Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Die Wehrlosigkeit des Kindes in der Krippe

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Heiligabend - Christvesper

Die Wehrlosigkeit des Kindes in der Krippe

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt am 24. Dezember 2006

Geburt Christi in einer Höhle

Während des zweiten Weltkrieges gab es in Frankreich eine Stelle, wo sich die feindlichen Armeen gegenüberstanden. Zwischen den Fronten war eine Wiese mit einem Bauernhaus. Das Bauernhaus wurde von einer Bombe getroffen und fing an zu brennen. Aus dem Haus kam ein Kleinkind, das noch im Säuglingsalter war. Es krabbelte über die Wiese – direkt in die Schusslinie zwischen den Fronten. Als die Soldaten das Kind sahen, hörten sie sofort auf zu schießen. Eine unheimliche Stille trat ein. Alle Augen waren auf den Säugling gerichtet. Plötzlich rannte ein Soldat auf das Kind zu, nahm es in seine Arme und brachte es in Sicherheit. Auf beiden Seiten brach Jubel aus. Aber nach einer Weile fing das Kämpfen wieder an.

Wie ist dieser Vorgang zu verstehen? Warum haben die Soldaten aufgehört, zu schießen, als ein Säugling in die Schusslinie geraten war? Es hängt offenbar mit der absoluten Schutzlosigkeit eines Säuglings zusammen. Diese Wehrlosigkeit hat eine entwaffnende Wirkung. Für einen Moment konnten Soldaten, die an das unmenschliche Töten gewöhnt waren, nicht weiter kämpfen.

Dieser Vorgang aus dem 2. Weltkrieg ist nicht einmalig. Während des Vietnamkriegs z.B. standen sich amerikanische und nordvietnamesische Soldaten in einem Reisfeld gegenüber. Zwischen ihnen war ein Erddeich. Plötzlich tauchten 6 buddhistische Mönche auf, die über diesen Deich liefen. Sie waren in der Schusslinie zwischen den Fronten, aber sie liefen ruhig und langsam; sie schauten weder nach rechts noch nach links. Sie waren auch die Verkörperung einer totalen Wehrlosigkeit. Und von keiner Seite kam ein Schuss. Hinterher sagte ein Soldat folgendes: „Es war unheimlich, denn niemand hat auf sie geschossen. Und nachdem sie weg waren, konnte ich nicht mehr kämpfen. Ich wollte nie wieder kämpfen. Und offenbar ging es allen so, denn auf beiden Seiten hörten alle auf zu schießen. Wir haben einfach aufgehört, Krieg zu führen.“

Und ein drittes Beispiel für diese Dynamik gab es im Jahre 1864. Damals tobte der Bürgerkrieg in Nordamerika. In Petersburg, Virginia, waren die feindlichen Soldaten in Frontgräben nahe beieinander. Auf der Südseite hörte ein Offizier, dass er einen Sohn bekommen hatte. Um diese Geburt zu feiern, wurden an der Front entlang eine Reihe von Freudenfeuern angezündet. Als die Soldaten auf der Nordseite mitbekommen hatten, worum es ging, haben auch sie Freudenfeuer angezündet, um die Geburt eines Kindes auf der feindlichen Seite mitzufeiern. Solange diese Feuer brannten, gab es keine Kämpfe. Es gab auch keine lauten Töne, sondern es herrschte Stille. Keiner der Soldaten hatte das neugeborene Kind gesehen; es genügte, an die Geburt eines Kindes zu denken, um die Kaltblütigkeit zu unterbrechen.

Diese drei Beispiele machen etwas deutlich, was die Weihnachtsgeschichte nach Lukas verkündet. In der Lukaserzählung gibt es einen eindeutigen Höhepunkt: nämlich die Stelle, bei der die Engelschar ausruft: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Die Botschaft hier lautet: dieses Kind in der Krippe verkörpert die Herrlichkeit Gottes in der Höhe und gleichzeitig Friede auf Erden. Aber welche Art Frieden ist gemeint? Und die Antwort auf diese Frage wurde in Bethlehem sichtbar. Die Antwort lautet: Gott wird Frieden auf Erden schaffen nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch Wehrlosigkeit. Der Friede Gottes, der die ganze Erde zuletzt erfassen sollte, wurde durch die totale Wehrlosigkeit eines Säuglings eingeleitet.

Wie die drei Beispiele aus Kriegszeiten zeigten: totale Wehrlosigkeit kann eine entwaffnende Wirkung haben. Aber das Kind in der Krippe ist nicht nur die Verkörperung einer absoluten Verwundbarkeit, - das wäre zu wenig. Die Erde braucht viel mehr als bloße momentane Unterbrechungen der Gewalttätigkeit.

Das Kind in dem Futtertrog ist deshalb nicht nur der Inbegriff der Verletzlichkeit, sondern auch die Verkörperung der Herrlichkeit Gottes. Deswegen erschien die Herrlichkeit Gottes auf dem Hirtenfeld, um zu zeigen, dass das neugeborene Kind die Herrlichkeit Gottes verkörpert. Das heißt: das Kind in der Krippe ist gleichzeitig Mensch und Gott. Auf der einen Seite ist dieses Kind Mensch: durch seine totale Hilflosigkeit sollen alle Kampffronten abgebrochen werden; und auf der anderen Seite ist Gott selber in diesem Kind erschienen: durch seine Göttlichkeit soll ein Friede entstehen, der allumfassend und dauerhaft ist.

