Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Martin Vorländer: 12. Sonntag nach Trinitatis – Mehr geben und mehr bekommen als erbeten Apostelgeschichte 3, 1-10

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'Petrus heilt einen lahmen Bettler', um 1530-1532, Matthias Gerung

12. Sonntag nach Trinitatis

Mehr geben und mehr bekommen als erbeten
Apostelgeschichte 3, 1-10


Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 26. August 2012 in der Dreikönigskirche

Liebe Gemeinde!

Wunderbar und kein Wunder

Das Wort „Wunder“ kommt in der Alltagssprache häufig vor: Wir sagen „wunderschön, wunderbar, wundervoll“ und wollen etwas Außergewöhnliches beschreiben. Man hält verwundert inne, weil einen etwas sehr überrascht. Wunder kann einen abwertenden Klang haben. „Das ist doch kein Wunder!“ sagt man über etwas, das man schon längst hat kommen sehen: Ein verpatztes Examen, der Führerscheinentzug, eine Trennung. „Der wird noch sein blaues Wunder erleben“ ist keine verheißungsvolle Ansage. Manches Wunderkind wird im Alter eher wunderlich. Sich jeden Tag mindestens einmal wundern, gilt als Rezept, um aufgeklärt das Zeitgeschehen zu verfolgen und nicht alles unhinterfragt hinzunehmen, was andere einem als selbstverständlich vormachen wollen.

Was ist ein Wunder?

Das Wort Wunder kommt nahezu täglich vor. Aber gibt es Wunder wirklich? Was ist für Sie ein Wunder? Die Geburt eines Kindes können Eltern als Wunder erleben. Eine Mutter, ein Vater hält dieses kleine Wesen Mensch im Arm. Leben ist so zart, so verletzlich und boxt sich doch hartnäckig in die Welt.

Auferstehung aus Krankheit

Das Leben ein Wunder. So erleben und deuten es manchmal Menschen, die von schwerer Krankheit getroffen waren. Ärzte gaben ihnen kaum Heilungschancen. Jetzt hilft nur noch beten. Aller Wahrscheinlichkeit und Statistik zum Trotz stehen sie von der Krankheit auf. Mit Narben und Wunden, mit der alten Angst vor jeder Nachuntersuchung, aber am Leben, wieder mitten im Leben statt irgendwo am Rande. Es gibt die gegenteilige Erfahrung: Man hat gehofft und gebetet, zu Gott gefleht um ein Wunder. Doch vergeblich. Das Wunder blieb aus.

Rettung

Ein Kind läuft mit seiner Mutter auf dem Gehsteig. Die Mutter ist für einen Moment unaufmerksam. Das Kind sieht etwas auf der anderen Straßenseite, reißt sich von der Hand der Mutter und läuft über die Straße. Ein Auto kommt, die Mutter schreit, das Auto rast auf das Kind zu. Der Fahrer kann gerade noch bremsen. Wissenschaftlich-physikalisch kann man das Geschehen durchrechnen und erklären: Die Laufgeschwindigkeit des Kindes, das Tempo des Autos, die Bremskraft, den Bremsweg. Das ist eine Erklärung des Geschehens. Die andere Erklärung ist die der Mutter, die zu ihrem Kind gerannt kommt und es in ihre Arme drückt: „Gott sei Dank! Ein Wunder, dass dir nichts passiert ist!“ Beide Erklärungen haben ihre Wahrheit.

Gottes Dynamik

Neuzeitlich-aufgeklärt werden Wunder definiert als die Durchbrechung von Naturgesetzen. Ein Vorgang setzt die Grundgegebenheiten unserer Welt außer Kraft. Das ist letztlich undenkbar, unmöglich. Die Antike hat das anders verstanden. Als Wunder haben die Menschen damals Ereignisse erlebt, in denen sie außergewöhnliche Kräfte am Werk sahen. Hier wirken nicht einfach nur Personen, hier wirkt nicht einfach die Natur. Hier sind göttliche Kräfte im Spiel. Wunder haben Hinweischarakter: Sie weisen über die beteiligten Personen hinaus auf die Kraft Gottes hin, die im Leben von Menschen heilsam wirkt. Das Neue Testament nennt Wunder darum dynamis, Krafterweis, Gottes Dynamik in unserem Leben, oder auch semeion, Zeichen, Zeichen für Gottes Wirken.

