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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Palmsonntag: Phil. 2, 5 – 11 Ist Gott ein Jurist?

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Anselm of Canterbury

Palmsonntag

Ist Gott ein Jurist? Phil. 2, 5 – 11

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2004

Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. Phil. 2, 5 – 11

Im 11. Jahrhundert gab es in Canterbury in England einen Erzbischof mit dem Namen Anselm. Dieser Anselm hat sich mit der Frage befasst, warum Jesus am Kreuz gestorben ist. Und seine Antwort prägt die Christenheit bis heute. Fast alle Passionslieder in unserem Gesangbuch sind beeinflusst von den Glaubensinhalten, die Anselm von Canterbury formulierte. Anselm ging davon aus, dass Gott in juristischen Kategorien denkt und dass der Tod Jesu am Kreuz die Lösung eines juristischen Problems darstellt. Nach Anselm besteht die Gerechtigkeit Gottes aus Vergeltung. Und das heißt: alle Sünden müssen bestraft werden. Strafe muss sein, denn angeblich verlangt die Gerechtigkeit Gottes eine umfassende Bestrafung. Aber wenn die Menschen so bestraft wären, wie sie es verdient hätten, würden sie alle in die Hölle landen, d.h. sie wären in Ewigkeit von Gott getrennt..

In einem Passionslied in unserem evangelischen Gesangbuch heißt es – dementsprechend:

Ich bin's, ich sollte büßen an Händen und an Füßen gebunden in der Höll; die Geißeln und die Bande und was du ausgestanden, das hat verdienet meine Seel.

In einem anderen Lied heißt es:

Wäre nicht gekommen Christus in die Welt und hätt angenommen unser arm Gestalt und für unsre Sünde gestorben williglich, so hätten wir müssen verdammt sein ewiglich.

Diese Lieder weisen darauf hin, dass Jesus stellvertretend die höllische Strafe erlitten hat, die uns Menschen sonst zugestanden hätte. Denn Gott ist auch die Liebe, und will uns Menschen retten, aber – weil er gerecht ist – kann er unsere Sünden nicht einfach unter den Teppich kehren. Also hat Christus als unschuldiger Sohn Gottes unsere Sünden auf sich genommen und hat die Schuld bezahlt. So lautet diese juristische Vorstellung.

Typisch für diese Passionsfrömmigkeit ist, dass das Wort „Ich“ immer wieder betont wird. Wie wir vorhin gehört haben: „Ich bin's, ich sollte büßen an Händen und an Füßen“. Und wie es in einem weiteren Lied heißt: „Ach, meine Sünden haben dich geschlagen; ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du erduldet.“ Immer wieder wird im Gesangbuch festgestellt: Meine Sünden haben Jesus ans Kreuz gebracht. Ich bin dafür verantwortlich, dass Jesus unermesslich leiden musste.

Diese Vorstellungen lassen sich biblisch begründen. Denn dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist, ist eine Kernaussage des Neuen Testamentes. Und es ist ein urchristliches Erlebnis, die eigene Sündhaftigkeit zu entdecken, wenn man auf Jesus am Kreuz schaut. Die Gedanken von Anselm können hilfreich sein, solange man nicht vergisst, dass sein Erklärungsversuch ein Gleichnis ist, das nur einen Teil der Wahrheit erfasst. Unsere Passionslieder können heilsam sein, solange man nicht vergisst, dass sie auch nur einen Teil der Wahrheit erfassen und dass sie deshalb missverständlich sind.

Denn der Gott, der in der Theologie Anselms und in unseren Passionsliedern vorkommt, ist ein himmlischer Buchhalter, für den das oberste Gebot lautet: die Rechnung muss genau aufgehen: für jede Sünde muss es eine Vergeltung geben. Der Gott, der hier vorkommt, ist ein Gefangener seines eigenen juristischen Systems. Dieser Gott ist wie ein irdischer Richter, der streng nach dem Gesetzbuch Strafen verteilen muss. Und dieses Gerechtigkeitssystem ist gnadenlos, denn offenbar verlangt es ein blutiges und schmerzverzerrtes Opfer. Nach diesem Gerechtigkeitsschema sind Judas und Pilatus Diener Gottes und die Kreuzigung ist eine Inszenierung Gottes. Mit anderen Worten: hier stimmt etwas nicht.

In einem Kindergottesdienst gab es einmal einen Versuch, den Tod Jesu nach diesem Vergeltungsmuster zu erklären. Das Ergebnis war, dass ein Junge feststellen musste: „Ich liebe Jesus, aber Gott habe ich nicht gern.“ Diese Aussage macht deutlich, was an der Theorie Anselms nicht stimmt. Denn Jesus und Gott werden hier auseinander gerissen. Nach diesem Muster ist Gott bloß der Zuschauer des Leidens Jesu (und unseres Leidens); Gott schaut vom Himmel herab und registriert mit Genugtuung, dass seine Gerechtigkeitsrechnung aufgegangen ist. Diese Gottesvorstellung ist grotesk.

Glasfenster aus der Minoritenkirche Regensburg Passionsszene aus dem mittleren Chorfenster: Kreuzigung (Fragment), um 1330

Denn als Jesus am Kreuz hing, war Gott nicht bloß ein Zuschauer: das Leiden Jesu war gleichzeitig das Mitleiden Gottes. Der Philipperbrieftext, der für heute vorgesehen ist, bezeugt die urchristliche Auffassung, dass Jesus gleichzeitig wahrer Mensch und wahrer Gott ist. Denn Gott wurde Mensch und in dem Menschen Jesus hat er mit uns gelitten.