Diese Botschaft klingt vielleicht abstrakt oder kompliziert. Immerhin brauchte die Kirche fast 400 Jahre, bis sie eine Formulierung fand, die zum Ausdruck bringt, wie Jesus gleichzeitig Mensch und Gott sein könnte. Aber eigenartigerweise ist dieses Geheimnis so einfach, dass ein Kind es sofort begreifen kann.

Zum Beispiel: im Jahre 1994 in Russland wurden zwei Vertreter einer Kirche dazu eingeladen, kurz vor Weihnachten ein Waisenhaus zu besuchen, in dem ca. 100 Jungen und Mädchen untergebracht waren. Dort haben die zwei Christen die Geschichte von der Geburt Jesu erzählt. Die Waisenkinder hörten zum ersten Mal in ihrem Leben die Lukasgeschichte. Und sie waren von dieser Erzählung gefesselt. Sie hörten von der Reise nach Bethlehem, die vergebliche Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit, und wie das Kind in eine Futterkrippe gelegt wurde.

Krippe beim Vorweihnachtlicher Basar im Bezirk Berg, 2008, PSch

Danach wurden die Kinder dazu eingeladen, eine eigene Krippe zu basteln. Es gab kein richtiges Bastelmaterial in diesem Heim, also musste improvisiert werden. Jedes Kind bekam drei kleine Stücke Pappkarton – um eine Krippe zu machen. Es gab Fragmente von einer gelben Papierserviette, die man zerreißen konnte, um Stroh nachzuahmen. Dann gab es ein quadratisches Stück Flanell – das von einem weggeworfenen Nachthemd ausgeschnitten wurde - das eine Decke darstellen sollte, und ein Stück Filz, aus dem das Kind in der Krippe gebastelt werden sollte.

Nachdem die Kinder eine Zeitlang gearbeitet hatten, gingen die zwei Personen im Raum herum, um zu sehen, wie die Krippen der Kinder aussahen. Bei einem Jungen, etwa 6 Jahre alt, der Mischa hieß, gab es eine Überraschung: in seiner Krippe lagen zwei Kinder. Diese Junge hatte zwar die Geschichte richtig verstanden, aber in seiner Phantasie hat er sie weiter entwickelt. In seinen Gedanken spielte sich ein Gespräch ab. Er erzählte folgendes: „Maria legte das Kind in die Krippe, und Jesus schaute mich an und fragte, ob ich eine Wohnung hätte. Und ich erzählte ihm, dass ich keine Eltern hätte und deshalb auch kein zu Hause. Jesus sagte, dass ich bei ihm bleiben könnte. Und ich sagte, dass das nicht geht, weil ich kein Geschenk für ihn hatte, wie alle anderen. Aber ich wollte bei Jesus bleiben, also überlegte ich, was ich ihm als Geschenk geben könnte. Dann fiel mir ein, dass ich ihn warm halten könnte: vielleicht wäre das ein gutes Geschenk. Also fragte ich Jesus und er antwortete: „Wenn du mich warm halten würdest, wäre das das beste Geschenk, was ich jemals bekommen hatte. Also stieg ich in die Krippe und Jesus schaute mich an und sagte, dass ich bei ihm bleiben könnte – für immer!“

Und nachdem der Junge mit Erzählen fertig war, musste er hemmungslos weinen, weil er zum ersten Mal in seinem Leben eine Person gefunden hatte, die ihn nie verlassen würde.
Dieser 6-jährige Junge hat zwei Dinge verstanden: erstens dass Jesus ein wehrloses Kind war, das wie jeder Mensch auf Wärme und Schutz angewiesen war. Aber das russische Kind hat auch die Göttlichkeit des Kindes in der Krippe erkannt – denn nur Gott kann das Versprechen abgeben, bei einem Menschen zu bleiben - für immer.
Dieser 6-jährige Junge hat die Botschaft von Weihnachten sofort verstanden: Gott ist als Kind in diese Welt gekommen, damit wir eine Beziehung zu ihm finden und damit diese Beziehung für immer anhält. So einfach ist das.

Die totale Schutzlosigkeit des Säuglings in der Krippe von Bethlehem war eine Vorschau. Denn zuletzt als er am Kreuz hing, war er total wehrlos. Und als dieses Kind erwachsen wurde, verkündete es eine Botschaft der Wehrlosigkeit:

"Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will... Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen."

Diese Wehrlosigkeit ist nicht als Taktik oder Strategie gemeint, sondern als Zeugnis.
Diese Haltung der Wehrlosigkeit bezeugt Vertrauen in einen Gott, der sich zuletzt durchsetzen wird. Indem Gott als Säugling erschienen ist, verkündet er die Botschaft: „Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich bin nicht gekommen, um die Gewalt dieser Erde zu steigern, indem ich selber gewalttätig auftrete. Ich werde Frieden und Gerechtigkeit auf eine sanfte Weise verwirklichen. Und dieser Friede fängt bei denen an, die meine Sanftheit und meine Wehrlosigkeit teilen.“ Möge Gott uns helfen, seinen sanften Frieden zu verkörpern.

Der Ausschnitt der Ikone 'Geburt Jesu in einer Höhle', Rumänien, 20 Jhd. Maler unbekannt, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren

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