Predigten von Pfarrer Martin Vorländer: 7. Sonntag nach Trinitatis - Die Kunst des Loslassens

7. Sonntag nach Trinitatis
Die Kunst des Loslassens
Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 14. Juli 2013 in der Dreikönigskirche
Liebe Gemeinde!
Den Sachen im Keller wohnt ein Zauber inne
Den Sachen, die ich im Keller horte, wohnt ein Zauber inne: Sie sind nicht richtig weg, aber auch nicht mehr ganz da. Jeden Sommer wieder nehme ich mir vor: Dieses Jahr entrümpele ich den Keller! Ich miste so richtig aus. Mit siegessicher geschwellter Brust à la Napoleon begebe ich mich in die Katakomben und fange voller Tatendrang bei der ersten Kiste an - und bleibe gefühlte Ewigkeiten daran hängen. „Ach, das ist hier. Daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht. Nein, davon kann ich mich trennen. Das ist zu schade, um es wegzuschmeißen.“
Ganzheitliches Ausräumen
Spätestens bei einem Umzug oder bei einer Renovierung, so wie sie ab morgen in unserem Gemeindezentrum losgeht, gibt es kein Pardon und kein Aufschieben mehr. Alles muss raus. Ausräumen ist eine der wenigen wirklich ganzheitlichen Tätigkeiten. Es fordert Körper, Geist und Seele. Es tut ungemein gut zum Aggressionsabbau, alte Schränke mit brachialer Gewalt zu zertrümmern und in Grund und Boden zu treten. So muss sich ein Kind fühlen, wenn es den mühsam aufgebauten Turm wieder umschubst. Psychologisch hilft Ausmisten also auch, die eigene Kindheit zu verarbeiten.

Man holt sich zwar einige Schrammen, Schwielen an den Händen und Beulen, wenn man nicht aufpasst. Dafür hat man sich geistig in der hohen Schule des Loslassen-Lernens trainiert. Ständig muss man entscheiden: Das kommt weg, das heben wir auf.
Spiritualität der Dinge
Tiki Küstenmacher, der evangelische Pfarrer und Bestseller-Autor von „Simplify your life“ spricht von der „Spiritualität der Dinge“. Die unerledigten Stapel auf meinem Schreibtisch, die Sachen in meinem Kleiderschrank oder im Keller, ja selbst der Berg an unbearbeiteten E-Mails in meinem Posteingang sind nicht einfach nur eine reale oder virtuelle Menge.
In ihnen steckt Arbeit, Kreativität, Sachverstand und manchmal eine ganze Menge Geschichte. Das macht es ja so schwer, sich von ihnen zu trennen. Ganz pragmatisch rät Tiki Küstenmacher viel mehr zum Wegwerfen als zum Aufheben. Es kann sein, dass bei all dem, was ich entsorge, zwei Prozent dabei sind, von denen ich hinterher sage: Mist, das hätte ich aufheben sollen! Aber will ich ernsthaft wegen dieser zwei Prozent die anderen 98 Prozent aufheben? Ich müsste schon Pharao werden und mir eine Pyramide bauen lassen, damit man den ganzen Plunder verstaut bekommt, wenn ich einmal von hinnen geschieden bin.
Anfangen bei Adam und Eva
Die Kunst des Loslassens. Darin sind wir bewusst oder unbewusst tagtäglich gefordert. Die Menschen der Bibel sind damit schon auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift konfrontiert. Mit Loslassen und Verlust geht die biblische Menschheitsgeschichte erst so richtig los: Adam und Eva müssen die Vertreibung aus dem Paradies verkraften. Wenige Seiten in der Bibel später spricht Gott zu Abraham und Sara, als Abraham immerhin schon im stattlichen Alter von 75 Jahren ist:
„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.“ (1. Mose 12, 1)
„Geh!“, sagt Gott ganz einfach und Abraham und Sara gehen. Sie verlassen alles, was ihnen Geborgenheit, Bindung, Sicherheit gibt, und werden herumwandernde Nomaden, die nicht wissen, wo sie den Platz für ein neues Leben finden werden.
Loslassen als Lebenshaltung
Diese Lebenshaltung, loslassen zu können und offen zu sein für das, was Gott mit einem vorhat, zieht sich durch die ganze Bibel. Die Jahreslosung für 2013 ist dem viertletzten Buch der Bibel, dem Hebräerbrief entnommen:
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13, 14)
Das drückt aus, dass wir in diesem Leben nichts festhalten können, nichts mitnehmen können von all den Dingen, mit denen wir versuchen, uns auf Erden zu verankern.

