Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Johannes 19, 28 - 30 Der unfriedlichste Ort dieser Erde

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Jerusalem in 1898: crowd in front of the Church of the Holy Sepulchre

Karfreitag

Der unfriedlichste Ort dieser Erde Johannes 19, 28 - 30

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! und neigte das Haupt und verschied. Johannes 19, 28 - 30

Was ist der unfriedlichste Ort dieser Erde? Es kann gut sein, dass der unfriedlichste Ort der Welt die Grabeskirche in Jerusalem ist. Diese Kirche enthält die Stätten, an denen Jesus gekreuzigt und begraben wurde. Sechs christliche Konfessionen sind in dieser Kirche anwesend und jede Konfession hat einen Teil der Kirche, für den sie jeweils zuständig ist. Sogar das Dach ist eingeteilt, denn koptische und äthiopische Mönche wohnen an dem Dach; allerdings streiten sie seit Jahrhunderten, wer von Ihnen für das Dach zuständig ist. Seit 1970 wohnt mindestens ein koptischer und ein äthiopischer Mönch dauerhaft auf dem Dach, um ihre Zuständigkeit zu dokumentieren.

Jerusalem, Auf dem Dach der Grabeskirche, Berthold Werner, 2008

Im vorigen Sommer gab es eine Auseinandersetzung, die typisch ist für die Grabeskirche. Ein koptischer Mönch saß auf dem Dach in dem koptischen Bereich. Als es für ihn in der Sonne zu heiß wurde, bewegte er seinen Stuhl in den Schatten. Er hat offenbar eine unsichtbare Grenze überschritten, denn sein Stuhl war jetzt in dem Bereich des Daches, für den die orthodoxe Kirche Äthiopiens sich zuständig fühlte. Es entstand eine heftige Auseinandersetzung, die handgreiflich wurde. Koptische und Äthiopische Mönche kämpften miteinander, so als ob sie betrunkene Fußballhooligans wären. Sie griffen einander mit Fäusten, Stühlen und sogar mit Eisenstangen an. Am Ende waren 7 Äthiopier und 4 Kopten verletzt. Ein Mönch hatte einen gebrochenen Arm; ein anderer lag bewusstlos im Krankenhaus.

Dieser Vorgang passierte am Dach, wo es relativ friedlich zugeht. Noch schlimmer ist es, unten in der Kirche, wo Römisch-Katholische, Griechisch-Orthodoxe, Armenisch-Orthodoxe, Syrisch-Orthodoxe und auch Kopten miteinander unter einem Dach sind. Immer wieder gab es Kämpfe zwischen diesen Konfessionen. Es kommt immer wieder zu Schikanen und Streit. Z.B.: einmal wollte ein Kopte einen Gottesdienst halten. Der koptische Bereich ist sehr klein und die Gemeinde war gezwungen, in dem Bereich zu stehen, für den die Franziskaner zuständig sind. Die Franziskaner störten den koptischen Gottesdienst, indem sie mit voller Absicht Bänke hin und her durch die Gemeinde trugen.

In der Grabeskirche sind manchmal blutige Kämpfe entstanden, weil ein Teppich bewegt wurde oder weil eine Kerze zur falschen Zeit angezündet wurde. Wenn ein Nagel von der Wand fällt, gibt es mühsame Verhandlungen, ehe der Nagel wieder in die Wand geschlagen werden kann – manchmal unter der Aufsicht von bewaffneten Polizisten. Einmal kämpften armenische und griechische Mönche während einer Osternachtsfeier miteinander: zehn wurden verletzt, 4 davon schwer. Christen kamen zu dieser Feier mit Stöcken und Keulen bewaffnet.

Der Streit um die Grabeskirche hat sogar zu einem Krieg beigetragen. Im Jahre 1853 ist der Krimkrieg ausgebrochen - an dem Russland, die Türkei, England und Frankreich beteiligt waren - und ein Streitpunkt dieses Krieges war die Frage der Zuständigkeit für die Grabeskirche.

Die Grabeskirche ist also ein Ort, an dem Christen ihre Verachtung füreinander zeigen, aber auch ihre Verachtung für die Juden. Jahrhundertelang war es Juden nicht erlaubt, die Grabeskirche zu betreten. Die Kirche wurde ursprünglich 335 gebaut. Erst im Jahre 1967 war es Juden offiziell erlaubt, diese Kirche zu betreten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Wächter aufgepasst, damit keine Juden die Kirche betraten. Im Zweifelsfall musste ein Besucher das Zeichen des Kreuzes machen, um vorzuweisen, dass er kein Jude sei. Allerdings: im Jahre 1926 passierte etwas Unglaubliches: ein christlicher, arabischer Taxifahrer identifizierte einen jungen Mann in der Grabeskirche als Jude. Sofort wurde der junge Mann überfallen, er wurde am Kopf geschlagen und am Bein mit einem Messer gestochen. Er sollte gehängt werden, aber die Polizei griff rechtzeitig ein, um den Mann zu retten.

