist von der Stutzmauer des Tempelbergs. Alles, was sonst zu dem Tempel gehörte, wurde zerstört. Und weil dieser südwestliche Teil der Stutzmauer intakt blieb, entstand die Vorstellung, dass Gott sich hier niedergelassen hat. Deswegen kommen Juden aus aller Welt, um hier zu beten. Aber eine Mauer als Gebetsbrennpunkt zu haben, bezeugt eine Distanz zwischen Gott und Mensch. Denn wie der alte Jude sagte: Es ist, als ob man mit einer Wand redet.

Und diese Aussage entspricht einer Haltung, die für Juden in ihrer Beziehung zu Gott vielleicht charakteristisch ist. Denn Juden, die zum Christentum bekehrt wurden, sagen, dass sie vorher eine etwas distanzierte Beziehung zu Gott hatten. Aber nachdem sie Christen wurden, war die Beziehung zu Gott inniger und intimer geworden.

Und diese Feststellung ist einleuchtend. Denn der Brennpunkt unserer Gebete ist nicht eine Mauer, sondern eine Person: Jesus Christus. Und unsere Beziehung zu Gott, die durch Jesus verwirklicht wird, ist so innig und intim, wie zwischen einem Weinstock und seinen Reben, wie wir vorhin in der Lesung gehört haben.

Wine grapes, Fir0002

Diese Beziehung zwischen Jesus und seinen Anhängern ist nicht nur innig, sie ist auch lebensnotwendig. Wie Jesus spricht:

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt.

Diese Sprache klingt drastisch. Es ist zunächst nicht einleuchtend, warum so viel von einer Gemeinschaft mit Jesus abhängen kann. Denn viele Menschen leben ohne Bezug zu Jesus und scheinbar geht es ihnen trotzdem nicht schlechter als Christusanhängern.

In diesem Zusammenhang könnte man an eine Begebenheit aus dem 13. Jahrhundert denken, die als Gleichnis dienen kann. Damals gab es einen Kaiser Frederick. Er hatte die Vorstellung, dass die Menschheit eine Ursprache hat, und er wollte sie herausfinden. Er dachte, dass diese Ursprache Hebräisch, Griechisch, oder Lateinisch sein könnte; aber er war auch für die Möglichkeit offen, dass es sich um eine Sprache handelt, die ihm bis jetzt unbekannt war. Um herauszufinden, was die ursprüngliche Sprache der Menschheit ist, verordnete er ein Experiment. Einige Säuglinge sollten isoliert werden. Die Frauen, die für diese Säuglinge zuständig waren, sollten sie mit allem versorgen, was sie brauchten. Aber sie durften kein Wort mit ihnen reden. Der Kaiser dachte, dass Kinder, die ohne sprachliche Beeinflussung aufwachsen, die Ursprache der menschlichen Rasse sprechen würden.

Das Experiment wurde also durchgeführt; die auserwählten Säuglinge hörten von Geburt an keine menschliche Stimme. Niemand sprach mit ihnen. Und was war das Ergebnis? Innerhalb von einem Jahr waren alle tot.

Weinrebe

Diese Begebenheit zeigt, dass ein Mensch – um leben zu können – mehr braucht als bloße Versorgung. Es reicht nicht aus, genügend Essen und Trinken, genügend Wärme und Sicherheit zu haben. Ein Mensch braucht auch Gemeinschaft, die durch Worte vermittelt wird. Ein Mensch, der keine Worte hört, ist ein Mensch, der buchstäblich nicht lebensfähig ist.

Und diese Begebenheit aus dem 13. Jahrhundert kann auch als Gleichnis dienen. Ein Mensch braucht auch die Worte Gottes, um leben zu können. Wie Jesus sagte:

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.

Und auch in dem Johannestext für heute bezeugt Jesus, dass es seine Worte sind, die eine Lebensgemeinschaft vermitteln:

Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.

Ein Leben, das nur aus Arbeit und Konsum besteht, ist auf die Dauer zu wenig. Jesus verglich einen Menschen, der von ihm getrennt ist, mit einer Rebe, die von dem Weinstock abgeschnitten ist. Eine Zeitlang wird eine abgeschnittene Rebe genauso gesund aussehen wie eine Rebe, die zum Weinstock gehört. Äußerlich gesehen, gibt es zunächst keinen auffallenden Unterschied. Aber die Abgeschnittene ist tot und die Intakte ist am Leben. Und im Laufe der Zeit wird dieser Unterschied deutlich.

So ist es auch unter Menschen. Menschen, die ohne Gott leben, können dynamisch, fröhlich, freundlich und erfolgreich aussehen. Scheinbar fehlt ihnen nichts. Erst im Laufe eines Lebens wird deutlich, dass etwas Wesentliches fehlt.

Und besonders dann, wenn Erschütterungen eintreten, wird deutlich, ob ein Mensch eine Lebensgemeinschaft mit Gott hat, oder ob ein Mensch von der Quelle seines Lebens abgeschnitten ist.

Als Beispiel für diese Unterscheidung könnte eine Begebenheit dienen, die in Indien vorkam. In Indien gibt es heftige Spannungen zwischen den Religionen, besonders zwischen Hindus und Muslimen und zwischen Hindus und Christen. Es gab einen christlichen Missionar, Graham Stuart Staines, der seit 1965 in Indien war. Er leitete eine Klinik für Leprakranke und predigte in einer Kirche in der Stadt Baripada. Am 23. Januar 1999 war er mit seinen zwei Söhnen in einem Geländewagen unterwegs. 40 radikale Hinduisten überfielen sie. Der Missionar und seine Söhne wurden in ihrem Wagen lebendig verbrannt. Bei der Beerdigung waren 1000 Menschen anwesend, darunter die Witwe und die Tochter des Missionars. In solchen Momenten zeigt sich, ob ein Mensch zum göttlichen Leben gehört oder schon jetzt dem Tod angehört. Die Witwe des Missionars und seine Tochter zeigten, dass sie zum Leben gehören; sie sprachen von Frieden und Vergebung; sie waren frei von Rachsucht und Verbitterung. Sie empfanden zwar tiefe Trauer, aber sie waren nicht mit Verzweiflung überwältigt. An seinem Sarg sangen sie ein Osterlied, das in der Übersetzung folgendermaßen lautet:

Zinfandel grapes ripening on a vine in Amador county, California. 2008, Anachronist.

„Weil Jesus lebt, kann ich den morgigen Tag konfrontieren. Weil Jesus lebt, ist alle Angst vergangen. Denn ich weiß, er hält die Zukunft in seiner Hand. Und das Leben ist lebenswert, weil Jesus lebt.“

Hier wird bezeugt, dass Jesus ein lebendiger Weinstock ist und dass wir die Reben sind, die lebensfähig sind, wenn wir organisch zu Jesus gehören.

In diesem Kontext ist das Wort „Bleiben“ entscheidend. Jesus betont das Wort „Bleiben“:

Bleibt in mir und ich in euch... Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun... Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.

Wie bleiben wir in Jesus? Dazu dient die Bibel: denn dort sind die Worte Jesu zu lesen. Dazu dienen die Sakramente: Taufe und Abendmahl. Es ist also nicht schwer, in Jesus zu bleiben. Es ist nicht etwas Anstrengendes. Es erfordert nur kleine Willensentscheidungen, Willensentscheidungen, die täglich und wöchentlich wiederholt werden müssen.

Möge Gott uns helfen, uns für ein Bleiben in Jesus zu entscheiden.

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