Kleine und große Aufbrüche
„Geh!“, sagt Gott zu Abraham und Sarah. Dieser Aufruf ist Jahrtausende alt und aktuell wie eh und je. Jede und jeder von uns kennt kleine und große Aufbrüche im Leben. Loslassen ist im Lauf eines Lebens immer wieder Thema, vom Kind bis zum alten Menschen: Kinder ihren Weg gehen lassen – in Beziehungen loslassen – sich von Träumen verabschieden – Verantwortung abgeben – Schuldgefühle loslassen - Sterbende und Verstorbene ziehen lassen – zuletzt das eigene Leben loslassen.
Loslassen müssen Woche für Woche
Manche von uns vollführen es Woche für Woche, sich lösen zu müssen. Sie sind moderne Nomaden und pendeln zwischen Familie am Wochenende und Arbeitsort unter der Woche. Freitags heißt es: „Ich fahre am Wochenende nach Hause“. Sonntagabend oder spätestens montags in aller Früh heißt es wieder Abschied nehmen.
Auseinander setzen
Ein Paar trennt sich. Die beiden setzen sich im Wortsinn auseinander. Nun lösen sie die bisherige Gemeinsamkeiten auf und verteilen: Das bekommst du, das nehme ich. Mit den Kisten wird der Traum vom gemeinsamen Leben weggepackt.
Nimm Abschied und gesunde!
Eine Frau hat ihr Haus aufgegeben, weil es ihr zu groß geworden ist, und hat es mit einer Wohnung in einer Seniorenresidenz vertauscht. Sie erzählt: „Bei jeder Sache, die ich aussortiert habe, hatte ich Hermann Hesses Vers im Ohr: ‚Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!‘“

Schicke Schultüte und Tränen
Ein kleiner Junge, der wochenlang ungeduldig auf den Schulbeginn wartete, steht nun mit einer schicken Schultüte und Tränen in den Augen da – natürlich, schließlich spürt er, dass hier ein neuer Lebensabschnitt beginnt, in dem er schon sehr viel mehr auf sich selbst gestellt ist als zuvor.
Eine 18-jährige stürzt ihrer Mutter mit dem gut ausgefallenen Abiturzeugnis zu Füßen, legte den Kopf in ihren Schoß und weint. Der Mutter ist das zunächst eine Spur peinlich. Dann aber begreift sie, dass sich in den Tränen der Tochter nicht nur Anspannung löst, sondern auch der Abschied von der Schulzeit sozusagen materialisiert.
Himmel voller Geigen und Misstöne
Bei einem frisch gebackenen Ehepaar hängt der Himmel nicht bloß voller Geigen. Gelegentlich sind schrille Misstöne zu vernehmen, weil zwei Menschen, die ihr Leben als fröhliche Junggesellen gelebt haben, erst einmal wirklich zueinander finden und den Alltag gemeinsam bewältigen müssen.
Alle diese Lebensphasen enthalten bei allem Glück immer auch einen Hauch Wehmut, einen leisen, ziehenden Schmerz über den Abschied, der mit ihnen verbunden ist. Damit muss man in irgendeiner Weise umgehen.
Mit Karacho drüber weg?
Natürlich muss jede und jeder den eigenen Weg finden. Nur ganz bestimmt sollte dieser Weg keine Rennstrecke oder Autobahn, noch nicht einmal eine Bundesstraße sein – auch wenn manche behaupten, über Schlaglöcher käme man am besten in rasantem Tempo hinweg, dann würde man sie nicht so merken. Bricht dann aber nicht irgendwann die Achse?
Was gibt uns die Bibel an die Hand, um loslassen zu lernen? Zum einen stärkt die Bibel das Recht, dass wir nicht jede Erschütterung und jeden Bruch einfach klaglos hinnehmen müssen. Zum Loslassen gehört Trauerarbeit. Nicht einfach lächeln und so tun, als wäre nichts gewesen. So wie man versucht, unauffällig weiterzulaufen, wenn man gerade eine Glastür übersehen und dagegen gedonnert ist. „Nein, nein, tut gar nicht weh“ – obwohl der Kopf dröhnt.
Klage
Trauer ist eine normale, eine gesunde Reaktion, wenn ein kleiner oder ein großer Mensch einen Verlust zu beklagen hat. Zur Trauer gehört in der Bibel die Klage. Abraham, den Gott zum Aufbruch getrieben hat, beklagt sich schon sehr bald bei Gott, als die verheißene Nachkommenschaft und das gelobte Land auf sich warten lassen.
Klage hat in der Bibel einen großen, wichtigen Platz. Klage ist Zeit, an sich zu denken. Sich selbst wieder ins Spiel zu bringen und sich nicht dauernd nur herum schieben und gebrauchen zu lassen von anderen. In der Klage bin ich ganz da. Nichts mehr von meinen Gedanken und Gefühlen ist verborgen. So bin ich, so geht es mir jetzt. Die Klage macht lebendig. Ich nehme nicht einfach hin, was nicht mehr stimmt, was mir verloren gegangen ist. Wenn ich klage, dann mache ich den ersten Schritt, etwas zu ändern.

