Predigten von Pfarrer Martin Vorländer: Markus 9, 14-29 "Ich glaube, hilf meinem Unglauben"
17. Sonntag nach Trinitatis
"Ich glaube, hilf meinem Unglauben" Markus 9, 14-29
Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 16. September 2011 in der Dreikönigskirche
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Markus im 9. Kapitel, Verse 14 bis 29.
Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht. Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!
Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst - alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so dass die Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.
Und als er heimkam, fragten ihn seine Jünger für sich allein: Warum konnten "wir" ihn nicht austreiben? Und er sprach: Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.
Gott segne unser Hören und Reden. Amen.
Liebe Gemeinde!
Willkommen in den Niederungen
Willkommen zurück in den Niederungen! Könnte man den Jüngern Jesu am Anfang dieser Heilungsgeschichte zurufen. Drei auserwählte Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes hatte Jesus in der Begebenheit vorher mit auf einen Berg genommen. Sie haben miterlebt, wie Jesus auf dem Berg vor ihren Augen verklärt wurde. Seine Kleider wurden hell und weiß. Aus einer Wolke über ihnen hörten sie eine Stimme: „Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören.“ Wer wie Petrus, Jakobus und Johannes eine solche Offenbarung miterlebt hat, dürfte künftig über den Dingen schweben. Doch kaum vom Berg herunter, zurück in den Niederungen sind die drei Jünger mit der ersten großen Herausforderung überfordert. Sie wollen einen besessenen Knaben heilen und können’s nicht. Es gibt Streit. „Sie haben nicht die Kraft“, sagt wörtlich übersetzt der Vater des kranken Kindes.
Die ganz normalen Ernüchterungen
Man kann mit den Jüngern gut mitfühlen. Freilich in alltäglicherem Maßstab eine bekannte Erfahrung: Willkommen zurück in den Niederungen! Man kehrt voller Tatendrang von einer Woche Herbstferien zurück. Endlich war wieder einmal Zeit, um auf andere Gedanken zu kommen, Pläne zu entwickeln, was ganz anders werden soll nach dem Urlaub, wie man es anders angehen will. Kaum zurück ist man überflutet mit den Anforderungen und die Visionen verlieren sich. Es fehlt die Kraft, sie wahr werden zu lassen.
Liebe zurück im Alltag
In Ehe oder Partnerschaft, in der Familie oder unter Freunden hat man endlich einmal wieder Momente von Aussprache und Sich Verstehen erlebt – ohne Alltagsknatsch. Das müsste doch vorhalten – und dann raunzt man sich doch bald wieder an: „Wo ist mein Schlüssel? Wo hast du den schon wieder hingetan?“
Gedankenflug
Manch einer ist in den letzten Tagen über die Buchmesse flaniert und ließ sich inspirieren von großen Gedanken, faszinierenden Themen und Geschichten, von einer Sprache, schon lange nicht mehr so schön formuliert gehört. Doch die Gedankenflüge werden unsanft geerdet – manchmal schon auf dem Heimweg: „He! Stehen Sie da nicht so verträumt rum! Aus dem Weg!“ Willkommen zurück in den Niederungen!
Drastisches Leiden vor Augen
Die Situation im Evangelium ist freilich viel dramatischer. Die Krankheit des Jungen, den die Jünger heilen soll, wird uns drastisch vor Augen geführt. Wir sehen, als wären wir dabei, wie es das Kind zu Boden reißt, wie der Junge sich mit Schaum vor dem Mund auf der Erde wälzt. Man spürt geradezu die Verzweiflung und das Leiden des Vaters, der mitansehen muss, wie sein Sohn entstellt und verzerrt wird – und er, der Vater kann nichts tun, kann dem eigenen Kind nicht helfen.
Sprachloser, tauber Geist
Der Junge ist von einem sprachlosen, tauben Geist besessen, so beschreibt es das Evangelium. Man kann an epileptische Anfälle denken, die das Kind heimsuchen. Sprachloser Geist – der Knabe kann nicht für sich selbst sprechen, kann nicht sagen, was ihm fehlt. Er ist gefangen in seiner Krankheit. Er kann keinem mitteilen, was er bei einem solchen Anfall erleidet. Tauber Geist – den Jungen erreicht auch nicht, was die sagen, die sich um ihn sorgen.
Krankheit isoliert
Sprachloser, tauber Geist – das ist eine Beschreibung von Krankheitserfahrung, die viele von der Seite der Gesunden oder von der Seite der Kranken kennen. Krankheit kann von den Menschen um einen herum entfernen. Krankheit kann isolieren. Die anderen um mich herum verstehen nicht, wie es mir geht, was ich erleide, was für Schmerzen ich habe. Sie können es auch nicht verstehen, denn sie sind ja gesund. Ich bin mit meiner Krankheit allein. Ich kann den anderen auch nicht verständlich machen, wie es in mir aussieht.
