Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Martin Vorländer: 20. Sonntag nach Trinitatis - Markus 2, 23-28 Selber glauben! Selber denken!

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'Women Religious', 2013, Wilfredor

20. Sonntag nach Trinitatis

Selber glauben! Selber denken! Markus 2, 23-28


Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 13. Oktober 2013 in der Bergkirche

Liebe Gemeinde!

Sind Sie fromm?

Sind Sie fromm? Fromm, das Wort wirkt heute fremd, fast ein bisschen extrem: Fromm, das sind doch nur die besonders Frommen, Menschen, die es sehr ernst meinen und ganz genau nehmen mit ihrem Glauben, vielleicht sogar zu Fundamentalismus neigen. Was macht einen frommen Menschen aus? Die Frage ist in unserer multireligiösen Gesellschaft brisant. Ist nur fromm, wer strikt die Gebote seiner Religion befolgt?

Zwickmühlen zwischen Glauben und Moderne

Muss eine Muslima Kopftuch tragen, um als fromm zu gelten? Kann einer muslimischen Schülerin im „Burkini“ beim Schwimmunterricht der Anblick ihrer Mitschüler in Badehose zugemutet werden? Ist nur eine fromme Jüdin und ein frommer Jude, wer „koscher“ isst, also nach den Speisegeboten der Tora? Kann nur Muslim oder Jude sein, der beschnitten ist?

Fragen, die hitzig, zum Teil auch in schrillen Tönen diskutiert werden. Die einen sehen die Freiheit der Gesellschaft in Gefahr, die anderen die Freiheit des Glaubens. Solche Fragen tangieren die alltägliche Lebenspraxis von Menschen und bringen sie in Zwickmühlen zwischen ihrem Glauben und der Moderne.

Das kleine Kreuz und die große Airline

Nun könnten wir uns zurücklehnen und sagen: Betrifft ja nur die anderen. Doch Christinnen und Christen und auch Menschen, die nicht glauben, sind an anderen Stellen herausgefordert: Was ist mit der Flugbegleiterin, der ihr Arbeitgeber verboten hat, im Dienst eine Halskette mit kleinem Kreuz zu tragen, weil ein solches Glaubenszeichen angeblich gegen das Neutralitätsgebot verstößt?

Was sind christliche Werte, die wir nicht nur als Popanz vor uns hertragen, sondern glaubwürdig leben und unseren Kindern weitergeben können? Wie verständigt sich unsere Gesellschaft immer neu auf Werte, denen alle zustimmen können, unabhängig von ihrer Religion und Weltanschauung?

Wie heilig ist der Feiertag?

Sie merken: Ein großer Bogen. Was frommt, was hilft, dass wir uns auf diesem weiten Feld nicht verlaufen? Das Evangelium für den heutigen Sonntag legt eine konkrete Frage dazu vor: Wie heilig ist der Feiertag? Mit der Bibel in der Hand könnte man kurz und bündig sagen: Ist doch klar! Drittes Gebot:

„Du sollst den Feiertag heiligen.“

Lernt jeder Konfirmand. Oder doch nicht so einfach? Hören Sie, wie Jesus mit dem Gebot umgeht.

'Christus im Ährenfeld', 1922, Josef Untersberger

„Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?

Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?

Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.“ (Markus 2, 23-28)

Eine Horde Aussteiger im Kornfeld

Jesus zieht mit seinen Jüngern am Sabbat durch ein Kornfeld. Die Jünger haben Hunger und rupfen en passant Ähren aus. Vermutlich wäre bis heute kein Bauer begeistert, wenn eine Horde religiöser Aussteiger durch sein Feld trampelt und sich in aller Freiheit an dem bedient, was sie nicht gesät und angebaut haben.

Das mag angehen, wenn man am Verhungern ist. Aber ohne Not und noch dazu am Feiertag, das macht Ärger. Kein Wunder, dass die Pharisäer Jesus fragen:

Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“

„Du sollst den Sabbat heiligen“

, heißt das dritte der Zehn Gebote. Klartext wie in Stein gemeißelt. Darüber setzt sich Jesus nicht hinweg. Er führt seine Gesprächspartner vom Buchstaben des Gesetzes weg - hin zum inneren Sinn.

Die Bibel - kein „Law and order“-Buch

Jesus zeigt, dass die Heilige Schrift kein Buch von „Law and order“, von Anordnung und blindem Gehorsam ist. Er erinnert an David, den großen König im Alten Testament. Der verstieß gegen ein Gebot Gottes und bediente sich an den geweihten Broten im Tempel – weil er und seine Leute in Not waren und Hunger hatten. Für Jesus ein königliches Beispiel für fromme Freiheit und dafür, worauf es bei Gottes Geboten ankommt: Gebot nicht um des Gebotes willen, sondern um des Menschen willen.

Keine Wurschtigkeit

„Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbat willen.“ Es geht nicht um Beliebigkeit oder Wurschtigkeit à la „Soll doch jeder machen, was er will!“ Das Evangelium stellt die Vollmacht Jesu heraus: Als der Sohn Gottes, als der Menschensohn ist er ein Herr auch über den Sabbat. Seine Sendung und sein Wirken sind der Grund für die Freiheit, Gebote darauf hin zu befragen, ob sie „frommen“, das heißt: nützen, dem Menschen dienen.

'Jesus mit seinen Jüngern', circa 1840, Ferdinand von Olivier

Selber glauben, selber denken!