'Petrus und Johannes an der Goldenen Pforte bzw. Die Heilung des Gelämten', 1513, Albrecht Dürer

Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist eine Wundergeschichte, eine Heilungsgeschichte. Es kommt dem biblischen Erzähler nicht auf die Frage an: „Wie ist das möglich?“ Sondern: „Worauf weist das Wunder hin? Was ist die Botschaft für mein, für euer Leben?“

Apostelgeschichte 3, 1-10 Heilung eines Gelähmten Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.

Im Namen Jesu heilen

Wir befinden uns bereits nach Ostern. Kreuz und Auferstehung liegen zurück. Jesus ist in den Himmel aufgefahren und hat seinen Jüngern die Verheißung und den Auftrag gegeben, dass sie selbst den Heiligen Geist empfangen werden und seine Zeugen in aller Welt sein sollen. Diese Wundergeschichte will zeigen, dass die Verheißung Jesu eintrifft. So wie Jesus zu seinen Lebzeiten können Petrus und Johannes heilen. Nicht aus eigener Kraft, sondern im Namen Jesu. Gott war in Jesus Christus nicht auf Stippvisite für eine Zeit lang auf Erden, um sich dann wieder in den Himmel zu verabschieden. Gottes heilsame Kraft wirkt weiter in und durch Menschen.

Heilsam füreinander sein

Ich kann nicht heilen, auch wenn ich in der Spur von Jesus Christus, in der Spur Gottes zu bleiben versuche. Aber ich glaube, dass sich mehr ereignen kann, als ich durch meine eigenen Kräfte zu bewerkstelligen vermag. Ich glaube, dass ich um Heilung beten kann und dass dieses Gebet etwas vermag. Nicht in allen Fällen die Genesung, aber das Heilsein und Heilbleiben auch inmitten von Krankheit oder Krise. Es hat Heilsames und Heiliges, dass einer für den anderen betet und ihn oder sie dem Schutz Gottes anbefiehlt. Die Zuwendung und Aufmerksamkeit eines Menschen kann für den anderen heilsam sein.

Das Wann des Wunders

Das Wunder ereignet sich in einer alltäglichen Szene, wie es sie auch heute gibt. Vor dem Tempel so wie heute vor unseren schönen Kirchen und Kathedralen sitzt ein Gelähmter und bettelt. Es ist die neunte Stunde nach damaliger Zählung, also neun Stunden nach Sonnenaufgang, 15 Uhr. Eine beliebte Gebetszeit, ein gut gewählter Zeitpunkt für den Bettler, denn es kommen viele in den Tempel. Zugleich ist es die Sterbestunde Jesu, ein verborgener Hinweis des Erzählers, aus wessen Kraft die Apostel Petrus und Johannes schöpfen.

'Model of Second Temple - Michael Osnis - Kedumim - Israel', Daniel Ventura

Das Wo des Wunders

Petrus und Johannes gehen wie andere Jüdinnen und Juden in den Tempel. Die Jünger Jesu verstanden sich nicht als Vertreter eines neuen Glaubens. Sie glaubten, dass sich in Jesus Christus erfüllt hat, was der Gott Israels verheißen hat. Der Bettler sitzt vor der Tür des Tempels, die man die Schöne nennt. Sie trennte einen der Vorhöfe vom eigentlichen Tempelhof. Sie war vermutlich mit korinthischem Erz verziert, so bekam sie ihren Beinamen. Der Gelähmte vor der schönen Pforte. Die schöne Erzverzierung und die eisenharte Wirklichkeit des Lebens direkt nebeneinander. Der Gelähmte ist „draußen vor der Tür“. Seine Behinderung schließt ihn aus vom Leben, wie es die Unversehrten leben. Sie schließt ihn auch aus vom Tempel, vom heiligen Raum.

Draußen vor der Tür

Behinderung oder Krankheit geht damals wie heute über die medizinische Diagnose hinaus. Sie nimmt einen heraus aus den Zusammenhängen der anderen, katapultiert einen in eine andere Welt, die Welt von Krankenhäusern und Arztpraxen, die Welt von Pflegestationen oder Behinderteneinrichtungen. Eben war man noch mittendrin, mit einem Schlag ist man draußen. „Zwei Leben“ heißt das Buch von Samuel Koch, der bei „Wetten, dass…“ verunglückte und seither vom Kopf abwärts querschnittsgelähmt ist. Zwei Leben – das eine Leben des Unverletzten getrennt, abgeschnitten von dem Leben als Gelähmter.

