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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Markus 12, 41 – 44 Besteht Glaube aus konditionierten Reflexen?

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Besteht Glaube aus konditionierten Reflexen? Markus 12, 41 – 44

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2005

Iwan Pietrowicz Pawlow

Iwan Pietrowicz Pawlow

Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig. Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte. Markus 12, 41 – 44

Es gab einen russischen Professor der Physiologie, der weltweit bekannt wurde durch seine Experimente mit Hunden. Er hieß Iwan Pawlow. Er interessierte sich für die Zusammenhänge zwischen dem Nervensystem und der Verdauung. Er hatte beobachtet, dass ein hungriger Hund sofort anfängt Speichel abzusondern, wenn er eine Mahlzeit sieht. Er führte Experimente durch, in denen er eine Glocke bei der Erscheinung einer Mahlzeit läutete. Nach einer Weile waren Hunde so auf die Glocke eingestellt, dass eine Glocke allein eine Speichelabsonderung auslösen konnte, auch wenn es kein Essen gab. Pawlow nannte diesen Vorgang einen konditionierten Reflex – oder um es einfacher auszudrücken, eine eingeübte Reaktion.

Und nicht nur Hunde, sondern auch Menschen entwickeln solche eingeübten Reaktionen. Auch im Bereich des Glaubens gibt es Vorgänge, die man einstudierte Reflexe nennen könnte.

Zum Beispiel, wenn das Wort „Gottesdienst“ erwähnt wird, gibt es unter vielen Kirchenmitgliedern einen einstudierten Reflex, der lautet: „Man braucht nicht jeden Sonntag in die Kirche zu rennen, um ein guter Christ zu sein“. Bei dieser Bemerkung fällt es auf, wie eingefahren sie ist. Ich möchte jetzt nicht beleidigend oder bissig sein, aber manche Glaubensaussagen sind vergleichbar mit den einstudierten Reaktionen von Pawlows Hunden: Manche Glaubensäußerungen sind Reflexe; sie sind nicht durchdacht, sie sind nicht das Ergebnis einer bewussten Willensentscheidung; sie sind fixierte Abläufe, die von einer Generation zur nächsten übertragen werden.

Und diese einstudierten Reflexe fallen besonders im Konfirmandenunterricht auf.

'The Second Jewish Temple. Model in the Israel Museum', 2008, Ariely

Der Gotteskasten befand sich in dem vorderen Vorhof zum Tempel: dem "Vorhof der Frauen"

Jedes Jahr bespreche ich mit Konfirmanden das dritte Gebot: „Du sollst den Feiertag heiligen.“ Was mir jedes Jahr auffällt, ist, wie berechenbar Konfirmandenaussagen zu diesem Thema sind. Es gibt erfreuliche Ausnahmen, besonders in diesem Jahrgang. Aber wenn ich Konfirmanden die Inhalte des christlichen Sonntags vermittele, weiß ich im Voraus, welche Aussagen ich als Reaktionen hören werde. Denn Konfirmanden sind 12 Jahre lang programmiert worden, den christlichen Glauben auf eine bestimmte Art und Weise zu sehen. Wenn sie z. B. das Wort „Glaube“ hören, dann hören sie „für wahr halten, dass Gott existiert“. Da können sie nichts dafür, denn diese reflexartige Denkweise wird von Generation zu Generation weitergegeben: christlicher Glaube bedeutet angeblich, für wahr zu halten, dass Gott existiert. Und das heißt: Glaube ist etwas, was sich im Kopf abspielt. Und Glaube ist etwas, was sich in einem privaten Bereich der Seele abspielt. Wenn ich Konfirmanden sage, dass christlicher Glaube etwas Sichtbares und Hörbares ist, dass christlicher Glaube hörbar wird durch Bekenntnis und sichtbar durch Abendmahlsbeteiligung, dann kommt diese Botschaft nicht an, denn die einstudierten Reflexe lassen es zunächst nicht zu, dass etwas Neues aufgenommen wird. Oder wenn ich Konfirmanden erläutere, dass der Sinn des Sonntagsgottesdienstes darin besteht, die Auferstehung Christi zu bezeugen und zu feiern, dann könnte ich diese Information genauso gut in Swahili sagen, denn solche Neuigkeiten kommen nicht an, wenn man jahrelang programmiert worden ist, auf eine bestimmte Art und Weise zu reagieren.