Freiheit
Klage ist das eine. Ein zweiter biblischer Gedanke: Freiheit. Die Menschen in der Bibel halten sich innerlich offen für den Ruf Gottes. Jesus sagt über Nachfolge:
„Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ (Matthäus 16, 25)
Das klingt zunächst widersinnig. Und doch deckt es sich mit der Erfahrung: Wenn ich etwas krampfhaft festhalte, verliere ich es erst recht.
Ich will etwas mit aller Gewalt, ich presse es und erdrücke es dadurch. Es ist biblische Einsicht, dass dieser Krampf nichts bringt, dass wir mit offenen, leeren Händen dastehen. Diese Offenheit und Leere kann beängstigend sein. Sie eröffnet aber die Möglichkeit, dass Gott sie füllen kann. Sie lässt Raum für Gottes Einfälle in unserem Leben. Das mutet uns zu, immer wieder Vertrautes loszulassen, Ballast abzuwerfen und uns auf das zu besinnen, was wir wirklich brauchen.
Segen
Zum Schluss: Segen. „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“, sagt Gott zu Abram. Das verstehe ich als Verheißung: Du kannst loslassen. Du bist gehalten, in dir stecken Möglichkeiten, immer wieder aufzubrechen und auch immer wieder anzukommen. Du bist nicht völlig losgelöst, sondern Gott ist unauflöslich an deiner Seite. Bei allem Wandern, auf verschlungenen Wegen tragen wir himmlische Heimat, unsere Zugehörigkeit zu Gott in uns.
„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.“ Segen reicht über mich selbst hinaus. Ich kann Segen nicht hamstern und für mich behalten – wahrer Segen ist, wenn ich anderen Gutes weitergeben kann. Wohin Gottes Ruf führt, ist nicht abzusehen. Auf dieses Wagnis muss ich mich einlassen. Aber ich kann mich dabei auf Gott verlassen.
Die Beatles würden dazu singen:
„Let it be! Lass los!“
Hermann Hesse würde dazu dichten:
„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Martin Luther spricht dazu:
„Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“
Gott segne Sie, Gott segne uns bei unserem Loslassen und Aufbrechen. Amen.
Die Photographie 'Zur Abholung am Straßenrand bereitgestellter Sperrmüll', 2009, 3268zauber, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Die Photographie 'ABC-Schütze mit Schultüte', 2005, Farah Eliane, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Die Skulptur 'The Knesset Menorah, Jerusalem', 2008, Deror avi, ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de