Gute Worte ungehört
Umgekehrt erreicht den Kranken nicht, was die um ihn herum sagen. Als gesunder Mensch redet man manchmal verzweifelt auf den Kranken ein, schlägt diese Maßnahme vor oder eine andere, gibt Genesungstipps. Man versucht aufzumuntern und zu stärken. Doch alle guten Worte verhallen ungehört, wirkungslos. Der Kranke ist wie in einer anderen Welt. Sprachloser, tauber Geist.
Harscher Jesus
Jesus reagiert auf die Situation erstaunlich harsch, geradezu genervt und fast überheblich: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?“ Was haben die Jünger falsch gemacht? Worüber ist Jesus so erzürnt? Ungläubig – das ist das Stichwort, das im Weiteren die entscheidende Rolle spielt. Jesus wird sagen: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Und der Vater wird schreien: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Glauben heißt, sein Vertrauen ganz und gar auf Gott setzen, auf Gottes Kraft. Vielleicht ist es das, was die Jünger falsch gemacht haben. Es heißt, sie hatten die Kraft nicht zu heilen. Wollten sie aus eigener Kraft Wundertäter spielen?
Beten
Später werden sie Jesus fragen: Warum konnten wir den Geist nicht austreiben? Wir, wir, wir. Was wir nicht alles Großartiges tun können. Darum ging es offenbar hier nicht, denn Jesus antwortet: Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten. Beten heißt, sich Gott ganz anvertrauen. Bei dem vielen, was wir tun können und auch tun sollen, gibt es den Moment, in dem man die Hände in den Schoss legt und Gott um Kraft und Beistand bittet. Um Missverständnisse zu vermeiden: Beten heißt nicht, untätig sein. Beten heißt, die Hände falten und aus Gottes Kraft heraus leben.
Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
Der Vater des Kindes schreit: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Das finde ich den herausragenden Satz des Evangeliums. Eigentlich ein Widerspruch in sich, ein Paradox: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Was nun – glaubt er oder glaubt er nicht? Aber genau damit spricht er die Realität des Glaubens aus. Wenn Sie unvermutet auf den Kopf zu gefragt werden: „Glauben Sie?“, was sagen Sie? Es gibt ein Verdattertsein, ein Zögern, einfach kraftvoll zu sagen: Ja natürlich, ich glaube. Ich bin überzeugt, dieses Zögern ist keine Glaubensschwäche, sondern Ehrfurcht.
Gott nicht einfach im Mund führen
Gott und Glaube kann man nicht einfach vor sich hinstellen, einfach im Munde führen, als würden sie einem gehören. Dass Gott mich geschaffen hat, der große Gott mich kleinen Menschen, dass Christus auch für mich Heil und Heilung gebracht hat, dass wir, also auch ich auferstehen werde von den Toten, dass mir alle Dinge möglich sein sollen, wenn ich nur glaube, dass Beten sogar Geister austreiben kann – all das kann ich nicht vor mich hinlegen wie Trümpfe beim Kartenspiel. „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Das könnte auch ich rufen in vielen Situationen, die ich am liebsten im Handumdrehen zum Besseren wenden würde. Vor Gott stehe ich ziemlich leer da.
Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?
Der Theologe Rudolf Bultmann hat 1925 einen berühmten Aufsatz mit dem Titel geschrieben: „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“ Eine erstaunliche Frage für einen Theologen. Theo-loge heißt ja eigentlich, über Gott reden. Bultmann legt dar: Über Gott kann man nicht reden wie über diese Kirchenbank oder jenen Stuhl. Dann macht man Gott zum Objekt außerhalb seiner selbst. Man deutet darauf, ist also von dem, über das man spricht, entfernt. Gott ist aber die alles bestimmende Wirklichkeit. Kein Objekt also, über das ich distanziert reden könnte, sondern die Wirklichkeit, die mich umfängt. Ich kann nur aus Gott heraus, als von Gott Ergriffener und Umfangener sprechen, so wie man über Liebe eigentlich nur aus Liebe sprechen kann. Spricht man nicht aus Liebe heraus, hören sich die Worte leblos und tot an.
Voll und leer
„Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Beide Sätze stimmen. Manchmal spüren wir Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit ganz nah, sind voll davon, sind ergriffen, berührt, erleben Heilung, wo alle Hoffnung vergeblich schien. Dann wieder greifen wir vergeblich nach Gott wie ins Leere. Doch mit all unserem Glauben und all unserem Unglauben dürfen wir vor Gott treten, zu ihm schreien, zu ihm rufen, zu ihm beten, von Gott alles, alle Dinge erwarten. Dann können die größten Wunder unseres Lebens geschehen.
Amen.
Das Gemälde 'Verklärung Christi', 1519-1520, Raffaello Sanzio, und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Der Gemäldeausschnitt 'The Transfiguration', between 1518(1518) and 1520, Raffaello Sanzio, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Molitva', 2009, Sergei Frolov, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Der Urheber der Photographie 'Rudolf Bultmann', 2010, Jü, veröffentliche sie als gemeinfrei. Dies gilt weltweit.