Denn für unsere Bevölkerung ist Glaube etwas, was sich hauptsächlich in einem Privatbereich des Kopfes oder der Seele abspielt – nicht in der Kirche, und nicht in der Öffentlichkeit. Diese Privatisierung des Glaubens ist aber selten eine bewusste Entscheidung, sondern eher ein Reflex.

Wie können wir gegen diesen Reflex ankommen? Als erstes sollten wir die Bibel anschauen. Der Ausgangspunkt für alles, was Christen denken und tun ist nach wie vor die Bibel. Und die Bibel bezeugt eindeutig, dass Glaube nicht in erster Linie etwas ist, was wir denken oder fühlen, sondern Glaube ist Tätigkeit, die öffentlich sichtbar wird.

'The widow’s mite', Jan and Caspar Luyken, 2010, Phillip De Vere

Der Markustext, der für heute vorgesehen ist, ist ein Beispiel dafür, wie Glaube aussieht. Es heißt:

Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig. Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.

Auffallend in diesem Zusammenhang ist, dass es überhaupt keine Rolle spielt, was diese Witwe wirklich denkt, fühlt oder glaubt. Das alles wird nicht berichtet. Es kommt allein auf ihre Handlung an. Indem sie ihren letzten Pfennig dem Tempel anvertraut, vertraut sie sich Gott an – und zwar voll und ganz, ohne Rückhalt. Vielleicht ist sie in ihrem Herzen verbittert; vielleicht hat sie abergläubische Vorstellungen von Gott. Das alles spielt für Jesus keine Rolle. Es kommt allein auf die Tätigkeit an, die für alle sichtbar ist.

Und das ist typisch für die Bibel. Wenn Menschen im Glauben handeln, erfahren wir nie, was sie wirklich fühlen und denken, denn es kommt allein auf die sichtbare Handlung an. Zum Beispiel: was hat Noah gefühlt oder gedacht, als er die Arche baute? Was hat Abraham gefühlt oder gedacht, als er seine Heimat verließ, um in ein neues Land zu ziehen, das Gott ihm zeigen würde? Was spielte sich in der Seele von Abraham ab, als er seinen Sohn Isaak opfern sollte? Was hat Mose gedacht, als er Israel aus Ägypten führte? Was hat Jesus gedacht, als er sein Kreuz zu seiner Hinrichtungsstätte trug? Auf solche Fragen gibt es keine Antwort, denn die Bibel berichtet nicht von dem Innenleben der Menschen, die im Auftrag Gottes handeln. Für die Bibel kommt es allein auf die Worte und Taten an, wenn es um Glaubenszeugnisse geht.

Und dementsprechend für den christlichen Glauben gilt: es kommt in erster Linie darauf an, was wir Christen durch Wort und Tat bezeugen. Ob wir in unseren Herzen an die Auferstehung Christ glauben oder nicht ist zwar eine nicht unwichtige Frage. Aber ausschlaggebend ist, ob wir die Auferstehung Christi durch Wort und Tat bezeugen, indem wir sonntags – d.h. am Auferstehungstag - öffentlich im Gottesdienst das Bekenntnis des Glaubens mitsprechen und die Tischgemeinschaft mit dem Auferstandenen feiern, indem wir nach Vorne zum Altarraum kommen und Brot essen und Wein trinken. Durch unsere Worte und durch unsere Körpersprache bekennen wir uns zu Jesus Christus. Was sich in dem Privatbereich der Seele abspielt ist zwar nicht unwichtig, aber christlicher Glaube existiert erst dann, wenn er sichtbar und hörbar wird durch Wort und Sakrament.

Zu der Zeit der Apartheid in Südafrika waren eine schwarze Frau und ihr Sohn zu Fuß unterwegs, als ihnen ein weißer katholischer Priester entgegenkam. Der Priester nahm höflich seinen Hut ab, als er an der schwarzen Frau vorbeiging. Diese kleine Höflichkeitsgeste hat den jungen Schwarzafrikaner umgehauen. Er hatte bis zu diesem Moment nie erlebt, dass ein weißer Mann einer schwarzen Frau gegenüber Achtung zeigte. Diese kleine Tat führte dazu, dass der Junge sich ernsthaft mit dem christlichen Glauben auseinander setzte; er studierte sogar Theologie und wurde anglikanischer Bischof.