Wenn Jesus wiedergekommen wäre und in der Zeit vor 1967 versucht hätte, die Grabeskirche zu betreten, dann wäre er als Jude hinausgeworfen worden, falls er lebendig wieder herausgekommen wäre.

Golgotha Kreuz, designed by Paul Nagel, Grabeskirche Jerusalem

Es ist eine ungeheuere Ironie, dass die Stätte der Kreuzigung so unfriedlich ist, denn an dieser Stätte betete Jesus für seine Peiniger, als er am Kreuz hing: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Die Grabeskirche ist – im Gegensatz zu dem Geist Jesu - eine Stätte der Unversöhnlichkeit.

Wie ist diese Feindseligkeit zu erklären? Der Philosoph Voltaire hat in diesem Zusammenhang etwas gesagt, was der biblischen Botschaft entspricht. Er sagte, dass Anhänger einer Religion, die Anhänger einer anderen Religion verachten oder angreifen, sich eigentlich gegen ihren eigenen Gott auflehnen. Diese Aussage Voltaires ist von Psychologen bestätigt worden: religiöse Verfolgung ist unterschwellig eine Auflehnung gegen den eigenen Gott. Die erste Mordgeschichte der Bibel – Kain und Abel – veranschaulicht diese Dynamik. Kain brachte Abel um, weil er meinte, Gott hatte ihn ungerecht behandelt. Sein Angriff gegen Abel war eigentlich ein Angriff gegen Gott. Aggressivität entsteht, wenn die Beziehung zu Gott gestört ist, mörderische Gewalt ist das Ergebnis einer Feindschaft Gott gegenüber.

Dementsprechend verkündet die Bibel, dass die Menschheit sich in einem Zustand der Feindschaft gegen Gott befindet. Deswegen schreibt Paulus in dem 2. Korintherbrief: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Das heißt: nicht Gott muss sich mit uns versöhnen lassen, sondern wir müssen uns mit Gott versöhnen lassen. Nicht Gott ist uns gegenüber feindlich gesinnt, sondern wir sind Gott gegenüber feindlich gesonnen. Die Ereignisse in der Grabeskirche offenbaren, was tief in unseren Herzen verborgen ist. Die Feindseligkeit, die in der Grabeskirche so offensichtlich zum Vorschein kommt, ist eine Feindseligkeit gegen Gott, die in allen menschlichen Herzen lauert.

Ein Pfarrer aus New York sagte einmal folgendes: „Ich glaube, es gibt nichts Gefährlicheres für einen Christen, als Groll gegen Gott zu hegen. Und trotzdem bin ich immer schockiert über die wachsende Zahl der Gläubigen, die zornig auf Gott sind. Sie geben es vielleicht nicht zu, aber tief im Inneren hegen sie Groll gegen Gott. Warum? Weil sie glauben, Er sei an ihrem Leben nicht interessiert! Sie meinen, Er nehme ihre Probleme nicht wichtig - weil er ein bestimmtes Gebet nicht erhört oder sich scheinbar nicht für sie eingesetzt hat.“

Die Kreuzigung Jesu war auch eine Offenbarung dieser Feindschaft gegen Gott. Das Johannesevangelium bezeugt diese Feindseligkeit an verschiedenen Stellen. Zum Beispiel durch die Inschrift, die am Kreuz hing: „Jesus von Nazareth, König der Juden“. Vorher hatte Pilatus spöttisch gefragt: Soll ich euren König kreuzigen? Und die Hohenpriester erwiderten: Wir haben keinen König als den Kaiser. Dieser Moment ist voller Ironie. Denn für das Judentum war Gott selber der König von Israel. Der Tempel war dementsprechend wie ein Palast gebaut. Aber wenn es heißt: wir haben keinen König als den Kaiser, dann ist das eine Absage an Gott. Es ist ein Bekenntnis zu dem Kaiser in Rom als der Gott Israels. Das Johannesevangelium deutet die Ablehnung Jesu als die Ablehnung Gottes. Die Kreuzigung Jesu ist, als ob Gott selber ans Kreuz gebracht wurde.

Und es geht hier nicht nur um einen innerjüdischen Streit. Sondern hier wird etwas offenbart, was allgemeingültig ist.