Ansehen statt Almosen

Der Gelähmte sitzt draußen vor der schönen Tempeltür und bettelt Petrus und Johannes um Almosen an. Doch Petrus will ihn nicht mit Almosen abspeisen. Das Wunder beginnt mit dem Satz: „Sieh uns an!“ Ansehen statt Almosen. Petrus sagt: „Silber und Gold habe ich nicht. Was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!“ Die Lebensperspektive des Gelähmten war: Von anderen vor der Tempeltür abgesetzt werden, betteln, so dass es hoffentlich von Tag zu Tag reicht.

'Peter and John healing the cripple at the gate of the Temple', 1659, Rembrandt

Mehr bekommen als erbeten

Er wollte Almosen. Bekommen hat er etwas völlig anderes: Ansehen, Aufstehen. Steh auf und geh umher! Und er geht nicht nur umher. Er hopst durch den ganzen Tempel, jubelt und lobt Gott. Er ist nicht mehr draußen, er ist mittendrin unter den Menschen im Haus Gottes. Das Wunder löst drinnen und draußen auf. Es überschreitet Türschwellen und Grenzen. Diese Wundergeschichte verheißt: Wir bekommen von Gott mehr als erbeten. Mehr als sich abfinden, mehr als das Leben von Tag zu Tag fristen. Lähmung, die sich löst, Fesseln, die abfallen. Statt abgesetzt werden, selbst aufstehen und befreit umherspringen.

Es muss mehr geben als alles

Bloß eine Geschichte? Nein. Man kann die Geschichte zu erklären versuchen: Die Lähmung war eine seelische Blockade, die sich durch Zuwendung gelöst hat. Man kann das Wunder symbolisch deuten: Es steht gar nicht für sich, sondern soll die Kraft des Glaubens an Jesus Christus beweisen. Man kann die Geschichte auch nehmen, wie sie ist. Worauf weist das Wunder hin? Auf einen Menschen, der geheilt wird, der frei und überschwänglich fröhlich wird, der viel mehr bekommt als er jemals zu bitten gewagt hat.

Protest gegen Not

Ja, es gibt unvermeidliches Leid, unheilbare Krankheit, nicht aufhebbare Behinderung. Ja, es gibt die leere Stelle im Herzen, die weh tut, an der man sich einsam fühlt, draußen abgesetzt und nicht richtig drin im Leben. Man sehnt sich, ohne genau sagen zu können wonach. Unsere Wundergeschichte ist Protest gegen menschliche Not. Sie gibt denen Recht, die sich nach Heilung und Heilsein sehnen. Sie gibt denen Recht, die sich mit körperlichem, seelischem und materiellem Elend nicht abfinden können. Die wollen, dass es angeblich hoffnungslose Fälle, dass es die Trennung von drinnen und draußen nicht ewig gibt.

Springlebendiges, jubilierendes Leben

Die Wundergeschichte erinnert, sie jubelt geradezu heraus, dass es mehr gibt als alles, das wir heilsam für andere wirken können. Wir brauchen keine Genies zu sein, keine selbst ernannten Weltretter und Wunderheiler. Nein – durch uns kann und wird Gutes geschehen, wenn wir Gott Gott sein lassen. Gott, der für uns nicht Lähmung, sondern Erlösung will, nicht kümmerliches Dasein, sondern springlebendiges, jubilierendes Leben. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Der Kupferstich 'Petrus und Johannes an der Goldenen Pforte bzw. Die Heilung des Gelämten', 1513, Albrecht Dürer ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 Jahren oder weniger nach dem Tod des Urhebers.
Das Gemälde 'Petrus heilt einen lahmen Bettler', um 1530-1532, Matthias Gerung, ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für die Europäische Union, Australien und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers.
Die Abbildung 'Peter and John healing the cripple at the gate of the Temple', 1659, Rembrandt, ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 Jahren oder weniger nach dem Tod des Urhebers.
Das Modell 'Model of Second Temple - Michael Osnis - Kedumim - Israel', Daniel Ventura, ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported lizenziert.

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