Fromm heißt nicht an erster Stelle, Gebote zu befolgen. Fromm bedeutet, Gott zu vertrauen. Wer Gott vertraut, fragt dann nach dem Willen Gottes. Jesus ermutigt zum Selber-Glauben, Selber-Denken und Selber-Handeln. „Um des Menschen willen.“ Das ist die Orientierung, die Jesus meinem Denken, Reden und Handeln gibt. Glauben im Alten und Neuen Testament ist ein sehr nachdenkliches, verantwortliches Befolgen von Geboten, eines, das geistlichen Spielraum lässt. Jesus weitet in seiner Antwort das Verständnis der Bibel über den einzelnen Buchstaben hinaus: „Habt ihr nie gelesen…?“, fragt er die Pharisäer.

Die Bibel geistvoll lesen

Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig, wird der Apostel Paulus in der Nachfolge Jesu später schreiben (2. Korinther 3, 6). Ein solcher geistvoller Umgang mit der Heiligen Schrift ist nötiger denn je im Dialog mit anderen Religionen, bei der Verständigung darüber, wie wir leben wollen. Ein bloßer Verweis „da steht’s!“ hat Jesus nicht gereicht.

Habe Mut, dich deines eigenen Glaubens zu bedienen

Jesus weckt den Geist in uns. Das Evangelium ist wie die Aufforderung, frei nach Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Glaubens zu bedienen!“ „Selber machen!“, geben kleine Kinder ihren Eltern Bescheid und probieren munter ihre erwachenden Fähigkeiten aus – Bruchlandungen eingeschlossen. „Selber machen!“ Mit solchem kindlichen Vertrauen kann man ein Leben lang die Freiheit ergreifen, die Gottvertrauen eröffnet.

Diese Freiheit wird gefeiert! Jüdinnen und Juden feiern die Gott geschenkte Freiheit an jedem Sabbat. Christenmenschen feiern sie heute, mit jedem Sonntag als dem Tag der Auferstehung Jesu. Der Sonntag ist nach jüdischer Zählung, die Christen übernommen haben, der erste Tag der Woche. Die neue Woche beginnt nicht mit Anforderungen an uns, sondern mit Auferstehung.

Freiheit, schöne Gottes Gabe!

Gottes Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“ ist vor allem eine Gabe Gottes. Freiheit, schöne Gottes Gabe! Nach sechs Tagen Sklaverei durch Termine, Leistungsdruck und andere Fremdbestimmung endlich der Befreiungstag, an dem wir unbeschwerte und freie Menschen sein und so dann in die neue Woche starten dürfen! Das ist die biblische Zielvorgabe für den von Gott gesegneten und geheiligten Feiertag als Sabbat oder Sonntag. In unserer „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“ mit dem Prinzip „alle und alles zu jeder Zeit erreichbar und verfügbar“ ist der Sonntag ein königlicher, ein himmlischer Freiheitstag.

Wir dürfen uns königlich, himmlisch fühlen, denn wir sind von Gott mit Zeit beschenkt, mit jedem Tag unseres Lebens und mit den Sonntagen besonders. Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht.

Vorhang zu und alle Fragen offen?

'white cutain in warm light', 2006, Christoph Michels

„Um des Menschen willen.“ Dieses Wort von Jesus gibt keine einfache Antwort auf die Fragen, die ich zu Beginn angesprochen habe. Wäre zu schön! Aber noch mehr wäre es widersinnig, denn Jesus stiftet ja gerade zum Selber-Glauben, Selber-Denken an. Jesus tut das gegenüber den Pharisäern in aller Ruhe - ohne Gekeife, ohne sture Rechthaberei. Denn die führen nie in die Freiheit, sondern immer nur in neue Knechtschaft, zu einem erstickenden Fundamentalismus, der keine Luft zum Leben lässt.

Die Gretchenfrage bleibt: Wie halten wir es mit der Religion in einer Welt, in der so unterschiedliche Formen von Frömmigkeit und Lebensstilen gleichzeitig am Platze sind? Jesus im heutigen Evangelium öffnet einen weiten Raum. In diesem weiten Raum können wir immer neu die Fragen abschreiten, die sich uns in unserem Glauben und im Gespräch mit anderen Religionen und Weltanschauungen stellen. Dazu braucht es eigene, klare Positionen, Überzeugungen, manchmal auch deutliche Skepsis, die wir ohne Scheu aussprechen.

Marcel Reich-Ranicki – Gott hab ihn selig - hat gerne einen Satz von Bert Brecht zitiert. „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Ich möchte diesen Satz gerne mit Jesus öffnen: „Vorhang auf und selbst auf die Bühne!“ Ganz fromm: Gott helfe uns zu finden, was frommt. Um des Menschen willen.

Amen.

Das Bild 'Christus im Ährenfeld', 1922, Josef Untersberger, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Gemälde 'Jesus mit seinen Jüngern', circa 1840, Ferdinand von Olivier, ist im public domain in den United States, und den Staaten mit einem copyright Absatz des Lebens des Autors plus 100 Jahre oder weniger.

Die Photograpie 'Women Religious', 2013, Wilfredor, wird unter der Creative Commons CC0 1.0 Verzicht auf das Copyright zur Verfügung gestellt.
Es ist erlaubt die Photographie 'white cutain in warm light', 2006, Christoph Michels, unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren; es gibt keine unveränderlichen Abschnitte, keinen vorderen und keinen hinteren Umschlagtext.

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