Es gibt eine Geschichte von einem Eremitenmönch, der an einem Flussufer gebetet hatte. Er saß unter einem Baum, dessen Wurzeln von der Strömung des Wassers teilweise freigelegt wurden. Während seines Gebetes merkte er, dass der Fluss dabei war, zu steigen, und dass ein Skorpion an einer Wurzel gefangen war, weil er nicht zum Land zurückkehren konnte, ohne von der Strömung weggespült zu werden. Der Mönch kroch über die Baumwurzel und versuchte, den Skorpion zu befreien. Aber der Skorpion wollte sich nicht befreien lassen, sondern versuchte, seinen Retter in die Hand zu stechen. Ein Reisender kam vorbei und beobachtete diesen Vorgang. Er sagte zu dem Mönch: „Sehen Sie nicht, dass es sinnlos ist, was sie da versuchen? Der Skorpion wird immer stechen; das ist seine Natur.“ Der Mönch erwiderte: „Was Sie sagen ist richtig. Aber es ist meine Natur, dass ich Leben retten will. Und soll ich meine Natur ändern, nur weil der Skorpion seine Natur nicht ändern kann?“

Diese Begebenheit dient als Gleichnis. Gott ist wie dieser Mönch. Es gehört zu seiner Natur, Leben zu retten. Deswegen ist Gott Mensch geworden und hat unter den Menschen gewohnt. Und die Menschen sind wie dieser Skorpion; sie werden immer versuchen, den zu stechen, der versucht, sie zu retten. Der gekreuzigte Christus ist eine Veranschaulichung dieses Vorgangs.

Ausschnitt aus dem Rabula-Evangelium, Szene: Kreuzigung, 586, Buchmalerei, im Johanneskloster in Zagba entstanden

Aber es gibt auch einen Hinweis, dass der gekreuzigte Jesus die Natur der Menschen doch ändern kann. Das Johannesevangelium bietet uns einen merkwürdigen Abschluss zu der Kreuzigungsgeschichte. Jesus spricht: „Mich dürstet“. Normalerweise müsste man erwarten, dass niemand darauf reagiert. Denn warum sollten die Wachsoldaten sich dafür interessieren, ob ein Hinrichtungsopfer Durst hat oder nicht? Sie hatten ihre Kaltblütigkeit gezeigt, als sie die Kleider Jesu unter sich aufteilten. Aber erstaunlicherweise zeigen sie auf einmal Mitgefühl. Jesus meldet, dass er Durst hatte, und die Soldaten reagieren sofort. Er bekommt nicht „Essig“, wie Luther übersetzte, sondern den sauren Wein, den die Soldaten tranken. Warum sollten die Soldaten einen solchen kleinen Liebesdienst tun?

Etwas ist hier eingetreten. Indem die Soldaten ihren Wein mit Jesus teilen, entsteht so etwas wie der Anfang einer Gemeinschaft. Und Johannes gibt diesem Moment ein besonderes Gewicht, indem er diesen Moment unmittelbar vor dem Tod Jesu erwähnt und indem er dreimal innerhalb von zwei Sätzen diesen Wein erwähnt: er drängt dieses Wort dem Leser auf. Der Leser soll also merken, dass Jesus zuallerletzt einen Liebesdienst von den Menschen erfährt, die ihn ans Kreuz genagelt hatten. Das heißt: die Versöhnung zwischen Gott und Mensch hat angefangen. Deswegen konnte Jesus sein Leben mit den Worten beenden: „Es ist vollbracht“.

Dass die Stätte, an der die Versöhnung zwischen Gott und Mensch vollbracht wurde, ein unfriedlicher Ort geworden ist, ist eine Ironie der Kirchengeschichte. Aber die unfriedliche Grabeskirche ist eine ständige Erinnerung daran, dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch gestört ist, und dass es nicht Gott ist, der sich versöhnen lassen muss, sondern die Menschen. Nicht Gott brauchte ein Kreuzigungsopfer, sondern Menschen brauchen solche Opfer, um ihre Aggressivität auszuleben.

Möge Gott uns helfen, dass wir dankbar annehmen, was er in Jesus erlitten hat. Möge Gott uns helfen, die Unfriedlichkeit zu erkennen, die in unseren Herzen lauert, mit der wir nicht allein fertig werden können, sondern nur durch die Hilfe Gottes.

Frieden zwischen Menschen fängt dort an, wo Menschen Frieden mit Gott finden. Und Gott will uns Frieden schenken. Wenn wir Abendmahl feiern, nehmen wir diesen Frieden als Geschenk an.

Das Bild 'Golgotha Kreuz, designed by Paul Nagel, Grabeskirche Jerusalem, 1996 wurde von Michael Hammers Studios, ihrem Urheber, zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Das Bild ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Das Photo 'Jerusalem, Auf dem Dach der Grabeskirche, Berthold Werner, 2008' wurde von seinem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Das Bild ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Das Photo 'Jerusalem in 1898: crowd in front of the Church of the Holy Sepulchre' (Photograph der 'American Colony Jerusalem') ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Der Ausschnitt aus der Buchmalerei 'Rabula-Evangelium, Szene: Kreuzigung, 586, entstanden im Johanneskloster in Zagba, gehört weltweit zum "public domain". Das Kunstwerk ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.

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