Sünde ist nicht bloß ein juristischer Vorgang, sondern Sünde ist die Entfremdung zwischen Mensch und Gott. Diese Kluft wurde überbrückt, als Gott „sich entäußerte“, sich selbst „erniedrigte“ und Mensch wurde „und wurde gehorsam bis zum Tode am Kreuz“. Wer behaupten will, dass Gott bloß ein Zuschauer des Leidens Christi war, hat den christlichen Glauben in seinem Kern ausgehöhlt und verfälscht.

Es gibt in unserem Philipperbrieftext eine Erklärung für den Tod Jesu am Kreuz, die Jahrhunderte lang die vorherrschende Erklärung für den Tod Jesu war, die aber in unseren Passionsliedern kaum vorkommt. Die urchristliche Vorstellung ist, dass Jesus – als er seinen Kreuzesweg auf sich nahm – in einen Kampf gegen das Böse verwickelt war. Der Leidensweg Jesu war ein Kampf gegen den Teufel und gegen dämonische Mächte. Dieser Kampf wird in unserem Text angedeutet, wenn es heißt:

Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein.

Das Wort „Raub“ ist hier auffallend. Dieses Wort ist eine Anspielung auf teuflische Macht. Was das Böse ausmacht, ist, dass es die Göttlichkeit berauben will. Das Böse will sich als Gott aufspielen. Und wenn es heißt:

in dem Namen Jesu sollen sich beugen aller derer Knie, die im Himmel sind

so ist das eine Anspielung auf die Engel, die teilweise gefallene Engel sind, d. h. Dämonen. Wie Paulus in dem Epheserbrief schreibt:

Wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.

'Lamm', Keven Law, Los Angeles, USA, Mai 2008

Nach diesem Muster war der Tod Jesu am Kreuz der entscheidende Sieg über die dämonischen Mächte, die wie eine Besatzungsmacht in dieser Welt hausen und die Menschen erniedrigen und versklaven. Der Tod Jesu am Kreuz war dementsprechend eine Sklavenbefreiung. Das Urbild für diesen Tod am Kreuz war das Passalamm, das in Ägypten geschlachtet wurde, dessen Blut an die Türpfosten gestrichen wurde, damit die Erstgeborenen von dem Tod bewahrt bleiben und damit das versklavte Volk in die Freiheit ziehen konnte. Jesus war das Passalamm, das geopfert wurde, damit die Menschheit, die von Todesangst und von dämonischer Macht unterdrückt ist, in die Freiheit ziehen darf. In unserem evangelischen Gesangbuch gibt es – so viel ich weiß - nur ein einziges Lied, das diese urchristliche Botschaft bewahrt hat, nämlich das Osterlied Martin Luthers „Christ lag in Todesbanden“.

Diese Sprache, die von dämonischen Mächten redet, wirkt zwar überholt, aber sie enthält eine Wahrheit, auf die wir nicht verzichten können. Die große Schwäche der evangelischen Christenheit ist, dass sie biblische Wahrheiten auf das reduzieren will, was sie mit dem Verstand erfassen kann. Deswegen hat man manchmal den Eindruck, dass evangelische Verkündigung nur noch aus Ethik und Sozialarbeit besteht, als ob der Mensch sein Leben in den Griff bekommen könnte, wenn er sein moralisches Versagen anerkennt, sich im Geiste Jesu Christi zusammenreißt und sich für sozialen Frieden einsetzt. Aber es gibt eine weitere Dimension der Wirklichkeit, die im Neuen Testament mit Begriffen wie Teufel und Dämonen ausgedrückt wird. Wenn man bedenkt, was Terroristen anrichten, wenn man bedenkt, was kleine Kinder in den letzten Jahren als Opfer erlitten haben, wenn man den Wahnsinn im Nahen Osten bedenkt, dann merkt man, dass unsere Sprache nicht ausreicht, um diese Vorgänge zu erfassen. Manche bösartigen Handlungen sind mehr als geistige Störungen, mehr als Fanatismus, mehr als Kriminalität, mehr als moralisches Versagen. Es ist, als ob Menschen von dämonischen Mächten besessen sind. Es ist, als ob Teile der Welt von dem Teufel gesteuert werden. Aber dafür ist Jesus ans Kreuz gegangen. Um diese dämonischen Mächte zu bekämpfen, indem er scheinbar ihr Opfer wurde. Aber die scheinbare Niederlage war ein Sieg. Dieser Sieg gilt nicht nur einzelnen Personen, sondern der ganzen Menschheit – auch denjenigen, die vor Jesus gelebt und gestorben waren. Denn wie es in dem Christushymnus heißt:

In dem Namen Jesu sollen sich beugen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind (d.h. diejenigen, die schon gestorben waren)

Unsere Passionslieder reden immer wieder von ich, ich, ich. Aber es geht zuletzt nicht nur um meine persönliche Schuld und um meine persönliche Erlösung. Es geht Gott um das Ganze: die ganze Menschheit soll von dämonischer Macht befreit werden, die ganze Schöpfung soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit erlöst werden.

Wie es heißt: alle Zungen sollen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Und diese Botschaft soll uns Kraft geben, damit wir nicht resignieren, sondern hoffnungsvoll, dankbar und fröhlich Gott dienen, denn der Ostersieg ist schon gewonnen und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser Sieg überall und entgültig vollzogen wird.

Das Bild 'Anselm of Canterbury' ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Glasfenster aus der Minoritenkirche Regensburg, 'Passionsszene aus dem mittleren Chorfenster: Kreuzigung (Fragment), um 1330' (Photo: Andreas Praefcke, Januar 2009) wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Das Bild ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Das Photo des Lammes (Keven Law, Los Angeles, USA, Mai 2008) ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0.

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