Oder ein anderes Beispiel: Ein Aidskranker lud einen evangelischen Pfarrer zum Essen ein. Während des Essens hat er dem Geistlichen mitgeteilt, dass er dabei war, an Aids zu sterben. Der Kranke beobachtete genau die Körpersprache des Pfarrers: er wollte sehen, ob er sich zurücklehnte, oder ob er unauffällig versuchte, seinen Teller und sein Glas näher an sich heranzuziehen. Aber das alles hat er nicht getan, sondern er lehnte sich nach Vorne und berührte den Aidskranken mit seiner Hand und sagte: „Das tut mir Leid; das tut mir wirklich Leid.“ Daraufhin ist dieser Aidskranke ein Christusanhänger geworden. Er sagte zu diesem Pfarrer: „Als ich deine Körpersprache beobachtete und merkte, wie du mich akzeptiertest, dachte ich: Deinem Gott will ich begegnen, wenn ich sterbe.“

Diese Beispiele veranschaulichen, wie ausschlaggebend Wort und Tat sind. Christlicher Glaube wird durch Wort und Tat verwirklicht, nicht durch private Gedanken. Wie Jesus bezeugte, als er die Witwe im Tempel beobachtete: ausschlaggebend ist das, was sichtbar ist.

'Klädd nattvardskalk (grön) i sakristian i Grängesbergs kyrka', 2010, Taxelson

Es gibt eine historische Neigung unter Protestanten, etwas verächtlich von sogenannten „Äußerlichkeiten“ zu sprechen. Der Gottesdienstbesuch, die Abendmahlsbeteiligung, die kleinen Gesten, die im Gottesdienst vorkommen – gelten unter vielen Protestanten als belanglose „Äußerlichkeiten“, die zur Heuchelei verführen. Angeblich kommt es allein darauf an, was ein Mensch wahrhaftig in seinem Herzen empfindet. Und wenn ein Mensch in seinem Herzen ehrlich an Gott glaubt, dann kann er auf das ganze Brimborium verzichten. So lautet eine Denkweise, die von Generation zu Generation überliefert wird. Diese überlieferte Denkweise ist aber unbiblisch und gehört eher zu den einstudierten Reflexen, die Ivan Pawlow erläuterte.

Pawlow hat auch eine weitere Entdeckung gemacht. Hunde können zwar trainiert werden, Schleime abzusondern, wenn sie eine Glocke hören. Wenn sie aber immer wieder enttäuscht werden, d.h. wenn sie merken, dass es doch kein Essen gibt, nachdem die Glocke ertönt hat, dann hört die eingeübte Reaktion irgendwann auf.

Und so ist es auch mit uns Menschen. Unsere überlieferten Reflexe wollen uns dazu verführen, den Glauben zu privatisieren. Aber ein Glaube, der nicht ans Tageslicht kommen will, ist ein Glaube der eingehen wird. Ein Glaube, der aus reflexartigen Denkweisen besteht, kann nur zu einer großen Enttäuschung führen. Denn Glaube lebt nicht von Reflexen, sondern Glaube lebt von Willensentscheidungen. Glaube lebt von der Entscheidung, ihn immer wieder mit Wort und Tat zu bezeugen. Christlicher Glaube ist ein sichtbarer und hörbarer Glaube.

Möge Gott uns helfen, einen Glauben zu vertreten, der sichtbar und hörbar bleibt. Amen.

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Die Abbildung 'The Second Jewish Temple. Model in the Israel Museum', 2008, Ariely, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution 3.0 Unported license.
Die Abbildung 'The widow’s mite', Jan and Caspar Luyken, 2010, Phillip De Vere, ist frei, Sie kann gemäß den Festlegungen der Lizenz Freie Kunst weiterverbreitet und/oder modifiziert werden.
Die Photographie 'Klädd nattvardskalk (grön) i sakristian i Grängesbergs kyrka', 2010, Taxelson, wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.

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